Giacomo Girolamo Casanova 2. April 1725 in Venedig; † 4. Juni 1798 auf Schloss Dux im Königreich Böhmen), in älteren Publikationen auch Jakob Casanova, war ein venezianischer promovierter Jurist, Schriftsteller und Bibliothekar, Dichter, Philosoph und Übersetzer, Chemiker, Alchemist und Mathematiker, Historiker und Diplomat, Glücksspieler und Geheimagent, Freimaurer und Abenteurer, bekannt durch die Schilderungen zahlreicher Liebschaften, aber auch durch seinen Ausbruch aus dem Staatsgefängnis unter dem Dach des Dogenpalasts. Dort wurde er 1755 ohne Begründung und unter unwürdigen Bedingungen 15 Monate festgesetzt und ihm gelang ein für unmöglich gehaltener Ausbruch – eine Flucht, die ihn über Jahrzehnte zwang, seiner Heimatstadt fernzubleiben.
(*Zwar versuchte Casanova sich schon in Venedig als Violinist, auch als Kleriker, er gründete in Paris eine überaus erfolgreiche Lotterie, doch dies alles war nie die Grundlage seiner Jahrzehnte anhaltenden Bekanntheit. Er ist womöglich der erste, der Berühmtheit nicht vorrangig durch seine Stellung oder Taten, seine wissenschaftlichen oder kulturellen Leistungen erlangte, also durch Erfolge und Verdienste, sondern dadurch, dass er unentwegt von sich reden machte. Er nutzte die Reise- und Kommunikationswege zwischen den Höfen Europas ebenso wie die sich zu dieser Zeit stärker verbreitenden Zeitungen sowie das öffentliche Präsentieren an den dafür geeigneten Plätzen und Festivitäten, bei Theater- und Opernbesuchen, Gastmählern, Glücksspielstätten und Empfängen, in Frankreich, England, Italien und Spanien, in Deutschland, Polen und Russland. Auch seine Memoiren, die 1789 begonnene Histoire de ma vie, und einige seiner sonstigen literarischen Werke dienten der in seinen Augen angemessenen Repräsentation seiner Persönlichkeit, ebenso wie seiner Rehabilitation – obwohl er gewarnt worden war, das Schlechte werde aufgebauscht, das Gute als Eitelkeit ausgelegt werden. Oder, wie er selbst formulierte: ‚Ich bin stets nach Auszeichnung begierig gewesen und habe stets die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken geliebt‘ (Histoire, 4, 19). Er wollte aber nicht nur wegen seiner Skandale, Duelle, seiner Flucht Anerkennung finden, sondern auch als unterhaltsamer Gesprächspartner, Theaterleiter, zunehmend auch als Literat; doch gelang es ihm erst in späteren Jahren, auch wenn er sich in ein Kloster oder eine Bibliothek gelegentlich einschließen konnte, der Gesellschaft soweit zu entrinnen, dass er die dazu nötige Muße fand. Ein Leben lang blieb er der modernen Rationalität geneigt, jedoch seit seiner Kindheit durchdrungen von Aberglauben – den er wiederum bei anderen skrupellos zu seinem Vorteil ausbeutete.
Mindestens acht Mal wurde Casanova eingekerkert, er verachtete die Willkür und den Standesdünkel des Adels, doch ließ er sich immer wieder von vermögenden Adligen protegieren, suchte die Nähe von Königen und des Papstes. Er verachtete Feigheit, Menschen, die andere demütigten, den Hochmut des Adels, doch hielt er die Französische Revolution für ein noch größeres Übel. Er wurde rund zehn Mal des Landes verwiesen, schließlich ließ er sich, von Armut und Heimweh 1774 dorthin zurückgetrieben, als Spitzel in Venedig anwerben – ohne relevante Ergebnisse zu liefern. Dann wurde er 1782 endgültig von der Staatsinquisition aus seiner Heimatstadt verbannt und musste seine letzten dreizehn Jahre auf einem abgelegenen Schloss im Norden Böhmens fristen – bis zuletzt auf vielen Reisen, die vor allem seiner Publikationstätigkeit dienten. Weiterhin korrespondierte er mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit, verfasste und erhielt Tausende von Briefen, schrieb (nicht erhaltene) Tagebücher.
Casanova war nie verheiratet, wenn er dies auch oft versprach, hatte jedoch mindestens ein Dutzend eigener Kinder, davon eines mit einer seiner Töchter; dabei interessierte er sich für die Verführung junger, nach heutigen Begriffen häufig minderjähriger Frauen. Er fühlte sich dabei aber zugleich selbst verführt, er habe, wie er schrieb, ‚die Frauen rasend geliebt, aber ich habe ihnen stets die Freiheit vorgezogen‘ (Erinnerungen, 2, 10) und ‚Ich fühlte mich immer für das andere Geschlecht geboren; daher habe ich es immer geliebt und mich von ihm lieben lassen, soviel ich nur konnte‘ (Erinnerungen, Vorrede). Bei Prostituierten habe er immer häufiger nur flüchtige Freuden gehabt, die nur eine Viertelstunde dauerten und stets einen unangenehmen Nachgeschmack hatten. Elf Mal handelte er sich eine Geschlechtskrankheit ein, er besaß jedoch umfangreiche medizinische Kenntnisse, die es ihm ermöglichten, sich meist selbst zu kurieren, wobei er sich wochenlang zurückzog, manchmal dem Tode nah; er suchte die Gesellschaft der bedeutendsten Ärzte.
Für die Wahl seiner Aufenthaltsorte und seiner enorm umfangreichen Korrespondenz, waren Vergnügungen, allen voran mit Frauen, dann viele Zufälle, nicht zuletzt Langeweile, später auch die Suche nach einer Anstellung oder einem Verlag, die maßgeblichen Antriebskräfte, aber auch die Konversation an den Höfen, in den Salons. Der Sohn eines Schauspielerpaares, der sein Leben als Komödie sah, und der sich auf seine „Auftritte“ stets vorbereitete, nannte sich Chevalier de Seingalt; doch finanzielle Mittel standen ihm nicht von Geburt an zur Verfügung, er musste „sie sich erarbeiten, ertricksen, erspielen und ergaunern“.[1]
Mehrfach wurde er wegen seines Lebenswandels oder geplatzter Wechsel verbannt (so aus Wien, Paris, Madrid, Florenz und Venedig), mehrfach zu Unrecht, manchmal ohne Begründung, was ihn besonders aufbrachte. Im venezianischen Staatsgefängnis handelte er sich ein lebenslanges Leiden ein, Hämorrhoiden, Schmerzen, die ihm immer wieder die Lebensfreude raubten. Oft schadete er sich selbst, indem er sich zu sicher fühlte, aus Ehrsucht nicht weichen wollte und keinen Schutz suchte, sich wider besseres Wissen in Fallen locken ließ, lange spielsüchtig war, aber, wie er gleichfalls bekennt, auch aus Aberglauben. Häufig griff er zum Degen, zu Pistolen, manchmal zum Stock, duellierte sich, auch Tote gab es dabei. Er verprügelte Falschspieler und Betrüger ebenso, wie alle, die seine Ehre verletzten oder ihn herabsetzten, auch Juden oder Journalisten. Mit Leichtigkeit gewann und verlor er Vermögen, sei es beim Glücksspiel, sei es bei seinen Betrügereien, denn Reichtum galt ihm nur dann als ein Verdienst, wenn man ihn benutzte, um Gutes zu tun – oder eine Frau für sich zu gewinnen.
Casanova nennt nur einmal den ‚Despotismus‘, den die Männer über die Frauen ausübten, er selbst nutzte die Erfahrungs- und Machtdifferenzen bedenkenlos aus, versuchte die von ihm Verlassenen an ihm geeignet scheinende Männer zu verkuppeln. Einer Reihe seiner mehr als hundert Geliebten verhalf er zu einer Ehe. Gewalt gegen Frauen lehnte er ab, es sei denn, sie verweigerten sich, nachdem er sie bereits bezahlt hatte. Auch geriet er manchmal so sehr in Rage, dass er sie prügelte, wenn auch selten – es sei denn, er glaubte darin ein Signum der Kultur zu erkennen, wie in Russland, wo praktisch jeder Prügel einstecken musste. Dabei traute er Frauen nur geringe eigenständige Geistesleistungen zu – ganz im Geist seiner Zeit –, obwohl er selbst Frauen kennen lernte, die in höchstem Maße begabt waren, wie etwa seine portugiesische Geliebte (‚Pauline hatte … jenen festen und stolzen Charakter und den weiten Gesichtskreis, die nur höchstbegabten Männern eigen sind‘), oder eine Theologin, dann eine Dichterin, die er ‚genial‘ nannte, oder die spätere Vorsitzende der Petersburger Akademie der Wissenschaften und die Zarin Katharina II., und obwohl er es liebte, Frauen ‚glänzen‘ zu lassen, so fürchtete er bei einer jungen Russin: ‚bei ihrer Schönheit und ihrem Geist wäre ich ihr Sklave geworden‘.
Er äußerte sich mehrfach zur Seele der verschiedenen Völker und Länder, die er bereiste, bediente eine Reihe von Klischees – so waren die Deutschen ‚kalt oder prosaisch‘, bisweilen ‚phlegmatisch‘, die Gelehrten ‚geheimtuerisch‘, sie seien ‚Ofenhocker‘ und voller ‚Heimweh‘ –, die sich im Laufe der Erzählung kaum veränderten, wie insgesamt sein Wertesystem sich entscheidend nur unter den Zwängen des Alterns veränderte. Andererseits lernte er, dass die Art der Konversation in den Ländern Europas sich stark unterschied. Für das Elend in den wachsenden Städten hatte er dabei kaum einen Blick, interessierte sich eher für Gastronomie, Wein und Speisen, Tanz und Konversation, Feste, Oper und Theater. Während er seinen westindischen Diener Jarbe in London in hohem Maße lobend hervorhob und ihn seinen Freund nannte, nutzte er die Begegnung mit einer Schwarzen, um seine selbst im 18. Jahrhundert abseitige Vorstellung, diese gehörten einer anderen Säugetiergattung an, zu begründen. Nur seine Feindseligkeit, seine Verachtung und sein Misstrauen gegen die Juden musste er durch die Lehren aus mehreren Affären und durch Freundschaft ausdrücklich zurücknehmen. Auf ähnliche Weise erkannte er, dass Schüchternheit kein Anzeichen von Dummheit ist.
Erst im frühen 19. Jahrhundert tauchte die Figur Casanova in künstlerischen Werken auf, doch war die Auseinandersetzung mit seinem Lebensweg noch weitgehend ohne verlässliche Quellengrundlage. Mitte des Jahrhunderts intensivierte sich die Prüfung der zahllosen Einzelheiten seiner Schilderung, die Identifizierung der nur verklausuliert genannten Persönlichkeiten machte Fortschritte. Einen ersten Höhepunkt stellte in der literarischen Auseinandersetzung dabei im deutschsprachigen Raum das 1899 erschienene Werk Hugo von Hofmannsthals Der Abenteurer und die Sängerin dar. In der Zeit bis 1933 sieht man die Phase höchster Intensität in der Rezeptionsgeschichte, die neben Hofmannsthal mit dem Namen Arthur Schnitzler verbunden ist. Dabei passte der Rückgriff auf eine männliche Identifikationsfigur in eine Zeit der Emanzipation und der Geschlechterkrise. Spätere Werke haben diese Ansätze übersimplifiziert und komprimiert fortgeführt, im Wesentlichen ohne neue künstlerische Ansätze zu liefern (Lehnen, S. 11 f.).
Dabei wurde das zentrale Werk, Casanovas Histoire de ma vie, erst nach 1960 in einer verlässlichen Ausgabe bei Brockhaus ediert. Zuvor erschienen allein in Deutschland und Frankreich bis 1956 beinahe 200 Ausgaben (Lehnen, S. 25 f.), doch sie basierten ganz überwiegend auf einer willkürlichen Auswahl und zum Teil verfälschenden Übersetzungen, die die Memoiren in Verruf brachten und ein einseitiges Bild Casanovas zur Geltung brachten, den Verlagen jedoch zu erheblichen Gewinnen verhalfen. Eine Forschung auf verlässlicher Grundlage, die die kulturgeschichtliche Bedeutung Casanovas herausschälte, setzte dementsprechend erst nach den Editionen in Leipzig und Paris ein. Mehrere Fachzeitschriften und Forschungsinstitute befassten sich mit Casanovas Werken und seinem ungewöhnlichen, überaus komplizierten Lebensweg. Das Original seiner Lebenserinnerungen, eines der teuersten Manuskripte, erwarb Frankreich. 2015 wurde dessen Neuedition vollendet. Die Aufarbeitung seiner umfangreichen, in Dux erhaltenen Korrespondenz, die sich heute im Staatsarchiv Prag befindet, ist noch immer nicht abgeschlossen.
Die Überlieferung zu Casanova ist außerordentlich umfangreich. In seinen letzten Jahren entstand seine mehr als 3000 Seiten umfassenden Histoire de ma vie. Diese Geschichte meines Lebens, die bewusst auf Französisch verfasst wurde, weil diese Sprache am weitesten verbreitet war, erlaubt zudem, in Verbindung mit anderen Quellen, eine ungewöhnlich genaue Darstellung seines Lebens, seiner Gedankenwelt bis 1774. Die Abfassung seiner Lebensgeschichte erfolgte aus den Dokumenten, vor allem Briefen, die er aufbewahrt hatte, und aus denen er vielfach zitiert, sowie aus einem Tagebuch, das er spätestens seit den 1750er Jahren führte, das er aber vernichtete, nachdem er daraus seine Memoiren verfasst hatte. Vor allem seine Korrespondenz, die in Dux nach seinem Tod aufgefunden wurde, erlaubt eine vergleichsweise genaue Darstellung seines Lebens (auch) nach 1774. Bernhard Marr (1856–1940) erfasste als Erster systematisch die Briefe von und an Casanova.
Im Fokus standen jedoch die Erinnerungen Casanovas, die er unter dem Titel „Histoire de ma vie jusqu’à l’an 1797“[2] – abfasste. Sie zählen zur Weltliteratur. Sie wurden bis 1972 in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Entsprechend dem Titel im Manuskript plante Casanova seine Memoiren bis in seine letzten Lebensjahre fortzuführen, doch brechen sie 1774 mit seiner Heimkehr nach Venedig ab. In einem Brief aus dem Jahr 1793 begründet Casanova selbst, warum er sie nicht fortsetzte. Er glaubte, über sein Leben, nachdem er über 50 Jahre alt geworden war, nur noch Trauriges darbieten zu können. Das mache ihn selbst traurig und würde sein Publikum, mit dem er sich unterhalten wollte, nur langweilen.
Durch seine Reisen – er legte wohl mindestens 65.140 km in Kutschen zurück, deren Routen, Kosten und Ausstattung er meistens erwähnt –[3] hatte er Kontakt zu bedeutenden Personen seiner Zeit. Neben einer Reihe von Herrschern war ihm auch die geistige Elite Europas bis zu einem gewissen Grad vertraut: Da Ponte, Voltaire, Crébillon, von Haller, Winckelmann und Mengs zählten zu seinen Bekannten. Doch auch die unteren Stände spielen in seinen Erinnerungen eine bedeutende Rolle. Pompeo Molmenti brachte bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus den Carteggi casanoviani zahlreiche Briefe heraus.[4]
Das Manuskript der Memoiren vererbte Casanova Carlo Angiolini († 1808), dem Schwiegersohn seiner Schwester Maddalena. Dieser hatte ihre Tochter Marianne (Manon) geheiratet. Dann bot Graf Camillo Marcolini dessen gleichnamigem Erben, dem 1789 geborenen Sohn, den er mit Casanovas Nichte, nämlich der besagten Marianne hatte, kurz vor seinem Tod im Jahr 1814, als Kaufpreis 2500 Taler an – wohl um die Herausgabe des Manuskripts zu verhindern.[5] Die Tochter Angiolinis, Camilla, bot es sechs Jahre später, am 13. Dezember 1820, dem Verlag F. A. Brockhaus in Leipzig zum Verkauf an,[6] der es am 24. Januar 1821 für 200 Taler erstand.
Infolge der nun einsetzenden Editionsgeschichte, die dazu führte, dass sehr stark vom Manuskript Casanovas abweichende Ausgaben zugrunde gelegt wurden, verzögerte sich die quellennahe Beschäftigung mit Casanova um rund eineinhalb Jahrhunderte. Dies hielt zahlreiche Autoren jedoch keineswegs davon ab, sich mit der so verfälschten Figur Casanovas auseinanderzusetzen, vor allem fachfremde, männliche Autoren zog das Sujet an.
Im Auftrag des Verlages übersetzte zunächst Wilhelm von Schütz das Werk ins Deutsche, nachdem Ludwig Tieck es begutachtet und zu einer Herausgabe mit Einschränkungen geraten hatte, denn, wie er schrieb: „Vieles ist für uns Deutsche, ja vielleicht für jeden Menschen gar zu arg“.[7] Bereits Ende 1822 wurde der erste Band in deutscher Sprache veröffentlicht, der bezeichnenderweise den Titel trug: Aus den Memoiren des Venetianers Jacob Casanova de Seingalt, oder sein Leben, wie er es zu Dux in Böhmen niederschrieb. Nach dem Original-Manuscript bearbeitet von Wilhelm Schütz.[8] Weil dieser Band reißenden Absatz fand, gab der Verlag zwischen 1822 und 1828 eine zwölfbändige, stark überarbeitete Ausgabe heraus.
Aus Sorge, bei der Zensur oder einem breiten Publikum auf Ablehnung zu stoßen, bearbeitete Schütz das Original. Gerd Forsch analysierte in seiner Dissertation diese Bearbeitung und stellte fest, dass „Anrüchige sexuelle Praktiken und dunkle Punkte der Biographie – Onanie, Homoerotik und Päderastie, Abtreibungen und Geschlechtskrankheiten“[9] getilgt wurden. Erich Loos nannte die Übersetzung im 2. Anhang zum 6. Band „ein ganz erbärmliches Machwerk“.
Bald darauf wurde in Frankreich ein Raubdruck, eine Rückübersetzung der deutschen Übersetzung ins Französische veröffentlicht, worauf Brockhaus den Dresdner Romanisten Jean Laforgue beauftragte, das französische Original zu veröffentlichen (1826–1838). Laforgues Bearbeitung griff jedoch noch tiefer in den Text ein als jene von Schütz: „Die im Original eher nüchtern gehaltenen erotischen Passagen erhielten eine Tendenz zum Wollüstigen und kamen so dem Wunsch einer vorwiegend männlichen Leserschaft nach Stimulation sexueller Phantasien entgegen.“[10]
Diese Edition blieb über ein Jahrhundert lang die einzige Textbasis. Nachdrucke und Auswahlausgaben entstanden, die so tendenziös gestaltet waren, dass Casanova nur noch als Verführer erschien, oder gar als „schmutziger Biograph und Abenteurer“ herabgewürdigt wurde.[11] Dies trug andererseits enorm zum Erfolg dieser Ausgaben bei: Laut des Casanova-Biographen James Rives Childs gab es bis 1956 insgesamt 104 deutsche und 91 französische Ausgaben.[12]
Erst 1960 wurde – eigentlich eine historiographische Selbstverständlichkeit – erstmals der Originaltext der Memoiren veröffentlicht, nämlich durch F. A. Brockhaus, Wiesbaden, und Plon, Paris. Diese zwölfbändige Ausgabe wurde 1962 abgeschlossen (Nachdruck 1985 in 6 Bänden) und, kommentiert von Günter und Barbara Albrecht, neu herausgegeben (Leipzig 1992).
Im Februar 2010 wurde das Manuskript vom französischen Staat erworben, die ersten beiden der sechs Bände online gestellt. Mit über 7 Millionen Euro erzielte es den höchsten jemals für ein Manuskript gezahlten Preis. Im Anschluss daran erfolgte von 2013 bis 2015 unter der Leitung von Gérard Lahouati und Marie-Françoise Luna eine Neuedition in drei Bänden, herausgegeben vom Verlag Éditions Gallimard in Paris.[13] Sie enthält nicht nur zusätzlich die von Casanova durchgestrichenen Passagen, sondern auch seine individuellen, nicht-korrigierten Schreibweisen, dazu nie veröffentlichte Essays. Damit trat nicht nur sein Italienisch im Französischen wieder zu Tage, sondern auch die erzählerische Energie und Frische.
Giacomo Casanovas Mutter war die Schauspielerin Giovanna Maria Farussi (1708–1776), genannt „Zanetta“ oder „La Buranella“, sein mutmaßlicher Vater der Tänzer und Schauspieler Gaetano Giuseppe Casanova (1697–1733). Die beiden wurden am 17. Februar 1724 in San Samuele getraut, dort, wo auch Giacomo getauft wurde (5. Mai).[15] Giacomo war das älteste von insgesamt sechs Kindern: Francesco (1727–1803), „Cecco“ gerufen, Giovanni Battista (1730–1795), „Zanetto“, Faustina Maddalena (1731–1736), Maria Maddalena Antonia Stella (1732–1800) und Gaetano Alvise (1734–1783). Seine Kindheit verbrachte Casanova in der Calle degli Orbi, 3089; zu seiner Zeit hieß die Gasse allerdings Calle alla Commedia.[16] Sie befindet sich im Kirchspiel San Samuele. Entsprechend seiner Herkunft verglich er sein Leben mit einem dreiaktigen Theaterstück.[17]
Im ersten Kapitel seiner Autobiographie konstruiert Casanova eine ziemlich unwahrscheinliche adlige Abstammung (Mangini). Dabei führt er sich auf einen Don Giacobbe Casanova, Sekretär am Hof König Alfons’ von Aragòn zurück. Dieser habe 1428 Donna Anna Palafox aus dem Kloster entführt. Wie er selbst in seinem Büchlein Né amori né donne einräumt, war er wohl eher die Frucht der Beziehung seiner Mutter mit dem venezianischen Nobile Michiel Grimani, dem Besitzer des Teatro San Samuele, wo seine Eltern arbeiteten.
Am 18. Dezember 1733 starb sein Vater, der wegen eines Engagements in London seine Familie 1726 bis 1728 hatte in Venedig zurücklassen müssen, an einer eitrigen Mittelohrentzündung. Seine Frau war zu dieser Zeit im sechsten Monat schwanger. Da sie, die mit nach London gereist war, zunächst ein Engagement in Petersburg, dann ab 1738 auf Lebenszeit in Dresden hatte, wurde Giacomo von seiner Großmutter Marzia Farussi (ca. 1669–1743) erzogen, die zunächst gegen die Ehe ihrer Tochter gewesen war. Sie lebte im Corte delle Muneghe.
Bei dieser Großmutter, Marzia, litt Giacomo häufig unter Nasenbluten – dies war nach eigener Aussage seine älteste Erinnerung, ansonsten habe er keinerlei Erinnerung an die Zeit vor dem August 1733. Mit ihr besuchte er zur Behandlung eine Art Zauberin (‚Hexe‘) auf Murano, der, so Giacomo in seinen Memoiren, die Heilung gelang. Doch brachte ihn diese erste Begegnung mit magischen Vorstellungen erheblich durcheinander. Seine zweite Erinnerung betraf seinen Bruder Francesco und sie war zugleich die einzige an ihren gemeinsamen Vater. Darin eignete er sich einen Kristall seines Vaters an. Doch dieser bemerkte den Diebstahl und drohte dem Täter mit Prügel. Giacomo steckte den Kristall seinem unschuldigen Bruder in die Tasche, was ihm sofort leid tat, denn nun bezog dieser Prügel. Sechs Wochen später erkrankte der Vater, und er starb binnen acht Tagen.
Danach kam der Junge unter die Vormundschaft des einflussreichen Abbate Alvise Grimani, eines Bruders des Michiel Grimani und Weltgeistlichen. Darum hatte Giacomos Vater auf dem Sterbebett gebeten. An seinem neunten Geburtstag wurde Giacomo über den Brenta nach Padua gefahren, nämlich in die Schule des Antonio Gozzi (1709–1783). Schmutz und Hunger trieben ihn dort zum Diebstahl von Nahrungsmitteln. Doch erkannte Gozzi die Begabung des Jungen, und so stieg Giacomo nach fünf Monaten zum Dekurio auf, er sah also die Aufgaben seiner 30 Mitschüler durch. Er erkannte aber auch, dass sein Lehrer abergläubisch war. So bestellte er für seine Schwester einen Exorzisten.
Seine Großmutter zahlte dem Lehrer 24 Zechinen als Kostgeld für ein Jahr, und er zog um. Binnen zwei Jahren wurde er, meist durch Eigenstudium von allem, was ihm in die Hände fiel, ein Kenner der Klassik. Er kannte Ariost und Horaz auswendig, befasste sich aber auch selbstständig mit den Naturwissenschaften, lernte zudem Violine zu spielen. Nach eigener Aussage war es das Glück der ersten Beifallsbekundung, das ihn antrieb, sich literarisch zu betätigen.
In Padua verliebte er sich mit zwölf Jahren zum ersten Mal, nämlich in Bettina, die vierzehnjährige Schwester seines fast doppelt so alten Präzeptors, von der er berichtet, sie habe die Grundlagen seiner Kenntnisse gelegt.
Dann schrieb er sich an der Universität Padua ein. Er selbst wollte Medizin studieren, doch überzeugte ihn seine Mutter davon, dass es mehr Vorteile böte, die Jurisprudenz zu wählen. Wo er seine beachtlichen medizinischen Kenntnisse erwarb, darüber schweigt Casanova. Ab November 1737 erhielt er eine akademische Grundausbildung; so lernte er bei Ercole Francesco Dandini. Durch den Antiquar Carlo Ottaviani, über den sonst nichts bekannt ist,[18] kam er mit der Alchemie in Kontakt.
Doch als sich herausstellte, dass Casanova sich vor allem vergnügte, wurde er 1739 nach Venedig zurückgerufen. Seine Philosophie- und Rechtskenntnisse vertiefte er nun bei dem Gelehrten Biagio Schiavo (1675–1750). Dort sollte er an San Samuele Profeta auf eine kirchliche Karriere vorbereitet werden. Tatsächlich erhielt er am 14. Februar 1740 die Tonsur. Er berichtet, er habe sich nach Erhalt der vier niederen Weihen, am 19. März 1741 während seiner zweiten Predigt in der Kanzel, eine Ohnmacht vortäuschend, zu Boden fallen lassen, denn sein Predigttext war ihm entfallen. Die ersten Besucher hatten die Kirche verlassen, Gelächter.
Er wohnte nun im Sterbehaus seines Vaters zusammen mit seinem Bruder Francesco, während sein jüngster Bruder und seine Schwester bei der Großmutter lebten. 1742 lernte er für kurze Zeit am Seminar von San Cipriano. Mit kaum 16 Jahren durfte er sich Abate des Pfarrers der Gemeinde, eines Giovanni Tosello (1697–1757) nennen. Dieser stellte ihn dem Senator Alvise Gasparo Malipiero (1664–1745) vor, vermögend, gichtkrank, aller Zähne verlustig und über 70 Jahre alt, aber ein Feinschmecker und kultiviert.
Durch die Protektion dieses Senators, dessen Tischgenosse Casanova im Palazzo Malipiero am Campo San Samuele wurde, und die Freundschaft des adligen Dichters Giorgio Baffo (1694–1768)[19] erhielt er Zugang zur Nobilität der Stadt, bei der er auf sich aufmerksam machte. Andererseits war ihm klar, dass diese Führungsgruppe praktisch abgeriegelt war, denn er gehörte nicht einer der adligen Familien der Stadt an – ein schmerzhaftes Bewusstsein der Ungerechtigkeit, das er jedoch stets verbarg (Histoire de ma vie 2, 4). So schrieb er über einen Aufsteiger, der den Namen Tognolo gegen Fabris tauschte: ‚Wenn er seinen Namen Tognolo beibehalten hätte, so würde ihm dieser Name Schaden bereitet haben, denn er hätte ihn niemals aussprechen können, ohne sich an das zu erinnern, was man nach dem verächtlichen Vorurteil eine niedrige Herkunft nennt. Die bevorrechtigte Klasse will in strafbarem Irrtum nicht glauben, dass in einem Bauern Größe und Genie sein können. Die Zeit wird zweifellos kommen, wo die Gesellschaft aufgeklärter und vernünftiger sein und erkennen wird, dass in allen Ständen edle Gefühle, Ehre und Heldentum sich ebenso leicht finden können, wie in einer Klasse, deren Blut nicht immer frei von dem Makel der Mesalliance ist.‘
Casanova wurde bis in die jüngste Vergangenheit vorgehalten, er habe seine Biografie geschönt. Er selbst gab an, er habe mit 17 Jahren, am 28. November 1742, an der Universität Padua den Grad eines Doktors beider Rechte (Doctor iuris utriusque, Dr. iur. utr.) erworben, d. h. des weltlichen und des kanonischen Rechts. Dieser akademische Grad ließ sich für Casanova in den Quellen jedoch lange nicht belegen,[20] obwohl er später behauptete mit den Themen De Testamentis und Utrum Hebraei possint construere novas synagogas promoviert worden zu sein. Doch 2020 fand Bruno Brunelli Bonetti im Paduaner Registro di matricolazioni-Giuristi (1732-1757) (busta 553) für das Jahr 1737 unter dem 28. November die Nachricht vom Verlust einer ganzen Reihe von Zertifikaten, darunter waren auch diejenigen von 1742.[21] Damit war an dieser Stelle die Glaubwürdigkeit der Histoire wiederhergestellt, wenn auch Casanova die Rechtskunde ‚in den Tod zuwider war‘.
Die Chronologie dieser frühen Ereignisse ist zwar unsicher, doch wird zumeist angenommen, dass Casanova 1741 oder 1742 als Sekretär über Korfu nach Konstantinopel reiste, wo er Claude Alexandre de Bonneval traf, einen adligen Abenteurer. Nun sammelte er Ende 1741/Anfang 1742 weitere Erfahrungen mit zwei Schwestern, den 16 und 15 Jahre alten Gräfinnen Nanette und Marton (oder Marthe) Savorgnan, ohne sich gefühlsmäßig zu verstricken.
Am 18. März 1743 starb seine Großmutter Marzia, die er bis zuletzt gepflegt hatte. Zudem musste seine Mutter, die zu dieser Zeit in Warschau lebte, ihr Wohnhaus aufgeben. Sie schrieb, sie hätte Abbate Grimani Auftrag gegeben, die vier Kinder in eine gute Pension zu geben.
Casanova verlor bald die Freundschaft Malipieros, mit dessen Liebhaberin er sich eingelassen hatte; er durfte sein Haus nie wieder betreten, nachdem er mit Stockhieben von dort vertrieben worden war.[22] Diese Geliebte war die 17-jährige Opernsängerin Teresa Imer. Sie gehörte der Compagnia comica von San Samuele an und wohnte nicht weit entfernt im Corte del Duca, 3065, von dessen rückwärtigem Balkon sie auf Malipieros Haus blicken konnte. Ihr begegnete Casanova noch einige Male, mit ihr hatte er zwei Kinder.[23]
Am 2. April 1742 wurde er erstmals festgesetzt, nämlich in der Inselfeste Sant’Andrea in der Lagune von Venedig, die er erst nach über 15 Monaten im Juli 1743 verließ. Dort erging es ihm keineswegs schlecht, er hatte sogar Gelegenheit Frauen aufzusuchen, zumal die Insel in Sichtweite des Ostrands der Kernstadt lag (1, 6). Drahtzieher seiner Inhaftierung war, wie sich Casanova erinnert, Alvise Grimani. In der Festung lagen seinen Angaben zufolge etwa 2000 Albaner, Cimarioten genannt, dazu 500 bis 600 Frauen und zahlreiche Kinder. Die Männer hatten sich im letzten Osmanenkrieg ausgezeichnet. Für diese, so berichtet er, seien Knoblauchzehen wie Zuckerplätzchen gewesen. Die einzige medizinische Bedeutung des Knoblauchs liege darin, dass er den Appetit anrege.
Nun handelte Casanova sich eine erste einer ganzen Serie von Infektionen mit der Gonorrhoe ein – es handelte sich nicht, wie früher vermutet, um die Syphilis. Die erste Infektion stammte von einer Griechin, für deren Mann er eine Art Empfehlungsschreiben aufsetzte (von denen er viele verfasste). Casanova selbst betrachtete diese Episoden, die ihn immer wieder für mehrere Wochen zwangen, sich zurückzuziehen, als unausweichlich. So resümierte er: ‚Mein Leben lang habe ich nichts anderes getan, als mich angestrengt, krank zu werden, wenn ich mich meiner Gesundheit erfreute, und mich angestrengt, meine Gesundheit wiederzuerlangen, wenn ich sie verloren hatte […] ‚Die Krankheit‘ (Casanova nennt hier wohl die Narben des weichen Schankers) ‚verkürzt das Leben nicht, wenn man sich davon zu kurieren weiß; sie hinterläßt nur Narben. Aber man tröstet sich leicht, wenn man bedenkt, dass man sie mit Freuden erworben hat…‘[24] Insgesamt infizierte sich Casanova im Laufe seines Lebens mindestens elf Mal mit der Gonorrhoe, mindestens zwei Mal mit dem weichen Schanker.[25] Auf der Insel pflegte und enthielt er sich sechs Wochen lang. Im Juni wurden die Albaner abgezogen, bald konnte er die Insel verlassen. Von seinen ‚beiden Engeln‘, wie er die beiden Schwestern nannte, musste er sich bald verabschieden.
Kurz bevor er die Insel verlassen durfte, lernte er einen Grafen Bonafede kennen, dessen Erlebnis ein Schlaglicht auf die Rechtsverhältnisse wirft, auch auf die im Postwesen. Bonafede erzählte, er habe als junger Mann dem Prinzen Eugen gedient, danach im österreichischen Verwaltungsdienst gearbeitet. Doch dann musste er nach einem Duell nach München ausweichen. Von dort entführte er eine junge Adlige nach Venedig. Die beiden heirateten, hatten sechs Kinder und lebten seit 20 Jahren in Venedig. ‚Vor acht Tagen schickte ich meinen Lakaien auf die flandrische Post, um meine Briefe abzuholen; man wollte sie ihm aber nicht aushändigen, weil er kein Geld bei sich hatte, um das Porto zu bezahlen. Ich ging selber hin und erklärte, ich würde das Porto am nächsten Posttag bezahlen; vergebens; ich bekam meine Briefe nicht.‘ Auch der Direktor der Post, Baron Taris, weigerte sich, die Briefe auszuhändigen, jedoch ‚in so grobem Ton, daß ich vor Entrüstung außer mir war … eine Viertelstunde darauf schrieb ich ihm einen Brief und verlangte Genugtuung; ich teilte ihm mit, daß ich nur noch mit dem Degen an der Seite ausgehen und daß ich, einerlei wo ich ihn träfe, ihn zwingen würde, mir Genugtuung zu geben‘ (1, 6).
Casanovas Mutter arrangierte es nun von Dresden aus, dass ihr Sohn in den Dienst des neuen Bischofs Bernardino Bernardi (1699–1758) trat, der für das Bistum Martirano in Kalabrien vorgesehen war. Casanova träumte gar davon, Papst zu werden, wie er sich erinnerte. Doch schreckte ihn der abgelegene Ort so sehr ab, dass er seiner Klerikerkarriere endgültig entsagte, auch wenn er noch zwei Mal in seinem Leben über einen Rückzug ins Kloster nachdenken sollte.
Schließlich reiste er über Chioggia – wo er, nicht zum letzten Mal, sein ganzes Geld verspielte –, Pola und Ancona – dort wurde er wegen der grassierenden Pest, die Schiffe aus Messina womöglich mitgebracht hätten, drei Wochen lang unter Quarantäne gestellt – schließlich über Rom zu seinem Bischof. Doch die dortigen Verhältnisse waren so ärmlich, dass er nach nur 60 Stunden Aufenthalt über Cosenza nach Neapel zog, eine Stadt, die ihm sogleich gefiel. Am 16. September 1743 dort angekommen, lernte er Antonio Genovesi kennen, den Marchese Galiani, den Duca d’Arienzo Lelio Carafa († 1761)[26]. Auch knüpfte er Beziehungen zu adligen Frauen.
Während seines Aufenthalts in Neapel erfand er einen „Marcantonio Casanova“ als seinen Stammvater, der 1528 als Sekretär eines Kardinals in Rom gestorben sei. Doch fürchtete er, dass seine Abstammung ruchbar werden könnte, zumal die Königin, die seine Mutter kannte, ihren Besuch ankündigte: ‚nichts hätte sie verhindern können zu erzählen, was diese in Dresden war; ‚… mein Stammbaum wäre lächerlich gewesen‘. Er entzog sich dem königlichen Besuch, indem er nach Rom, mit Empfehlungsschreiben Carafas, abreiste.
So ging es fünf Tage lang per Kutsche über Capua, Terracina, Sermoneta, Marino nach Norden, wobei sich Casanova in die verheiratete (etwa 20-jährige) Lucrezia Castelli verliebte, die Frau eines Advokaten in Rom (sie brachte eine gemeinsame Tochter zur Welt, der er fast zwei Jahrzehnte später wieder begegnen sollte). Rom war für Casanova ‚die einzige Stadt …, wo jemand, der aus dem Nichts hervorgeht, es zum Höchsten bringen kann.‘
Als Zeichen, dass seine Jugendzeit endete, ließ er sich rasieren und kleidete sich nach Art der Römer. Immer wieder erhielt er den Hinweis, er müsse Französisch lernen; tatsächlich begann er die Sprache zu studieren.
Im Frühjahr 1744 lernte er Papst Benedikt XIV. kennen. Als Dank für amüsante Plaudereien erlaubte ihm der Papst, verbotene Bücher zu lesen – allerdings vergaß er, ihm dies schriftlich zu bestätigen –, und genehmigte ihm beim zweiten Besuch Fleisch zu essen – doch eine Dispens von der Fastenpflicht versagte er ihm ausdrücklich.
Es war Casanova inzwischen gelungen, durch Carafas Empfehlung in die Dienste des Traiano Acquaviva d’Aragona (1696–1747) einzutreten, des Kardinals Acquaviva. Dennoch musste er die Stadt verlassen, nicht wegen seiner erwachten Liebe zu einer Marchesa, Ehefrau eines spanischen Kardinals, sondern weil er in eine gescheiterte Entführung verwickelt war. Der einflussreiche Kardinal fragte ihn, wohin seine Reise gehen sollte, und welche Empfehlungen er brauche. Tatsächlich soll er ihm ein entsprechendes Schreiben an ‚Osman Bonneval, Pascha von Karamanien in Konstantinopel‘ übergeben haben.
Am 25. Februar 1744 traf Casanova in Ancona ein, zum Abschied mit reichen Geldmitteln ausgestattet, deren Löwenanteil er mittels Wechsel auf den Ragusaner Giovanni Buchetti transferierte, der ein Haus in Ancona besaß – eine Art des Geldtransfers, die Casanova wie selbstverständlich einsetzte. Casanova gab sich als Sekretär des Kardinals Acquaviva aus. Dabei stellte ihm der spanische Gast seine Familie aus Bologna vor, der ein Kastrat namens „Bellino“ anzugehören schien. Die Dienste eines Lustknaben, eines Giton(e), wies er allerdings von sich. Im Hafen traf Casanova die Griechin wieder, die er vor sieben Monaten kennengelernt hatte, und die weiterhin Sklavin eines Türken war. „Bellino“ erklärte sich später als „Teresa“, die Casanova angesichts seiner Eskapaden, auch mit ihren sehr jungen Schwestern und der Griechin, für flatterhaft hielt. Bei Teresa hegte er zum ersten Mal den Gedanken an eine dauerhafte Bindung, doch wurden sie getrennt, weil Casanova seinen Pass verloren hatte, was ihm einige Tage Gefängnis eintrug.[27]
Im Februar 1745 hielt sich Casanova kurz in Venedig auf, fuhr dann im März erneut nach Ancona, wo er sich in eine bekannte Sängerin verliebt hatte, bei der es sich um Angela Calori handelte, die, so glaubte er fälschlicherweise, aus Vicenza stammte. Er sollte sie erst in London wiedersehen, dann wieder in Prag.
In Venedig kaufte er sich ein Leutnantspatent und trat in den Militärdienst ein; schon in Bologna hatte er begonnen, sich durch Flanieren und Kaffeehausbesuche bekannt zu machen. Wieder ließ er sich einen Wechsel, diesmal auf Venedig und um 600 Zechinen, ausstellen, dazu Gold im Wert von 100 Zechinen. Er wurde nach Korfu abkommandiert (ihn erreichte Teresas letzter Brief), von wo er im Sommer 1745 nach Konstantinopel reiste (vielleicht auch erst 1746). Kurz vor der Abfahrt lernte er (Zuan) Antonio Dolfino kennen (1711–1753), einen (1744 gewählten) Rat auf Zante, der, obwohl venezianischer Adliger, in fremdem Sold gedient hatte. Auch hatte er einige Zeit im venezianischen Staatsgefängnis, den Bleikammern im Dogenpalast, zugebracht.
Zwar vermischt Casanova später selbst die Ereignisse dieser neuerlichen Reise, nach der von 1741 bis 1742, so dass sich die Chronologie auch hier nicht mehr genau klären lässt, doch besteht kein Zweifel, dass diese zweite Reise den Tatsachen entspricht.
Auf der Höhe von Curzola geriet das Schiff in einen Sturm, in dessen Verlauf ein Priester versuchte, die Teufel zu vertreiben, woraufhin die Mannschaft verlangte, dass Casanova, der jede Art von Zauberkünsten, böse Geister und Exorzismen für Albernheiten hielt, von Bord gehen sollte. Sogar ein Anschlag wurde auf ihn verübt. Nachdem sich der Sturm gelegt hatte, fuhr er dennoch weiter und erreichte nach acht Tagen Korfu.
Auch dort verspielte er innerhalb eines Monats sein kleines Vermögen. Schließlich kam mit dem Linienschiff Europa, das 72 Kanonen führte,[28] der neue Bailò von Konstantinopel, den er dorthin begleiten sollte. Nach sechs Tagen lag das Schiff vor Cerigo, wohin der Rat der Zehn, wie einer von ihnen Casanova klagte, über vierzig Männer verbannt hatte, die im Verdacht standen, von der Prostitution profitiert zu haben. Nach weiteren rund zehn Tagen erreichte das Schiff die Dardanellen, wo sie auf türkischen Schiffen Mitte Juli nach Konstantinopel gelangten.
Mit seinem Empfehlungsschreiben suchte er Osman Bonneval, den Pascha von Karamanien auf, der ihn mit einem Gelehrten bekannt machte, mit dem er tagelang über die Unterschiede der Religionen nachdachte und dessen Freund er wurde – was Casanova ausführlich schildert. Er wünschte gar, Casanova zum Schwiegersohn zu gewinnen, doch hätte er dazu Türkisch lernen und Muslim werden müssen. Bei Osman Pascha hatte er Gelegenheit, mit einer Tänzerin, die eine Moretta trug, zur Violinenmusik eine Furlana zu tanzen. Auch lernte er Jussufs Frau kennen, eine Chiotin. Als er mit dem Bailò Giovanni Donà zurückreiste,[29] endete unter Tränen und reichen Geschenken ihre Freundschaft.
Auf Korfu wurde er Adjutant bei „D. R.“, dessen Geliebte, wie er glaubte, Casanova so herablassend behandelte, dass er an sich eine Gehässigkeit entdeckte, die ihn beunruhigte. Auch behauptete er, einen Hochstapler entlarvt und auf eine Insel geflohen zu sein. Schließlich holte er im Karneval eine neapolitanische Schauspieltruppe aus Otranto auf die Insel. Als er seine Geliebte „F.“ mit einer Kurtisane betrog, fühlte er Abscheu gegen sich selbst, fühlte sich zum ersten Mal der Liebe einer Frau unwürdig, zumal er sich erneut angesteckt hatte. In kurzer Zeit verlor er, wie er selbst formuliert ‚Gesundheit, Geld, Kredit‘, ‚gute Laune, Überlegung und Geist‘. „F.“, die mit „D. R.“ nach Venedig reiste, wurde er gleichgültig, und er fuhr mit der Flotte nach Venedig zurück. Bei „madame F.“ handelte es sich um Andriana Lando (oder Longo), seit dem 4. Dezember 1742 Ehefrau des Vincenzo Foscarini.[30]
Wohl zur Jahreswende 1745 auf 1746 war er wieder in seiner Geburtsstadt, gab das Militär auf und arbeitete bei einem Rechtsanwalt. Allerdings war er diesmal ohne Protektion. Als Violinist trat er dem Orchester des Theaters von San Samuele bei, an dem schon seine Eltern gearbeitet hatten. Währenddessen hatte Teresa ein Engagement in Neapel angenommen. In Venedig hatte eine der beiden Schwestern geheiratet, die andere war Nonne geworden; diese, Martina, sollte er erst 1754 wiedersehen.
In Venedig, so berichtet er, seien die Galeassen abgeschafft worden, wogegen sich die Konservativen wendeten, von denen er meinte, ‚diese guten Leute müsste man nach China oder zum Dalai-Lama schicken; in diese Länder gehören sie weit eher als nach Europa‘. Auch glaubte er, dass die Galeeren vor allem deshalb niemals abgeschafft werden würden, weil man sonst nicht wüsste, wohin mit den Gefangenen (auf Korfu allein befanden sich 3000 von ihnen).
Seinen Bruder Francesco konnte er aus der Gefangenschaft befreien, seine Schwester war inzwischen bei ihrer Mutter in Dresden. In den nächsten Monaten gehörte er einer siebenköpfigen Gruppe junger Männer an, die sich in Casanovas Augen überaus schlecht aufführte. Nur weil ihr Anführer ein Adliger war, schritten die Behörden nicht ein.
Sehr viel später im Verlauf seiner Memoiren (5, 20), als er schon in Petersburg war, erwähnt Casanova einen Vorgang, den er wohl vergessen hatte zu schildern: Vor 20 Jahren sei er der Venezianerin Roccolini begegnet, die – ohne Engagement und ohne Ausbildung – als Sängerin nach Petersburg gegangen war. Sie wurde die Kupplerin der schönsten Frau Petersburgs, wie Casanova vermerkt, einer Proté. Roccolinis Bruder ‚Montellato‘ ‚hatte mich eines Nachts, als ich vom Ridotto kam, mitten auf dem Markusplatze ermorden wollen. Bei der Roccolini hatte man das Komplott geschmiedet, das mir das Leben gekostet hätte, wenn ich einen Augenblick gezögert hätte, durch das Fenster auf die Straße zu springen (5, 20)‘.
Am 29. April 1746 lernte er, nachdem er bei einer Hochzeit aufgespielt hatte, den Senator Matteo Giovanni Bragadin (1689–1767) kennen, den er angeblich durch einen schnell herbeigeführten Aderlass, den ein von ihm herbeigerufener Wundarzt durchführte, von den Folgen eines Schlaganfalls befreien konnte. Danach habe er den Kranken in dessen Gondel nach Santa Marina gebracht, wo ein Arzt einen zweiten Aderlass durchgeführt habe. Der Arzt, (Ludovico) Ferro mit Namen,[31] hätte ihn mit einer Quecksilber-Heilsalbe fast umgebracht, was Casanova verhindert habe. Der Senator fühlte sich ihm daher auf Lebenszeit zu Dank verpflichtet.
Bragadin, der von seinem Bruder unterdrückt wurde, und seine Freunde Marco Dandolo (1704–1779) und Marco Barbaro (1688–1771) – wie er unverheiratet und zudem frauenfeindlich, wie Casanova feststellt –, beschäftigten sich mit okkulten Wissenschaften. Casanova nutzte diese für medizinische Gesichtspunkte, aber auch, um seine leichtgläubigen Gönner mit kabbalistischen Mystifikationen zu beschäftigen – ein Vorgehen, das er vor allem beim abergläubischen Adel Europas immer wieder zu seinen Gunsten nutzte. Er versuchte nach eigenen Aussagen, seine Gastgeber zu unterhalten, nicht sie auszunutzen. Bragadin adoptierte ihn bald als seinen Sohn und verpflichtete sich, ihn auf Lebenszeit mit zehn Zecchini pro Monat zu unterstützen, ihm sein Haus anzubieten, eine eigene Gondel zu unterhalten, seine Kontakte zu seinen Gunsten einzusetzen. So konnte Casanova drei Jahre lang ein materiell sorgenfreies Leben führen. Mit Hilfe von Glücksspielen gelang es ihm, seinen aufwändigen Lebensstil zu finanzieren. Doch, so konstatierte Casanova in seinen Erinnerungen, verhinderten sein feuriger Charakter, seine unwiderstehliche Neigung zum Vergnügen und seine Unabhängigkeitsliebe, sich Mäßigung aufzuerlegen, zu der seine neue Lage ihm zu raten schien. Nur die Gesetze wollte er achten.
Zunächst aber verspielte er bei einem Grafen Rinaldi, in dessen Frau er sich verliebt hatte, sein kleines Vermögen. Als er nicht zahlen konnte, sprang Bragadin ein, so dass er sein Geld zurückbekam. Doch Casanova mied nun das Haus des Grafen. Es gelang ihm zu erreichen, dass jeder, der eine Vergünstigung von seinem „Vater“ erhoffte, wie er Bragadin nannte, sich zunächst an ihn wenden musste.
Ein Zanetto Steffani, der einer jungen Gräfin „A. S.“ aus „C.“ die Ehe versprochen hatte, musste in den Kapuzinerorden eintreten, um ihre Ehre wiederherzustellen. Casanova hatte sie zufällig gesehen und sich ihre Notlage erklären lassen. Die Gräfin und er verliebten sich, die Familie des angereisten Grafen erfuhr nichts davon.
Die Trennung schmerzte Casanova zwar heftig, doch nur kurz, denn er verliebte sich schon bald in Ancilla, die berühmteste Kurtisane Venedigs, wie er vermerkte.[32] Doch auch diese Liebe dauerte nur wenige Wochen. Mit ihrem Hauptliebhaber, Graf Medini, duellierte er sich, wobei der Graf nach einem Stich in die Schulter um Gnade bitten musste. Medini blieb lebenslang Casanovas Feind. Ende Januar 1747 erhielt er einen Brief von „A. S.“, die inzwischen verheiratet war. Wieder verspielte Casanova in den Ridotti sein Geld, wo die Patrizier nur mit Perücke und ihrer Kleidung erscheinen durften.
Einer Cristina, einem Bauernmädchen, das er in einer Gondel gesehen hatte, versprach er die Ehe, doch zog er es vor, sie mit einem anderen Mann zu verkuppeln – eine Episode, die Hugo von Hofmannsthal in einem Lustspiel verarbeitete (1899). Bei der Hochzeit war Casanova selbst anwesend. Dieser Vorgang wurde häufig als Beleg für Casanovas Verantwortungsbewusstsein herangezogen.
Nach einem bösen Streich, bei dem Casanova auch vor Leichenschändung nicht zurückschreckte – hinzu kam, dass er ein Mädchen verprügelt hatte, dessen Mutter es verkuppelt und die Entlohnung im Voraus erhalten hatte, das sich aber verweigerte –, verließ er auf Anraten Bragadins Venedig für einige Zeit.
Im Januar 1749 reiste er Richtung Verona, zwei Tage später war er in Mailand. Dort traf er Marina wieder, die tanzte, und ihren Geliebten und Zuhälter (wie sich herausstellte gezwungenermaßen) einen angeblichen Grafen Celi aus Rom. Nach einem kurzen Duell, bei dem ihn Balletti unterstützte, flohen Celi und sein Begleiter. Antonio Stefano Balletti war ein Franzose und sollte noch einigen Einfluss auf Casanova haben. Marina, Balletti und Casanova reisten nun über Cremona nach Mantua.
Dort wurde er verhaftet, weil er bei Dunkelheit keine Laterne mit sich führte, feierte mit den Offizieren, und musste sich zu seinem Ärger sechs Wochen lang auskurieren – ein Opfer, das nur die Liebe wert sei. In Mantua traf er eine ehemalige Geliebte seines Vaters, die Ursache dafür, dass dieser zu seiner späteren Mutter gegangen war.
Dann traf er auf einen Capitani, der davon überzeugt war, eine überaus wertvolle Reliquie zu besitzen, nämlich das Messer, mit dem einst Petrus im Garten von Getsemane Malchus das Ohr abgeschnitten hatte. Casanova, wie so häufig unter Mangel an Geldmitteln leidend, versprach, ihm die dazugehörige Scheide zu beschaffen, was den Wert der Reliquie noch ungemein steigern würde.
In Cesena verliebte sich Casanova so heftig wie noch nie zuvor, in eine (angeblich) vier Jahre jüngere Frau. In seinen Erinnerungen nennt er diese Frau Henriette, die erste Französin, mit der er sprach, und deren Anmut, Geist und Witz er als selten in Italien hervorhebt. Ihre Identität ließ sich nicht klären.[33]
Sie war in Begleitung eines über 60-jährigen, ungarischen Offiziers auf dem Weg nach Parma; Casanova begleitete die beiden. Es gelang ihr, den Offizier, der nur Latein und Ungarisch sprach, und deren Wege sich in Parma trennen sollten, mit großer Achtung zu behandeln, wie es auch Casanova tat, obwohl er Henriette bereits begehrte; in solchen Situationen führte er lautstarke Selbstgespräche, in denen er vergaß, dass er allein war. In Bologna entschied sich Henriette, die ihren Gatten und ihren Schwiegervater, der sie ins Kloster stecken wollte, als Ungeheuer bezeichnete, für Casanova. Nach drei Monaten, einem ‚Freudentaumel des Glücks‘, wurde die größte Liebe seines Lebens – Casanova bezeichnete sie als ‚seine Frau‘ – jedoch erkannt und so musste sie heimkehren. Er begleitete sie über den Mont Cenis, den sie in Sänften überquerten, noch bis nach Genf. Doch mussten sich dort im Februar 1750 ihre Wege trennen. Erst 15 Jahre später begegneten sich die beiden wieder. Seine Gefühle waren zwar nie von langer Dauer, aber doch tief, durchaus respektvoll und glaubhaft; ohne Eifersucht und keineswegs zynisch, wie Mangini konstatiert. Allerdings schreibt er in seiner Histoire: ‚Eine geistreiche Frau, die nicht dazu geschaffen ist, einen Mann glücklich zu machen, ist die gelehrte Frau. Gelehrsamkeit ist für eine Frau nicht angebracht, denn sie beeinträchtigt die Sanftheit ihres Charakters, ihre Lieblichkeit, jene zarte Schüchternheit, die dem weiblichen Geschlecht so viele Reize verleiht; übrigens hat noch niemals eine Frau es im Wissen über gewisse Grenzen hinausgebracht, und der Wortschwall gelehrter Frauen imponiert nur Dummköpfen. Keine einzige große Entdeckung ist von einer Frau gemacht worden. Das weibliche Geschlecht entbehrt jener geistigen Kraft, die ein Ausfluss der körperlichen Kraft ist; aber im Ziehen einfacher Vernunftschlüsse, an Zartheit des Gefühls und an vielen Verdiensten, die mehr dem Herzen als dem Geist zuzuschreiben sind, da sind die Frauen uns weit überlegen‘ (2, 3[34]).
Nach einem Fehltritt, bei dem er sich auch noch infizierte und er sich mit Quecksilber behandeln ließ, wäre Casanova beinahe zum Frömmler geworden, wie er selbst schreibt. Doch: ‚Wie du weißt, mein lieber Leser, verbreitet nichts sich so rasch wie die Pest, und was ist der Fanatismus jeder Art anders, als eine Pestkrankheit des Geistes?‘ (2, 5). Erst Anfang April war er geheilt. Dann riefen ihn Briefe von Bragadin nach Venedig zurück, wo niemand mehr seine Taten ahnden wollte.
Nach kurzem Aufenthalt in Venedig – durch einen Herrn de la Haye war er, wie er schrieb, zum ‚Fanatiker‘ geworden – brach für Casanova ein neuer Lebensabschnitt an. Zunächst fuhr er von Parma, wo er mit Henriette gelebt hatte, nach Fusina, von wo er nach Venedig übersetzte, das er ein Jahr lang verlassen hatte. Doch bald merkte er, dass der Jesuit (?) de la Haye versuchte, ihn bei seinen Freunden zu verdrängen. Damit endete schlagartig seine Zeit als Mystiker. Er begann wieder zu spielen und gewann 1750 zu Karneval 3000 Dukaten. De la Haye verließ Venedig und ging nach Polen.
Am 1. Juli 1750 brach Casanova nach Paris auf, wo er mehr als zwei Jahre blieb – für das Elend in den Vorstädten hatte er allerdings, im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen, keine Wahrnehmung, so dass die Stadt nur aus dem Blickwinkel des Hofes und nur schemenhaft auftaucht. Seine Brüder blieben vorläufig in Venedig.
Diesmal reiste er in Begleitung des Schauspielers Antonio Stefano Balletti, Verwandter der gefeierten Silvia Balletti (1701–1758), die ihn in die Gesellschaft einführte und der er in seinen Memoiren eine ausführliche Schilderung widmete. Die knapp fünfzigjährige Schauspielerin, den ‚Abgott Frankreichs‘, begleitete er gemeinsam mit Ballettis Tochter Manon, als sie 1758 der Schwindsucht erlag.
In Turin musste er auf dem Weg dorthin feststellen, dass der König nichts Majestätisches hatte, was ihn als ‚denkenden, jungen Republikaner‘ überraschte, denn er war im Gegenteil ‚hässlich, bucklig, mürrisch und unvornehm‘ (2, 7).
In Lyon schloss er sich der Freimaurerei an, denn ihm war klar geworden, dass er nur so den Unwägbarkeiten begegnen können würde, die ihn erwarteten (Mangini). Childs nimmt an, dass er in die schottische Loge Amitié, amis choisis aufgenommen wurde. Zudem soll er den Rosenkreuzern beigetreten sein.[35]
In Paris musste er lernen, dass der Umgang miteinander dort anderen Gesetzen und Mustern unterlag – so grüßte man die Schauspieler mit den Namen ihrer Charaktere. Er freundete sich mit Künstlern der Comédie Italienne an, darunter mit der besagten Silvia Balletti. Er machte die Bekanntschaft zahlreicher bedeutender Männer, wie etwa Crébillon, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Bernard le Bovier de Fontenelle oder Claude-Henri de Fusée de Voisenon. Der noch immer berühmte ältere Crébillon bot ihm an, ihn ein Jahr in Französisch zu unterrichten – allerdings überwand Casanova nie seine italienischen Redewendungen. Von Marcel (1683–1759), dem bekannten Ballettmeister, wollte er bis in die feinsten Einzelheiten das Menuett erlernen.
Den König hielt er für einen Despoten, doch meinte er zur Französischen Revolution: ‚Seither haben die Franzosen den Despotismus des Volkes. Ist dieser weniger abscheulich?‘ (2, 7). Er war beeindruckt von Ludwig XV., doch ‚Trauriges Geschick der Könige! Erbärmliche Schmeichler tun beständig alles, was erforderlich ist, sie noch unter den gewöhnlichen Menschen herabzudrücken‘ (2,9).
Mit Begeisterung besuchte er die Comédie-Française und die Opéra, wo es ihm leichter fiel, Bekanntschaften zu machen und Freunde zu gewinnen. Er unterhielt zwar auch Kontakte zum Hof, doch er bevorzugte weiterhin die Konversation, das Spiel, die Liebe. Erst in Paris wurde er der umfassend gebildete Mann, als den er sich selbst sah. Sein erstes eigenes Werk war eine Übersetzung des Dramas Zoroastre von Louis de Cahusac ins Italienische.[36] Seinem Bruder Francesco konnte er durch seine Kontakte eine Stellung als Schlachtenmaler verschaffen.
Mimi, die vielleicht 16-jährige Tochter seiner Wirtin, Madame Quinson, verliebte sich in Casanova und brachte einen Sohn zur Welt. Die Mutter ging später zur Bühne, das Kind wurde ‚zum Besten der Nation ins Hotel Dieu geschickt‘. Die Kosten für die Entbindung und das Wochenbett übernahm Casanova, der einer Anklage entging. Hingegen geriet die Mutter wohl in den Verdacht der Kuppelei (2, 10).
Vesian hingegen war eine junge Frau aus Parma, eine Waise, die er so sehr respektierte und ihren Geist geradezu verehrte, ‚sie, die nicht für ein verworfenes Leben erzogen war, die edle Empfindungen, eine gute Erziehung und eine Kindlichkeit hatte, welche der erste unreine Hauch unwiederbringlich zerstören konnte.‘ Bei ihr war er in Gefahr, seine Freiheit zu verlieren. Gegen seine Instruktionen suchte sie sich einen Mann, einen ‚Grafen von Narbonne‘. Ihr Glück lag ihm, wie Casanova schreibt, zu sehr am Herzen, als dass er es hätte wagen mögen, ihr nachzustellen. Doch war sie, bloß benutzt, bald unglücklich, und es habe ihn ‚nie ein junges Mädchen so sehr durch den Ausdruck ihres Schmerzes gerührt‘. Baletti sollte ihr nun Tanzen beibringen, auch brachte er sie als Opernfigurantin unter, auch wenn diese ohne Lohn waren: Es stehe ‚fest, daß ein Mädchen, welches hier angestellt ist, auf alle Sittsamkeit verzichten muß, wenn sie nicht Hungers sterben will.‘ Ein Monat der ‚Sittsamkeit‘ genüge, um nur noch ernsthafte Männer anzuziehen. Die junge Frau brachte es auf den Punkt: ‚»Ich soll tugendhaft sein, um jemand zu finden, der die Tugend nur sucht, um sie zu zerstören.«‘ Mit Blick auf die Vorurteile meinte er, dass ‚man Vorurteil jede sogenannte Pflicht nennt, welche nicht in der Natur begründet ist.‘ Und sie, inspiriert, meinte, dass ‚»unsere Seele nur insoweit glücklich sein kann, als sie mit unsern Sinnen in Übereinstimmung bleibt.«‘ Nach einigen Monaten nahm sie ein Mann von der Bühne und Casanova, der eine Nacht mit ihr verbrachte hatte, ‚liebte ihr Glück zu sehr, als daß ich es hätte stören sollen‘. Auch gelang es ihm, ihrem Bruder eine Anstellung zu verschaffen. Ein anderes Mädchen, das ‚vor Schmutz starrte, eine vollendete Schönheit‘, konnte er bei Hof unterbringen.
Ein anderes Mal ließ er eine 13-jährige angebliche Flämin oder Griechin namens „O-Morphi“ – wohl eher eine Irin namens Victorine oder Marie-Louise Murphy – von einem angeblich deutschen Maler porträtieren – dieser Maler war François Boucher. Von dem Bild der Schönen (griechisch morfi, wie Casanova sinniert) zirkulierten bald Kopien. Eine davon sah der König, der das Mädchen ausdrücklich wegen der Gefühle, die das Bild in ihm erregt hatte, zu einer seiner Geliebten machte. Während der König über die Ähnlichkeit zwischen dem Gemälde und dem Mädchen erfreut ist, lacht sie über die Ähnlichkeit des Gesichtes König Louis XV mit den Darstellungen auf seinen Münzen, den Louis. Sie erhielt eine Wohnung und 1000 Louis. Auch wenn sie drei Jahre später in Ungnade fiel, wurde sie doch immerhin reich ausgestattet. Die Hälfte des Malerhonorars von 50 Louis erhielt Casanova.[38]
Nachdem sein Bruder ein Schlachtengemälde ausgehängt hatte, das für schlecht befunden wurde, zerstörte dieser es eigenhändig. Giacomo geriet, nachdem er bei Condé gespeist und offenbar betrogen worden war, in eine Art Duell, das jedoch ohne Folgen blieb. Ein „Chevalier de Talvis“, der angab, die von Casanova beleidigte ‚Halsabschneiderin‘ beschützen zu wollen, wurde entsprechend den Regeln und somit korrekt, leicht verletzt.
Mitte August 1752 (nach Mangini im Oktober) verließen die Brüder Giacomo und Francesco gemeinsam Paris Richtung Dresden, das sie Ende des Monats erreichten, um ihre Mutter zu besuchen. Der Weg führte sie über Metz, Mainz und Frankfurt. Für seine Mutter schrieb Giacomo La Moluccheide, eine verlorene Parodie in drei Akten auf La Thébaïde, ou les frères ennemis von Jean Racine (1664). Francesco übte seine Fertigkeiten an den Schlachtengemälden früherer Meister, um vier Jahre später nach Paris zurückzukehren. Bald darauf reiste Giacomo von Dresden ab, wo er Mutter, Bruder und Schwester zurückließ. Seine Mutter hatte den Hofklavierlehrer Peter August († 1787) geheiratet.
Über den König, und erst recht seinen Minister, sagte er: ‚Niemals war ein Monarch ein so abgesagter Feind der Sparsamkeit‘. ‚Dresden hatte den glänzendsten Hof, den es damals in Europa gab.‘ Der König unterhielt vier Spaßmacher, denn ‚König August war nicht galant‘, die sich in Fratzenschneiden und Grobheiten ergingen, ‚man nennt sie in Deutschland Narren, obgleich diese herabgekommenen Menschen für gewöhnlich klüger sind als ihre Herren‘.
Von dort reiste er, nachdem er eine erneute Gonorrhoe sechs Wochen auskuriert hatte, im März 1753 nach Prag, wo er sich nur kurz aufhielt – zwei, drei Tage verbrachte er bei seiner Geliebten Morelli –, und weiter nach Wien, wo er Pietro Metastasio traf. Auch begegnete ihm dort wieder de la Haye, der ihm 50 Dukaten lieh, wie Casanova überhaupt wieder häufiger unter Mangel an Geld litt. An der Oper traf er den Tänzer Bodin, den er in Turin kennen gelernt, und der die schöne Geoffroi geheiratet hatte,[39] „die erfolgreichste und am meisten bewunderte Tänzerin in Wien“[40]. Er wohnte bei Campioni, dem einstigen Ehemann der schönen Ancilla (von der er sich, wie Casanova meinte, wegen einer zu großen Entehrung getrennt hätte), der ein ebenso großer Spieler wie Tänzer war.
Doch eine Legion von in Zivil gekleideten „Keuschheitskommissären“, die die jungen Frauen (seit 1752) überwachten, hinderte ihn daran, seinen üblichen Vergnügungen nachzugehen. Dies änderte sich, als er wieder auf Baron Vais stieß, in dessen Gesellschaft man ihn bedrängte, er müsse doch mindestens ein Baron sein. Auch fiel ihm auf, dass die „Keuschheitskommissäre“ in diesen Kreisen keinerlei Rechte hatten.
Casanova, der keinen Genuss ausließ, erkrankte schwer, ein gegen seinen Willen hinzugezogener Arzt wollte ihn zur Ader lassen. Doch der Patient schoss auf ihn und konnte so die zwangsweise Behandlung verhindern; stattdessen nahm er nur Wasser zu sich. Zu seinem Ärger scheiterten seine Versuche bei einer Mailänder Tänzerin, die in einen anderen verliebt war (er entwendete ihr Porträt), aber immerhin konnte er vom Casinogewinn eines Gascogners profitieren, der dem Fürstbischof vielleicht 14.000 Gulden abgenommen hatte.
Nach seiner Abreise brauchte Casanova, dem das gesellschaftliche Klima zu eng wurde, vier Tage mit der Post bis Triest. Am 29. Mai 1753 war er wieder in Venedig. Freudig empfangen von Bragadin und seinen Freunden, konnte er sein altes Leben wiederaufnehmen, versuchte sich auch wieder im Glücksspiel (2, 12). Das gestohlene Porträt rückte er aufgrund eines Briefes der Mailänderin, den ihm der junge Giovanni Grimani aushändigte, anstandslos wieder heraus. Um den Festivitäten auszuweichen, reiste Bragadin nach Padua und Casanova mit ihm.
In dieser Zeit traf er wieder mit Teresa Imer zusammen, die, aus Bayreuth kommend, Venedig aufsuchte. Die beiden kamen zwei Mal zusammen, Teresa wurde schwanger.
Bald verliebte er sich erneut, diesmal, laut Brunelli,[41] in die 14-jährige Cat(t)erina Maria Teresa Francesca Capretta (1738 – nach 1793), die Casanova „C. C.“ nannte, bzw. „Catrine“. Caterina Caprettas Bruder, ein Freimaurer namens Pietro, der in Wien bankrottgegangen war und dessen Vornamen Casanova nicht erwähnt, den er aber wohl schon seit 1748 kannte, versuchte die beiden zu verkuppeln, um Casanova mittels Wechseln hinters Licht zu führen (er landete bald im Schuldgefängnis). Die Verliebten versprachen sich die Ehe, und Casanova, nicht nur, wie er schreibt, in der Hoffnung, den gleichzeitigen Erguss herbeizuführen, äußerte zum ersten Mal einen Kinderwunsch. Er hielt um ihre Hand an, vermittelt durch Bragadin.
Doch ihre Eltern – der Vater wollte sie erst mit mindestens 18 Jahren verheiraten, und das nur an einen Kaufmann – sperrten sie in das Kloster Santa Maria degli Angeli auf Murano. Dies erfuhr er durch eine Botin namens Laura, die davon lebte, Briefe aus und ins Kloster zu schmuggeln. Wieder spielte Casanova in Padua um sehr viel Geld, stürzte bei Padua mit seinem Pferd, und wegen eines neuen Pferdes schoss er auf einen Postillon. Kaum eine Viertelstunde zu Hause angekommen, erhielt er von der Botin sieben Seiten eines Tagebuchs. Dann traf er Croce, der wegen Glücksspiels ausgewiesen worden war, mit dem Casanova gemeinsame Sache gemacht hatte (er wurde später endgültig ausgewiesen und starb nach einem großen Skandal in der Feste Cattaro). So erhielt Casanova die Hälfte vom Gewinn, also 5000 Zechinen. Damit konnte er seine Schulden begleichen. Immerhin wurde er Caterinas Bruder los, dessen Wechsel als wertlos aufgeflogen waren.
Doch dann erhielt Casanova einen Brief von „Catine“, in dem sie von einer Fehlgeburt berichtete. Sie hatte Laura, die besagte Botin, eingeweiht, denn sie drohte zu verbluten. Der aufgewühlte Casanova hielt sich während einer Reihe von Tagen auf Murano auf. Anlässlich einer Neuaufnahme im Kloster gelang es ihm, sich unter die Menge zu mischen, und die beiden begegneten sich zum ersten Mal wieder. In der Kirche trafen sie sich nun vielleicht fünf Wochen lang an jedem Feiertag.
Bei einer solchen Gelegenheit, an Allerheiligen 1753, ließ eine unbekannte Frau einen Brief vor seine Füße fallen. Sie schrieb, sie habe ihn seit dreieinhalb Monaten beobachtet und wolle ihn kennen lernen. Als Casanova seine Memoiren verfasste, war der Brief noch immer in seinem Besitz, wie viele andere auch.
Im sogenannten Parlatorio, einem überwachten Gesprächsraum, sollte er die Unbekannte zu Gesicht bekommen, die seiner Caterina Französisch beibrachte. In seinen Erinnerungen nannte er sie „M. M.“, die sich als Marina Morosini identifizieren ließ – in einer Notiz zur Vorbereitung seiner Memoiren, nannte er sie allerdings „Mathilde“. Am Gitter war ein großes Fenster angebracht, durch das ein Erwachsener hätte schlüpfen können, wie Casanova vermerkt.
Doch die 22- bis 23-jährige Morosini, obwohl ein Freigeist, freiwillig ins Kloster gegangen, redete kein Wort, wohl als Reaktion darauf, dass Casanova sich aus Vorsicht nicht hatte vorstellen lassen wollen (2, 17). Beim nächsten Mal ließ sie ihn (vergebens) warten. Am Ende musste sich Casanova für seine Rachegelüste entschuldigen, sie sprachen zum ersten Mal miteinander, gestanden sich ihre Liebhaber ein. Casanova schien es, ‚als sollte ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich glücklich sein‘. Er war ‚verliebt, aber er genießt des geliebten Wesens nur, wenn er sicher ist, daß es seinen Genuß teilt, und dies kann nur der Fall sein, wenn ihre Liebe gegenseitig ist‘ (2, 18). Die, so glaubte Casanova, geschorene Nonne trug bei ihrem Treffen gar keine Perücke – eine große Erleichterung für Casanova. Dieser mietete ein Casino beim Theater San Moisè, übte sogar die Abläufe für den nächsten Tag mit seinem Personal ein.
Unterdessen hatte ihm Caterina, die im Klostertratsch die Affäre geahnt, dann die beiden durch einen Spalt beobachtet hatte, einen Abschiedsbrief überbringen lassen. Wie Casanova nicht zum ersten Mal vermerkt, vergnügten sich die neu Verliebten, diesmal sieben Stunden lang. Obwohl wiederum Morosinis Geliebter, der kaum 40-jährige französische Botschafter Pierre de Bernis (1715–1794), von ihrer beglückenden sexuellen Beziehung wusste, nahm er eine freundschaftliche Beziehung zu Casanova auf, ja, er wirkte heimlich im Hintergrund mit und öffnete dem Paar sein Haus. Dabei beobachtete er aus einem versteckten Raum die erste Liebesnacht. Als sich Casanova auf weitere Affären einließ, konnte Bernis auch dabei seinen voyeuristischen Neigungen nachgehen. Morosini wiederum hatte Capretta, die unter ihrem Einfluss gleichfalls zum Freigeist wurde, ‚in die Mysterien der Sappho‘ eingeweiht (2, 21), wie sie ihm im Januar 1754 schrieb. Casanova hielt immer noch an der älteren Beziehung fest, obwohl er wusste, dass es falsch war; Caterina war seit acht Monaten im Kloster.
Bei der Gelegenheit fügt Casanova in seine Memoiren ein, dass man glaubte, der Same komme aus dem Gehirn der Männer, während die weiblichen Säfte keinen Einfluss auf die Intelligenz des Kindes hätten, das gezeugt wurde. Daraus folge, dass das Kind‚ in Bezug auf das Gehirn, das der Sitz der Vernunft sei, nicht von der Mutter abstamme, sondern vom Vater‘ (2, 21).
Beinahe wäre es zu einem Zerwürfnis gekommen, als M. M. ein Treffen Casanovas mit C. C. arrangierte. Auf der Fahrt zum Palazzo Bragadin wäre er fast ertrunken, fiel danach in ein tagelanges Fieber. Doch nach intensivem Briefwechsel, durch den Casanova erkannte, dass Morosini ohne jede Eifersucht war, versöhnten sich die drei, deren Treffen jedoch durch einen Hexenschuss verzögert wurde, den Casanova nach der beinahe tödlichen Gondelfahrt erlitten hatte. Am 4. Februar 1754 kamen Morosini und Casanova wieder zusammen.
Bernis, der Casanova ein Bildnis ihrer gemeinsamen Geliebten hatte zukommen lassen, wollte Casanova unbedingt persönlich kennen lernen. Als Nichtadliger, dem der Kontakt mit Ausländern dementsprechend nicht untersagt war, konnte er sogar formell vorgestellt werden. Als Adliger wäre er ‚unter die Bleidächer gekommen, du wärest entehrt gewesen‘, erklärte er Morosini, die gefürchtet hatte, er wäre Bragadins Sohn und damit von Adel (2, 22).
Wenig später kamen Morosini und Casanova gemeinsam mit Capretta zusammen. ‚Wie üblich hatte die Liebe die Vernunft über den Haufen geworfen.‘ (2, 23) Doch schließlich verlor Casanova seine C. C. an Bernis, der sie reich machte. Wie Casanova vermerkt, trug er selbst die Schuld daran. Doch nun starb Caterinas Mutter, infolgedessen wurde sie auch von M. M. und Bernis isoliert, konnte das Kloster nicht mehr verlassen; zudem reiste der Franzose nach Wien ab.
Drei Monate lang trafen sich Morosini und Casanova in dem Casino, das ihm Bernis überlassen hatte. Dabei traute Casanova keinem Ruderer, so dass er immer selbst die Gondel fuhr. Doch Anfang Oktober wurde ihm das Boot gestohlen, obwohl es an einer eisernen Kette vertäut war (Stricke waren beinahe ungebräuchlich geworden); Casanova gelang es, für Ersatz zu sorgen.
Casanova riskierte weiterhin sein Glück, indem er um immer höhere Summen spielte. Erst Ende 1774 mussten auf Veranlassung des Großen Rates alle privaten Glücksspielstätten geschlossen werden. Obwohl die Mehrheit der Adligen im Rat dies gar nicht wollte, hatten die drei Staatsinquisitoren und der spätere Kardinal (Ludovico) Flangini (1733–1804) um ein Wunder durch den hl. Markus gebetet,[42] wie Casanova sarkastisch anfügt. Casanova gibt als Grund seinen Geiz an, denn das Herz blutete ihm, wenn er anderes Geld ausgeben musste, als solches, das er im Spiel gewonnen hatte (2, 23).
Bald brachte er Condulmer gegen sich auf, da er es auf dieselbe Frau abgesehen zu haben schien. Deren Ehemann, Marcantonio Zorzi, ein Theaterfreund und Verfasser von Spottgedichten, unterstützte er gegen einen Rivalen. Condulmer, der auch darüber verärgert war, saß im Rat der Zehn, infolgedessen wurde er bald Staatsinquisitor. Er war Miteigentümer des Theaters Sant’Angelo, wo der besagte Rivale auftrat – sein Theater erlitt dementsprechend Verluste.
Bernis gab aus der Ferne Anweisung, sein Casino zu verkaufen, was bis Mitte Januar 1755 abgeschlossen war. Morosini erkrankte nun. Beim Besuch am 2. Februar schien sie dem Tod nahe zu sein, doch erholte sie sich gegen Ende März. Casanova nahm sich inzwischen anonym eine Wohnung auf Murano, wo ihn Tonina, die 15-jährige Tochter jener Laura bedienen sollte, die die Botendienste geleistet hatte. Sie pflegte ihn – er hatte 48 Tage nur in seinem Zimmer verbracht. Schließlich verliebte er sich, sie liebte ihn schon heimlich seit Wochen, und seine Beziehung zu Morosini kühlte weiter ab. Die folgenden 22 Tage zählte Casanova später zu den glücklichsten seines Lebens. Er dachte jedenfalls nicht mehr daran, mit Morosini zu fliehen.
Stattdessen ließ er sich auf eine Wette mit dem englischen Gesandten Murray ein, der behauptet hatte, Morosini habe sich als Prostituierte verkauft. Doch diese, so zeigte sich, war eine andere Frau, die von dem Zuhälter Capucefalo engagiert worden war, eine Nonne zu spielen. Die verbotenen Früchte seien eben besonders reizvoll, konstatiert Casanova. Capucefalo wurde später in seine Heimat Kephalonia verbannt – die zweite lautlose Verbannung durch die venezianischen Gremien, die Casanova schildert. Schrecklich fand er dabei, dass ‚kein Mensch je den Grund erfährt, so dass die furchtbarste Willkür den Unschuldigen wie den Schuldigen treffen kann‘ (2, 26). Dies ersparte ihm immerhin die Verpflichtung, den Mann selbst zu töten, da er Marina Morosini schwer beleidigt hatte.
Als der Bruder Bragadins starb, wurde sein Gönner sehr vermögend. Doch dieser, inzwischen 63 Jahre alt, hatte eine Geliebte nebst einem natürlichen Sohn, den die Mutter durch die Ehe zu legitimieren wünschte. Sie machte Casanova die Zusage, ein Landgut zu erhalten, das jedes Jahr 5000 Dukaten abwerfe. Doch Casanova, der sein Orakel, wie so oft, manipuliert hatte, schlug dies Angebot aus, zumal der Vorschlag bereits von de la Haye gemacht worden war (der ja auch schon versucht hatte, Dandolo zu verkuppeln).
Doch nun wendete sich das Glück von ihm ab. Er verspielte zunächst, nach einer langen Glücksphase, sein gesamtes Vermögen, dann auch Morosinis Diamanten. Damit war die einst geplante Entführung unmöglich geworden.
Murray, der englische Botschafter, bat Casanova, ihm Tonina zu überlassen, die er bestens versorgen wollte, vor allem mit einer Wohnung und einer beträchtlichen Leibrente. Tonina, wohl schwanger, bat Casanova, ihre Mutter Laura zu fragen, die sich freute, auf diese Art selbst versorgt zu sein.
Doch die Neugier trieb Casanova nun in die Arme von Barberina, Toninas Schwester. ‚Verderbtheit … lieben die Männer nicht, so verderbt sie auch selber sein mögen‘ (2, 26). An den Fondamenta Nuove nahm er sich eine neue Wohnung, gegenüber von Murano. Von Marina erfuhr er, dass Caterina mit einem Advokaten verheiratet werden sollte. Doch tat sie dies erst, nachdem Casanova aus den Bleikammern geflohen war. Der Arzt, der Casanova eine Wohnung besorgt hatte, hatte zwei Töchter, mit deren einer, die unter starker Blutarmut litt, weil ihr Vater glaubte, sie fortwährend zur Ader lassen zu müssen, er sich einließ, um sie auf diese Art zu „heilen“.
Um diese Zeit erhielt Casanova einen anonymen Brief, der ihn warnte, den er jedoch ignorierte. Inzwischen zog die Staatsinquisition Erkundigungen über seinen Lebenswandel ein, da er die Söhne der Familie zum Atheismus verführe. Frau Memmo wandte sich an den Onkel Bragadins, zugleich intrigierte Antonio Condulmer gegen Casanova. Condulmer hatte Casanova seine Angriffe auf Abbate Chiari – gemeint ist der Dichter Pietro Chiari (1743–1795) – nicht verziehen. Bezahlte Zeugen behaupteten, Casanova bete den Teufel an, er ‚äße alle Tage Fleisch, ginge nur an den hohen Feiertagen zur Messe und stände in dringendem Verdacht, der Freimaurerei anzugehören‘ (2, 27). Außerdem verkehre er mit fremden Gesandten; er lebe mit drei Patriziern zusammen, deren Geheimnisse er verkaufe, um seine Spielschulden zu begleichen – zumal es unverständlich sei, wie die drei frommen Männer mit einem solchen ‚Wüstling‘ zusammenleben konnten.
Erneut wurde er gewarnt, er solle ins Ausland reisen, da sich das Tribunal mit ihm befasse. Er selbst hatte kein schlechtes Gewissen, er fühle sich ohne Schuld, daher müsse er sich nicht beunruhigen. In seinen Erinnerungen konstatierte er: ‚Ich war ein Dummkopf: so konnte wohl ein freier Mensch denken, aber in Venedig gab es keine freien Menschen.‘ Die Tatsache, dass die Gräfin Bonafede wahnsinnig geworden war, legte man ebenfalls Casanova zur Last. Währenddessen verspielte Casanova noch die letzten 500 Zechinen der Morosini – doch erreichte er noch einen Aufschub, was ihr die Versorgung sicherte, denn er konnte das Geld nie bei ihr abholen.
Während er einen Besuch des Gemüsemarkts bei der Rialtobrücke unternahm – bei der Gelegenheit stellte Casanova fest, dass die Venezianer, die früher alles im Geheimen getan hätten, nun alles in der Öffentlichkeit taten, es ging darum Neid und Gerede zu erzeugen, vor allem wegen einer gelungenen Liebesnacht –, wurde unter dem Vorwand, nach geschmuggeltem Salz zu fahnden, seine Wohnung von Staatsbediensteten durchsucht.
Bragadin riet ihm dringend zur Flucht nach Florenz. Doch weigerte sich Casanova, denn dies sei wie ein Schuldgeständnis zu werten. Außerdem fürchtete er, nicht zurückkehren zu können. Selbst die unter Tränen geäußerte Bitte, im sicheren Palazzo zu bleiben, der für die Inquisitoren tabu war, schlug er aus, wofür er sich später schämte. Die beiden sollten sich nicht wiedersehen. Bragadin starb elf Jahre später.
Am Morgen des 26. Juli 1755[43] wurde er wegen ‚Schmähversen gegen die heilige Religion‘ durch den Polizeichef (Capitan Grande oder Messer Grande) Matteo Varutti in das Staatsgefängnis verbracht. Casanova, dem die Gründe für seine Verhaftung nicht mitgeteilt wurden, machte in seiner autobiographischen Novelle Il duello (1780) diesen Vorgang für sein ruheloses Leben verantwortlich.[44]
Belegt ist, dass um 1753/54 die venezianische Staatsinquisition, die nach Casanova alle Venezianer, selbst die Dogenfamilie, hasste (2, 32), auf ihn aufmerksam wurde – Doge war zu dieser Zeit Francesco Loredan. Er verschwende Geld seiner Gönner, insbesondere des Senators Bragadin, habe den strikt verbotenen Umgang mit Ausländern gepflegt – der schwerwiegendste Vorwurf – und sei 1750 in Lyon den Freimaurern beigetreten. Die Akten zu Casanovas Verhaftung gehören zu den frühesten Dokumenten, in denen die Freimaurer in Venedig erwähnt werden. Er galt den Behörden als Mann ohne Glauben, als Verderber und Betrüger, wie es in den Berichten des Giovanni Battista Manuzzi heißt, wo auch der Vorwurf erscheint, Bragadin ruiniert zu haben.[45] Aus den Akten geht hervor, dass Casanova zu fünf Jahren in den sommerlich-heißen und winterlich-kalten, bleigedeckten Zellen verurteilt wurde, die sich unter dem Dach des Dogenpalasts befinden.[46]
Er fand sich in einer niedrigen, dunklen Zelle wieder, in der er auf dem nackten Boden schlafen musste, nachdem ihm ein Hinrichtungsinstrument, eine Art Garrotte, gezeigt worden war. Er sah sich in seinem Zorn, dem größten Feind der Vernunft, ‚an der Spitze des Volkes die Regierung stürzen, die mich vergewaltigt; erbarmungslos metzelte ich alle Aristokraten nieder‘. Durch seinen Wärter Lorenzo erfuhr er, dass weitere sieben Männer gefangen waren, doch er sollte durch Einzelhaft besonders hart bestraft werden; dabei hielten ihn die Ratten und die lauten Glocken vom Schlaf ab, außerdem plagten ihn Flöhe – doch das Schlimmste war die ungeheure Hitze unter den Bleidächern.
Er las in seiner Not ein mystisches Werk (von María von Ágreda). Er litt unter so starker Auszehrung, dass er vollkommen verstopft war. Aus dieser Zeit stamme, so Casanova, sein Leiden an den ‚Hämorrhoidaladern‘, das er nie auskurieren konnte. Immerhin erhielt er von einem Arzt, der ihn wegen seines dreitägigen Fiebers behandelte, nun den ‚Boëtius‘. Anfang September hatte er sich erholt, hoffte immer noch auf Einsicht durch das Tribunal.
Erst Anfang November begann er, Fluchtpläne zu fassen. Als es zu einem Erdbeben kam, das nach seiner Meinung mit demjenigen von Lissabon in Zusammenhang stand, das jene Stadt völlig zerstörte, hoffte er, der Dogenpalast würde zusammenbrechen und er würde als freier Mann über den Markusplatz schreiten (2, 28). Ein weiterer Gefangener, ein junger Mann, dessen Freundin schwanger geworden war, und deren Vater ihn hatte einsperren lassen, wurde zu ihm gesperrt.
Casanova sann über Fluchtmöglichkeiten nach, dabei fand er neben Mobiliar in einer Kammer, Abfällen, auch Akten der Kriminalgerichtshöfe, die bis zu drei Jahrhunderte alt waren. Nachdem sein Mitgefangener verlegt worden war, befiel ihn wieder seine ‚Traurigkeit‘. Immerhin aber durfte er weiterhin seinen halbstündigen Gang absolvieren, der ihm eingeräumt worden war. Sein Bart, der nicht geschoren werden durfte, war inzwischen vier Zoll lang. Auf einem seiner Gänge konnte er sich einen metallenen Riegel sichern, aus dem er eine Art Spieß von 20 Zoll Länge anfertigte. Bragadin gelang es derweil, unter Tränen und auf Knien, von den Inquisitoren die Möglichkeit zum Erwerb von Büchern und Zeitschriften für Casanova zu erbitten.
Casanova begann, unter seinem Bett ein Loch durch die Balken zu stechen, doch wurde er zunächst durch die Einquartierung eines Juden unterbrochen. Seine Flucht war für den 27. August geplant, doch zwei Tage zuvor wurde er in eine helle Zelle verlegt, in der er immerhin stehen konnte (2, 29). Insgesamt, so Casanova, gab es im Dogenpalast 19 Gefängnisse. In einer dieser vom Wasser der Kanäle regelmäßig überschwemmten Zellen saß ein französischer Doppelspion namens Béguelin 37 Jahre lang.
Lorenzo, der Wächter, hatte Angst, er könne in den Ausbruchsversuch verwickelt werden, und so sorgte er dafür, dass Casanova Bücher mit einem Mitgefangenen austauschen konnte – und darin versteckte Nachrichten. Dieser Mitgefangene war ein Nobile namens Marino Balbi (1719–1783), Angehöriger des Somaskerordens, der drei uneheliche Kinder von drei Frauen hatte. Dieser erhielt von Casanova unter einer Bibel den Spieß zugespielt, den er zum Aufbrechen der Decke benutzte.
Erst nach fünfzehn Monaten gelang ihm mit Balbis Hilfe die Flucht aus den Bleikammern, was bis dahin als unmöglich galt. Für die Wahl des Zeitpunkts nutzte Casanova das Buch L’Orlando Furioso von Ludovico Ariosto als Orakel (Stichomantie). Es gelang den beiden Männern, durch die besagten Löcher, auf das Dach zu steigen, sich von dort über 20 m tief abzuseilen. Dann, nach dreieinhalb Stunden Erschöpfungsschlaf, ging es bei Morgengrauen weiter durch die Kanzlei. Dort zogen die beiden neue Kleider über. Als sich Casanova am Fenster zeigte, wurde man auf ihn aufmerksam. Der Wächter schloss den beiden Männern auf, und so gelang die Flucht in der Morgendämmerung des 1. November 1756.[47]
Die beiden Flüchtigen erreichten nach einer Dreiviertelstunde Mestre, dann Treviso, waren also immer noch auf venezianischem Gebiet – daher wollte Casanova auf getrennten Wegen nach Borgo Valsugana, sie legten also einen weiten Umweg ein. Casanova, den eine Ahnung ausgerechnet in das gerade verlassene Haus eines der Männer führte, die die Geflohenen suchen sollten, wurde dort gepflegt und binnen zwölf Stunden wiederhergestellt. Er begegnete zudem zufällig Marcantonio Grimani, dem Neffen des Staatsinquisitors nebst seiner Gattin Maria Visani. Er floh weiter über Feltre nach Valdobbiadene. Unterwegs schrieb er 20 Briefe nach Venedig. Schließlich reiste er weiter nach Pergine Valsugana und weiter mit Balbi nach Trient und nach Bozen.
In München, wo schon die ganze Stadt über seine Flucht sprach, traf er auf die Gräfin Coronini, die er noch vom Kloster Santa Giustina kannte. Sie verschaffte ihm vom Kurfürsten einen Geleitbrief. Balbi jedoch war als Ordensangehöriger davon ausgeschlossen. Immerhin konnte ihn Casanova über Zwischenetappen nach Darmstadt vermitteln. Eine Madame Rivière und ihre Tochter begleitete er auf deren Bitten, nachdem er drei Wochen lang seine Gesundheit wiederhergestellt hatte, nach Paris. Sie reisten am 18. Dezember ab, um ihn in Straßburg zu erwarten; er folgte wenige Tage später, nachdem er Wechsel aus Venedig erhalten hatte, zunächst nach Augsburg, wo er den kaum 40-jährigen Balbi wiedersah. Im nächsten März erhielt Casanova einen Brief, in dem es hieß, Balbi sei mit einer Magd und Diebesbeute durchgebrannt. Er starb letztlich in Rom 1783, nachdem er noch zwei Jahre in den Bleikammern zugebracht hatte. Die dichte Korrespondenz, die Casanova unterhielt, trug ihm über die meisten seiner Bekanntschaften immer wieder Nachrichten über ihr Leben zu.
Über seinen Ausbruch aus dem Verlies schrieb Casanova ein Buch, das 1787 in Leipzig in französischer Sprache erschien (Histoire de ma fuite) und das noch zu seinen Lebzeiten ins Deutsche übersetzt wurde. Damit war sein Ruf als Abenteurer für alle Zeit gefestigt, aber er konnte auch nicht nach Venedig zurückkehren.
Am 5. Januar 1757 kam Casanova mit den Rivières in Paris an, wo er von der Familie Balletti überaus herzlich aufgenommen wurde. Er war entschlossen, den wichtigsten Leuten, die seinem Fortkommen nutzen konnten, den Hof zu machen, dazu die Großen und Mächtigen kennenzulernen. In Paris wollte er sich auf Bernis stützen, der inzwischen zum Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten aufgestiegen war, einer Art Außenminister.
Am Tag seiner Ankunft wurde er mit 20 anderen gefangengesetzt, da er zufällig in der Nähe war, als ein Attentat auf den König verübt wurde (vgl. Robert François Damiens). Für Bernis verfasste er binnen acht Tagen eine Geschichte seiner Flucht, die Bernis vervielfältigen und verteilen ließ, um nützliche Personen für sich zu gewinnen. Einen Monat nach seiner Ankunft kam sein Bruder Francesco aus Dresden nach Paris, und diesmal hatte dieser mit seinem weiterentwickelten malerischen Talent Erfolg. Er wurde in die Akademie aufgenommen, und er verdiente in den nächsten 26 Jahren wohl eine Million Francs mit seinen Schlachtengemälden. Doch am Ende richteten ihn zwei Ehen und übertriebener Luxus zugrunde, wie sein Bruder Giacomo sich erinnerte.
Dieser knüpfte ein engeres Freundschaftsnetz, so etwa zu Joseph de Pâris-Duverney (1684–1770) an der Militärschule, oder zu den Brüdern Giovanni und Ranieri de’ Calzabigi, mit denen er eine öffentliche Lotterie unterstützte, die bereits in Planung war und die sich als großer Erfolg herausstellte (zwei Dekrete vom 15. August und vom 15. Oktober 1757). Er selbst ließ Plakate in der Stadt anbringen, die garantierten, dass die Gewinne binnen 24 Stunden in seinem Büro bereitstehen würden. Er erhielt 6 % der Einnahmen. Die Gesamteinnahmen der ersten Ziehung, so Casanova, lagen bei 2 Millionen Francs, die Regie gewann 600.000. Viele steckten Casanova Geld zu, um für sie zu spielen (3, 2).
Weiterhin unterhielt er Kontakte zu einer Reihe von Frauen, mit denen er sogar der Hinrichtung jenes Attentäters zuschaute, allerdings mit großem Widerwillen. Wenig später verliebte er sich genauso in eine Sylvia de la Meure, noch mehr aber in ihre Nichte. Diese war zwar versprochen, wollte sich auch fügen. Diese Frauen, so Casanova, ‚scheinen zu fühlen, dass ein Gatte kein Liebhaber zu sein braucht. In Paris herrscht diese Auffassung auch bei den Männern, und darum sind die meisten Ehen Konvenienzehen. Der Franzose ist eifersüchtig auf seine Geliebte, niemals auf seine Frau‘ (3, 3). Doch die Nichte trennte sich von Casanova, der, von Eifersucht gequält, den Zukünftigen ermorden wollte. Doch dieser nahm ihn als Freund seiner Frau herzlich auf, und so nahm er ihm den Wind aus den Segeln: ‚Die Krisis war vorüber.‘ Casanova war glücklich, kein Verbrechen begangen zu haben (3, 3).
Auf Initiative des Abbé Jean-Ignace de La Ville trat Casanova erstmals als Spion in Dienst. Bernis vermittelte dem nunmehr materiell besser Abgesicherten den Auftrag, in Dünkirchen die Garnison und die Flotte zu inspizieren (oder auszuspionieren), wofür er 500 Louis d’or erhielt. Allerdings, so wurde er am Ende belehrt, hätte er sich in diesem Auftrag unauffällig benehmen müssen – stattdessen war es zu einem Streit mit Zollbeamten gekommen. Doch nicht nur diese waren bestechlich, sondern alle Minister sorgten nur für die Bereicherung ihrer ‚Kreaturen‘: ‚Sie waren Despoten; das Volk wurde mit Füßen getreten und kam für sie nicht in Betracht; der Staat war überschuldet… Eine Revolution war notwendig, das glaube ich wohl; aber es brauchte keine blutige Revolution zu sein, es musste eine moralische und patriotische sein. Doch der Adel und die Geistlichkeit fühlten nicht hochherzig genug, um einige für den König, den Staat und sie selber notwendige Opfer zu bringen‘ (3, 4).
Trotz seiner Liebe zu Manon Balletti (1740–1776), von der immerhin 41 Briefe[48] im Gegensatz zu denen von Henriette überdauerten, suchte Casanova ‚käufliche Schönheiten‘ auf, aber auch ‚die ausgehaltenen Frauen‘ und Frauen am Theater und an der Oper (3, 5). Auch Camilla, der er schon in Fontainebleau sieben Jahre zuvor verbunden gewesen war, zog ihn an. Casanova lieh dem Liebhaber Camillas 100 Louis auf Ehrenwort, doch geriet er darüber in einen Ehrenhändel. Am Ende vertiefte dieser die große Freundschaft; Casanova heilte ihn sogar, wie er selbst konstatierte, mit Scharlatanerie.
Seine Tante wiederum war die Marquise Jeanne d’Urfé, die an Okkultem überaus interessiert war, an der Herstellung von Gold, am Stein der Weisen, einen ‚Kultus‘, den Casanova für ‚Wahnwitz‘ hielt. D’Urfé wiederum verschaffte ihm Zugang zu den einflussreichsten Kreisen der Pariser Gesellschaft. Später bedauerte er, seinen wachsenden Einfluss auf sie missbraucht zu haben, gar ihr einziger Freund geworden zu sein. Wie bereits in Italien behauptete er, jederzeit sein Genius, einen sogenannten „Elementargeist“ ‚Paralis‘ befragen zu können (3, 5). Allerdings glaubte sie ihrerseits fest, mit den Elementargeistern nur als Mann kommunizieren zu können.
Derweil verliebte sich sein inzwischen erfolgreicher Bruder Francesco in Coralina, die ihm jedoch untreu war. Empört heiratete er eine ‚Figurantin‘ der Commedia italiana. Sein Schwiegervater wiederum vermittelte ihm zahlreiche Aufträge für Gemälde.
Dem Generalrevisor der Finanzen, Jean de Boulogne, verdankte er den Auftrag, in Holland 20 Millionen französische Staatstitel in gewinnbringendere Papiere umzutauschen. Er reiste über Antwerpen und Rotterdam nach Den Haag. Auch hierbei gelang ihm die Ausführung mit erheblichen Gewinnen. Als ihm ein Jude namens Boas vorschlug, er könne neugeprägte Dukaten erwerben, die zum Goldpreis ausgegeben wurden, diese nach Frankfurt bringen und sie per Wechsel nach Amsterdam zurücktransferieren – zum vollen Münzpreis – musste er dieses Geschäft ausschlagen, da ihm die nötigen Geldmittel zu einem so gewaltigen Kauf fehlten. Man hatte ihm eine solche Transaktion offenbar zugetraut (3, 6). Dennoch erlaubten es ihm seine Einkünfte, ein verschwenderisches Leben zu führen. Er unterhielt eine prächtige Equipage und ein ebensolches Landhaus (Petite Pologne, auf dem Grund des Bahnhofs St. Lazare), das mit zwei Gärten, einem Stall für 20 Pferde und drei Appartements ausgestattet war.[49]
In Den Haag traf er erneut auf Teresa Imer. Sie war in Begleitung ihrer fünfjährigen Tochter Sophie, die Casanova verblüffend ähnlich sah. Doch war das ‚Begehren‘ zu Teresa, die zwei Jahre älter war als Casanova, erloschen. Ihr Sohn Joseph war inzwischen 13 Jahre alt. Casanova akzeptierte ihn als seinen Sohn, versprach, ihn mit nach Paris zu nehmen, denn die Familie war arm, Teresa verstoßen. Dabei kritisierte er auf das Schärfste ihre Erziehungsgrundsätze, denn sie würden die Kinder unglücklich machen. Man solle nicht die Lüge hassen, sondern die Wahrheit lieben. Wieder geriet er in einen Zweikampf mit einem unbedeutenden jungen Mann, dem Sohn des Bürgermeisters.
Er kehrte nach Amsterdam zurück, wo er sich in die 14-jährige Tochter des Herrn ‚d’O‘, Esther, verliebt hatte, eines Kaufmanns.[50] Von diesem Stand hatte er eine klare Meinung: ‚Aber dies ist der Geist des Handels. Ein Kaufmann verkauft eine Ware zum Zehnfachen des Ankaufspreises. Er rühmt sie als ausgezeichnet, obgleich er weiß, dass sie nichts taugt; aber er glaubt von Berufs wegen dieses Vorrecht zu haben, und infolgedessen ist sein Gewissen vollkommen ruhig. Die Juden, die Christen betrügen, denken genau so wie diese Kaufleute‘ (3, 7).
Durch sein Orakel fand er zwar einerseits vorgeblich die Geldbörse von Herrn ‚d’O‘ wieder, doch andererseits glaubte er, ein verschollenes Schiff, an dessen Wiederkehr niemand mehr glaubte, aufgrund einer leichtsinnigen Aussage des angeblichen Orakels kaufen zu müssen. Denn er war sicher, es werde zurückkehren. Tatsächlich trat ein, was Casanova für unmöglich gehalten hatte, das Schiff lag bei Madeira. Casanova wurde nicht nur reichlich an diesem Gewinn beteiligt, sondern auch am Fund der Geldbörse, über die er gestolpert war, und die sein Orakel entsprechend leicht hatte finden könne. Dazu kamen 100.000 Gulden in Wechseln; auch gelang ihm die Platzierung der 20 Millionen des französischen Staatsschatzes, den an der Börse in Paris angesichts der desolaten Finanzlage Frankreichs niemand gekauft hätte, mit nur geringem Abschlag. Doch: ‚Nicht die Liebe zu Manon Baletti, sondern eine dumme und lächerliche Eitelkeit, in dem prachtvollen Paris eine Rolle zu spielen, veranlasste mich, Holland zu verlassen.‘ Nach seiner Unfähigkeit, die Gefahr seiner Verhaftung in Venedig wahrhaben zu wollen, klagte er sich zum zweiten Mal einer Form der Eitelkeit, ja, Dummheit an.
In einer üblen Kneipe traf er nach 18 Jahren wieder auf die inzwischen 32-jährige Lucia von Paseano, deren ‚Unschuld‘ er geschont hatte, die sich in ihrer Not nun als Prostituierte durchschlug. Er wollte sich ihr nicht zu erkennen geben, lehnte ihre Dienste ab, drückte ihr verlegen ein paar Dukaten in die Hand.
Teresa, die wusste, dass Casanova eine halbe Million verdient hatte, brachte ihren Sohn nach Rotterdam, wo ihn sein Vater in Empfang nahm. Ihre Tochter überließ sie ihm nicht, auch nicht gegen 1000 Dukaten, denn sie wäre für die Mutter eine Art Alterssicherung. Am 10. Februar war Casanova wieder in Paris, wo er sich eine prachtvolle Wohnung nahm (3, 7).
Allerdings brachte ihm die Begegnung mit „X. C. V.“ (Giustiniana Wynne), der Geliebten des venezianischen Patriziers Andrea Memmo (1729–1793), die ihn um Rat bei der Beendigung einer ungewollten Schwangerschaft im vierten Monat bat, in Schwierigkeiten; Casanova lehnte eine Abtreibung ab, hielt sie für eine ‚Schändlichkeit‘. Die Schwangere war entschlossen, sich zu vergiften, die Sechzehnjährige wurde von der Verwandtschaft ihres Verlobten verfolgt. Casanova, der dies nur tat, weil er sie ‚anbetete‘, brachte sie in einem Kloster unter, aus dem sie nach der geheim gehaltenen Entbindung wieder auftauchte. Zuvor hatte er geglaubt, sie wolle mehr von ihm, doch sie wies ihn zurück. Dies widerstrebte ihm, doch ‚der bloße Gedanke an Vergewaltigung hat mich stets empört; denn ich denke noch heute, dass zwei Liebende in ihrer Vereinigung nur glücklich sein können, wenn sie sich in völligem Vertrauen einander hingeben.‘ Einen neuen Versuch hätte er ‚mit Verachtung von sich gewiesen‘, doch fühlte er sich gedemütigt (3, 8). Zu dieser Zeit war für ihn Esther ‚nur noch eine angenehme Erinnerung.‘ Casanova machte sich den zukünftigen Ehegatten zum Feind. Unter dem Vorwand, auf diese Art eine Abtreibung zustande zu bringen, verbrachte er sechs Nächte mit ihr. Über eine abergläubische Gönnerin Constance du Rumain (1725–1781) organisierte er einen Aufenthalt im Kloster ‚C.‘, dieser Aufenthalt wurde als Flucht vor der Ehe ausgegeben. In der Nacht vor der Flucht verbrachten sie eine Nacht ohne besagten Vorwand, die Geburt sollte im Kloster stattfinden.
Doch wieder begann das Glück Casanova zu verlassen. So unterbreitete er bei Hof einen Vorschlag zur Änderung des Erbrechts. Doch an den Einnahmen wurde er nicht beteiligt. Sein Urheberrecht wurde, da nur mündlich vorgetragen, ohne Weiteres abgewiesen, obwohl der Vorschlag zwei Jahre später umgesetzt wurde (3, 10). Sein Gönner Bernis wurde zudem zum Kardinal erhoben, fiel daraufhin beim König in Ungnade, ging später als französischer Gesandter nach Rom. Zwar lernte er durch Urfé Jean-Jacques Rousseau kennen, der zu dieser Zeit noch vom Notenschreiben lebte, doch blieb diese oberflächliche Begegnung folgenlos.
Als völliger Fehlschlag erwies sich zudem sein Projekt, französische Seidenstoffe, verziert mit chinesischen Motiven, auf den Markt zu bringen. Der Krieg hatte zur Folge, dass die Käufer sparsamer wurden. Finanziell war es ein solches Fiasko, dass er wegen Überschuldung inhaftiert wurde. Die Ursache lag, wie Casanova einräumt, in seiner Freigebigkeit gegenüber den etwa 20 weiblichen Angestellten, mit denen er wechselnde Liebschaften unterhielt. Dabei beschenkte er sie reichlich und stellte auch einmal eine möblierte Wohnung zur Verfügung. Allein für das Haus hatte er 60.000 Francs investiert (3, 10).
Die Hebamme, die Casanova wegen einer Abtreibung um Rat gefragt hatte, ohne ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, verriet ihn nun bei der Polizei. Dahinter steckte Farsetti, den die ins Kloster geflohene Frau verschmäht hatte, und der Casanova hasste und den er bespitzeln ließ. Doch die Hebamme und ihr Helfer, ein Spieler, den Casanova kannte, wurden eingesperrt. Auch die Mutter der Schwangeren, die im Kloster einen Jungen zur Welt gebracht hatte, ließ von ihrer Verfolgung Casanovas ab, nachdem ihre Tochter zurückgekehrt war. Diese ging später nach Venedig, wie Casanova, der sich immer für das weitere Leben seiner Geliebten interessierte, erfuhr, wo sie eine große, geistreiche und glückliche Dame wurde. Auch kaufte er die Hebamme frei. Selbst Antoine de Sartine, der spätere Polizeipräfekt von Paris, hatte versucht Casanova zu helfen.
Dieser schrieb an Esthers Vater, der es jedoch ablehnte, Geschäfte außerhalb Hollands zu gründen. Da Casanova Paris nicht verlassen wollte, griff auch dieser Rettungsanker nicht. Dabei zögerte er die Ehe mit Manon Balletti immer weiter hinaus – in Venedig befindet sich sogar ein eigens aufgesetzter Nachweis vom 22. März 1759, dass er unverheiratet war[51] –, ließ sich auf eine weitere Frau namens Baret ein, eine Siebzehnjährige, die er liebte, ‚wie ich nie zuvor ein Weib geliebt zu haben glaubte‘ (3, 11).
Doch nun wurde er um eine erhebliche Summe bestohlen, die er im Tausch gegen ein Drittel seiner Stoffe erworben hatte; seine Angestellten musste er infolgedessen entlassen. Man verdächtigte ihn bald, die 50.000 Francs beiseite geschafft zu haben, und er wurde verhaftet. Er erhielt zahlreichen Besuch und auch Hilfsangebote, sein Anwalt hatte ihn betrogen, aber sein Bruder ließ sich nicht blicken (er war verschuldet).
Von d’Urfés Vermögen profitierte Casanova in den Jahren 1757 bis 1763. Sie holte ihn aus dem Gefängnis For-l’Évêque. Als diese Protektion endete, war der Höhepunkt seines Lebens schlagartig überschritten. Die beiden gingen demonstrativ in den Tuilerien spazieren, um zu beweisen, dass seine Verhaftung nur ein Gerücht war. Sie glaubte gar, er wolle nur von sich reden machen. Doch Casanova, den das Prozessieren und Paris ekelten, entschloss sich nun, nach Holland zu gehen, um sich ein gesichertes Vermögen zu verschaffen, und Manon Balletti endlich zu heiraten.[52] Auch zog er zum letzten Mal Erträge aus seiner Lotterie ein, eine Aktivität, die er ‚lächerlich‘ fand. So konnte er insgesamt ein Vermögen von 200.000 Francs mit sich führen, als er am 1. Dezember 1759 Paris verließ.
Casanova selbst meint in seinen Memoiren, er habe kein Ziel verfolgt, sondern er habe sich dahin treiben lassen, wohin ihn der Wind wehte. Ab 1760 nannte sich Casanova auch Chevalier de Seingalt, ein Name, den er bis an sein Lebensende immer wieder benutzte. Außerdem erhielt er die französische Staatsbürgerschaft.
Im Oktober 1759 (nach Mangini) reiste Casanova nach Holland, suchte Esther auf. Auch Lucia, inzwischen 33 Jahre alt, die inzwischen als Kupplerin ihren Lebensunterhalt bestritt, traf er wieder. Für sie arbeiteten zwei junge Frauen aus dem Paduanischen, mit denen Casanova und sein holländischer Freund eine Stunde verbrachten, was Casanova im Nachhinein bedauerte. Er ließ sich auf schlechte Gesellschaft ein, wurde bedroht, konnte durch ein Orakel Herrn d’O von einem riskanten Geschäft mit einem französischen Hochstapler namens St.-Germain abhalten.
Dann erhielt er Ende Dezember von Manon Balletti einen Brief, in dem sie ihm mitteilte, sie werde heiraten (nämlich den Architekten Jacques-François Blondel), was seine Eitelkeit, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, verletzte, weniger seine Liebe, wie er sich eingeredet hatte. Ihre etwa 200 Briefe – von denen 40 erhalten blieben[53] – überließ er Esther, die sie mit Vergnügen las, und deren Gesellschaft, nach seinen Worten, ihm das Leben rettete (3, 12). Er bemühte sich, ihren unerschütterlichen Glauben an die Gewissheiten seiner Orakel zu widerlegen, an die er selbst keineswegs glaubte. Doch sie hatte den Plan, mit derlei Kenntnissen zu glänzen, selbst dann, wenn sie nur eine Verbindung von Täuschung und Wissen sein sollten. Dazu bräuchten sie auch nicht zu heiraten. 1760 wollte Casanova nach Deutschland reisen, versprach Ende des Jahres wieder in Holland zu sein. Doch unvorhersehbare Ereignisse verhinderten, dass er Esther jemals wiedersah. Er verfügte inzwischen über etwa 100.000 holländische Gulden.
Ohne sich erkennbar um den Kriegsverlauf zu kümmern, reiste Casanova ins Rheinland; allerdings wich er den Haupttruppenbewegungen dabei aus. Doch vor Köln, wo französische Einheiten im Winterquartier lagen, musste er vor Räubern fliehen. Er hätte ‚es machen sollen wie die Engländer, die stets eine leichte Börse für die Straßenräuber bereithalten‘.
Er wurde zum Ball des Kurfürsten, der auch Venezianisch sprach, in Bonn eingeladen, nachdem er die Frau des Kölner Bürgermeisters Franz Jakob Gabriel de Groote (1721–1792), Maria Ursula Columba (1734–1768), kennen gelernt hatte.[54] Dort musste er die Geschichte seiner Flucht erzählen, und, da diesen Tanz fast keiner beherrschte, Furlana tanzen, während alle als Bauern verkleidet waren.
In Brühl lud er zu einem dreistündigen Frühstück für 200 Dukaten ein, das um 1 Uhr begann. Wenige Tage später vergnügten sich die beiden sieben Stunden lang, wie Casanova vermerkt, nachdem er sich in einem Beichtstuhl versteckt und alle Heiligen angerufen hatte. Mitte März verließ er nach zweieinhalb Monaten Köln, versprach auch ihr wiederzukommen, was aber auch diesmal nicht gelang.
Casanova reiste über Koblenz nach Stuttgart, wo Gardella, Tochter eines venezianischen Barcarole, die Maitresse des Fürsten Karl Eugen war.[55] ‚Die Subsidien, welche der König von Frankreich dumm genug war ihm ohne Nutzen zu zahlen, reichten für seine Verschwendung nicht aus, und er überlud daher sein geduldiges Volk mit Steuern und Fronden.‘ Casanova kannte Gardella noch aus München – allerdings als Frau Michele Agata. Isabella Toscani, eine Schauspielerin, behauptete, ihre Tochter Luisa[56] würde die Gardella in ihrer Rolle als erste Maitresse ablösen. Auch auf sie ließ sich Casanova in Koblenz für einige Stunden ein (3, 13). ‚Der Hof des Herzogs von Württemberg war zu jener Zeit der glänzendste von ganz Europa‘ (3, 14) – was er von Dresden allerdings gleichfalls behauptete. Karl Eugen ‚war von der närrischen Sucht besessen, nach dem Vorbilde des Königs von Preußen herrschen zu wollen, während dieser sich über den Herzog nur lustig machte und ihn seinen Affen nannte. Er hatte die Tochter des Markgrafen von Bayreuth geheiratet, die schönste und liebenswürdigste deutsche Prinzessin. Sie … hatte sich wegen eines blutigen Schimpfes, den ihr unwürdiger Gemahl ihr angetan hatte, zu ihrem Vater geflüchtet. Es ist nicht richtig, wenn man behauptet, die Fürstin habe ihren Gemahl verlassen, weil sie seine Treulosigkeiten nicht mehr habe ertragen können.‘
Der Fürst wurde der Gardella bald überdrüssig, daher entließ er sie mit einer Pension, die sie sich dadurch erhielt, dass sie seine Schauspielerinnen „beriet“. Die Theateraufführungen waren gratis. Casanova traf Gardella in der Oper, dann (Anna) Binetti (ihren Vornamen nennt Casanova nie), aber auch den Violinspieler ‚Curtz‘ (Andreas Georg Johann Maria Kurz, 1718 – nach 1774), den er noch von seiner Zeit als Violinspieler in San Samuele kannte, und dessen Tochter Katharina Kurz, die eine Zeit lang ebenfalls Maitresse des Fürsten wurde und ihm zwei Kinder schenkte.[57]
Zu seinem Unglück ließ er sich wieder zum Glücksspiel verlocken, bei dem er, betrunken, 100.000 Francs verlor. Die drei Offiziere, die ihn hereingelegt hatten, forderten ihr Geld, ließen ihn verhaften. Am 2. April, Casanovas 35. Geburtstag, gelang ihm die Flucht über die Stadtmauer. Erst in Tübingen fühlte er sich sicher. Er forderte die Offiziere zum Duell, doch die erschienen nicht. In diesen drei Tagen vergnügte er sich mit den beiden Töchtern des Wirtes.
Dann floh er über Schaffhausen nach Zürich. Wieder musste er seine eigene Schuld am Unglück erkennen. Immerhin besaß er noch 300.000 Francs. Anfang April 1760 fand er durch Zufall auf einem Spaziergang das Kloster Einsiedeln, wo man ihm den Fußabdruck Jesu zeigte (was er für ein ‚Ammenmärchen‘ hielt) – ‚Ich verstand sehr wenig deutsch und kein Wort von der Schweizer Mundart, die mir sehr schwer verständlich zu sein scheint und in der deutschen Sprache etwa die Stellung einnehmen dürfte, wie die genuesische Mundart in der italienischen‘ (3, 14) –, und wo ihn die Idee der Weltentsagung einige Zeit reizte, bis er am 23. April wieder auf eine anziehende ‚Amazone‘ stieß, diesmal aus Solothurn.[58]
In Zürich vergnügte er sich zwar ebenfalls mit einer Frau, doch verstand er ihre Sprache nicht: ‚Ich habe stets gefunden, dass ohne das Vergnügen der Sprache das Vergnügen der Liebe diesen Namen nicht verdient‘ (3, 16). In Baden musste er einen Louis bezahlen, weil er an einem Feiertag getanzt hatte.
In Solothurn speiste er, vermittelt durch ein Empfehlungsschreiben von d’Urfé, mit dem französischen Botschafter Chavigny, den er noch aus Venedig kannte. In Gegenwart seiner ‚Amazone‘ – er hatte sie durch Zufall zu Gesicht bekommen –, Frau ‚***‘ (Maria Anna Ludovica von Roll, 24 Jahre alt[59]), nahm er, ebenso wie diese, an einer spontanen Theateraufführung teil. Darin erklärte er ihr so glaubhaft seine Liebe, dass die 400 Zuschauer ‚bis, bis‘ riefen, um eine Wiederholung zu erwirken. Chavigny, ein alter, erfahrener Liebhaber, fädelte es so ein, dass Casanova mit seiner ‚Amazone‘ allein in einer anderen Kutsche fuhr, während ihr Mann sein Fuhrwerk bestieg. Die ‚unnatürliche‘ Errötung nach der Kutschfahrt kaschierte Casanova mit ein wenig zu viel Nieswurz, wodurch beide eine Viertelstunde lang niesen mussten. Der Botschafter beschaffte Casanova ein Landhaus unter dem Vorwand, der Arzt Herrenschwand (wohl Johann Friedrich von Herrenschwand, dessen Bruder Anton Gabriel Casanova aus Paris kannte) habe ihm Landluft zur Genesung von einer Krankheit verordnet. Die Freundschaft des Ehemanns jener Frau, seiner ‚Fee‘, seiner ‚Zauberin‘, erlangte er, indem er sich in Paris, bei d’Urfé, für den Neffen ihres Mannes verwandte, der wegen eines Duells aus Frankreich hatte fliehen müssen. Herr von Roll vermietete ihm für sechs Monate ein großes Landhaus an der Aare für 100 Louis, Casanova reiste in einer vierspännigen Berline (3, 16–17).
Doch eine in Casanovas Augen hässliche Frau, eine ‚Hexe‘, ein ‚scheußliches Ungeheuer‘, Frau ‚F.‘, rächte sich für seine Verachtung, indem sie dafür sorgte, dass er sie im Dunkel der Nacht mit seiner ‚Fee‘ verwechselte. Wie sie ihm darüber hinaus brieflich mitteilte, hatte sie ihn mit einer Krankheit angesteckt, die er sicherlich nicht weitergeben wolle; sie würde auch nicht zögern, Frau ‚***‘ zu entehren, wenn er sie nicht in Ruhe lasse (3, 17). Casanova, dessen Hausangestellte, die geistreiche Lyonerin ‚Dubois‘, hatte sich in ihn verliebt, und heimlich den Brief gelesen. Sie machten gemeinsam die Witwe glauben, sie habe die zwei Stunden nicht mit Casanova, sondern mit seinem Bediensteten Leduc verbracht, der sich die besagte Krankheit an anderer Stelle eingehandelt hatte. Schließlich erkannte Frau ‚***‘, dass Casanova ihr Ansehen in der Öffentlichkeit geschützt hatte, dass er sich aber in seine Haushälterin verliebt habe, von der auch sie glaubte, sie sei ‚sehr hübsch, klug wie ein Engel; lustig, talentvoll, außerordentlich wohl erzogen und weise im Sprechen‘, dies sei ‚mehr als genug, um einen Mann zu bezaubern‘ (3, 18). So kündigte Casanova einsichtig an, er werde mit Dubois, die John Locke verehrte, nach Bern gehen. Da er noch krank war, befriedigte er sie auf andere Weise, zum einzigen und letzten Mal. Er sollte sie erst nach zehn Jahren wiedersehen.
Mit seiner ‚lieben Dubois‘, die nicht nur seine Achtung, sondern seine ‚Ehrfurcht‘ gewann, reiste er ab, die beiden wurden nach seiner Genesung, die binnen acht Tagen eintrat, in Bern ein Paar. Sie ‚war zu jung, zu schön und vor allen Dingen zu liebenswürdig; sie hatte einen zu angenehmen Geist, als daß nicht alle diese in ihr vereinten Eigenschaften auf mich wirken sollten; ich mußte mich notwendigerweise wahnsinnig in sie verlieben.‘ Doch ihre Liebe wich ‚der allzu friedfertigen Freundschaft‘. In einer Art Spiel hatten sie sich mit Sarah eingelassen, eine 13-Jährige, die Dubois als ihre Frau beanspruchte, ausgestattet mit einer fingergroßen Klitoris, wie Casanova schildert. Nachdem Casanova Bern verlassen hatte, Dubois zu ihrer Mutter nach Lausanne gegangen war, suchte er die Dienste einer ‚Raton‘, die jedoch krank war, weswegen er sie fortschickte. Für Dubois sorgte er vor, indem er, von seiner eigenen Untreue wissend, zuließ, dass sie einen anderen heiratete. Er selbst setzte den Brief auf und sie unterschrieb, obwohl sie von Casanova schwanger war.
In Roche traf er auf Empfehlung des Berner Richters Bernard de Muralt, mit ‚dem berühmten‘ Albrecht von Haller zusammen, dem Mediziner und Universalgelehrten, der ‚ein großer Physiologe, ein großer Arzt und ein großer Anatom‘ war. In ‚der Wissenschaft der Botanik nahm Haller den größten Rang ein‘ (3, 20). Doch hielt er sich aus religiösen Fragen heraus. Casanova besaß im Alter noch 22 Briefe des Gelehrten.
Casanova reiste nach der besagten Trennung weiter und disputierte mit einem calvinistischen Priester aus Genf. Am 20. August 1760 kam er an. Es war dasselbe Zimmer, in dem er und Henriette sich vor 13 Jahren getrennt hatten. Er stellte von sich fest, er habe nicht mehr das ‚Zartgefühl, das ich damals besaß, nicht die Gefühle, die die Verirrungen der Sinne entschuldbar machen, nicht mehr die Sanftmut des Charakters und endlich nicht mehr eine gewisse Redlichkeit, die sogar die Schwächen adelt‘ (3, 21). Vor allem erschrak er über die Minderung seiner Kräfte. Von seinem Bankier Tronchin erhielt er einen Kreditbrief auf Marseille, Genua, Florenz und Rom, an Bargeld führte er nur noch 12.000 Francs mit sich.
Als bedeutendste Begegnung galt allerdings die mit Voltaire in Ferney (5. bis 8. Juli 1760). Die Begegnung war wohl eher eine Demütigung (3, 21). Casanova verfasste 1769 (La confutazione) und 1779 (Scrutinio del libro Eloges de M. de Voltaire) zwei Schriften gegen den Philosophen. Immerhin gab er ihm, während doch überwiegend und hitzig der Wert zahlreicher Gelehrter abgewägt wurde, insofern Recht, als jede Sprache ‚rein geschrieben werden‘ müsse, also ohne Einsprengsel anderer Sprachen; eben weil ‚ein mit Italienisch oder Deutsch gespicktes Französisch unerträglich‘ sei. Casanovas Lieblingsdichter war Ariosto, den Voltaire in jungen Jahren kritisiert habe, während er ihn nun verehre. Die Franzosen seien die besten Deklamatoren, sie ‚haben weder den leidenschaftlichen und einförmigen Ton meiner Landsleute, noch den sentimentalen und übertriebenen der Deutschen, noch die ermüdende Manieriertheit der Engländer. Sie sprechen jeden Satz in dem Ton, mit dem Klang der Stimme, die am besten der Natur des auszudrückenden Gefühls entsprechen; aber durch die gezwungene Wiederholung derselben Klänge gehen ihnen diese Vorzüge zum Teil wieder verloren‘.
Voltaire war von der Vortragskunst Casanovas sehr angetan, da er echte Tränen vergoss. Doch plötzlich empfand er Casanovas Besuch bei ihm als Beleidigung, weil er nicht mindestens eine Woche bei ihm bleiben wollte. Seine Einladung, drei Tage zu bleiben, nahm er an. In seiner Abneigung gegen historische Werke lehnte Casanova auch Muratori ab, seine unermessliche Gelehrsamkeit, wie Voltaire sie schätzte, sei gerade sein Fehler. Er hielt Voltaire, der Abschriften von 50.000 seiner eigenen Briefe mit sich trug, für ruhmsüchtig.
Casanova zog es vor, nacheinander drei junge Frauen zu genießen, die ihm sein Syndikus vorstellte, wobei er ‚englische Überzieher‘ (frühe Kondome) für ‚demütigend‘ hielt und behauptete, seine Goldenen Kugeln würden genügen.
Voltaire unterstellte er, er habe sein Gedicht von Theophilo Folengo nicht verstanden, und habe dieses deshalb nicht zu schätzen gewusst. Die Nichte Voltaires, Marie Louise Mignot, genannt Madame Denis, wusste Casanova, im Gegensatz zu Voltaire, sehr zu schätzen. Während Voltaire Albergati sehr schätzte, hielt ihn Casanova für eine ‚Null‘, ansonsten sei er ein braver Edelmann und ein Theaternarr und guter Schauspieler.[60] Goldoni hingegen ‚der italienische Molière‘, sei nur ein guter Lustspieldichter, mehr nicht; er kenne ihn und er habe einen sanften Charakter.[61]
Die Begegnung mit Voltaire hätte ein gutes Ende genommen, wären sie nicht in Streit über die Bedeutung des Aberglaubens geraten, den Voltaire vernichten wollte. Casanova hingegen hielt ihn für notwendig, denn ohne ihn würde das Volk philosophisch und Philosophen würdem dem Monarchen niemals gehorchen – für Casanova in seiner Aufsteigerrolle als Quasi-Adliger eine unbedingte Voraussetzung für das Fortbestehen seines Status.[62] Auch glaubte er, um frei zu sein, genüge es, sich für frei zu halten. Casanova glaubte, Voltaire habe ein weltfremdes Bild von der Menschheit, die Liebe zu dieser mache ihn blind für ihre negativen Eigenschaften.
Zurück blieb eine ‚verdrießliche Stimmung‘, die Casanvoa nach eigener Aussage dazu veranlasste, zehn Jahre lang alles zu kritisieren, was Voltaire veröffentlichte. Er notierte ausdrücklich jedes Wort ihres Gespräches. Erst im Alter erkannte er das Genie Voltaires.[63]
Über Annecy reiste Casanova nach Aix-les-Bains, wo er auf ‚Brunnengäste‘ traf, die jedoch alle gewerbsmäßige Spieler waren (3, 21). Dort traf er auch „M. M.“ wieder, wie er glaubte. Doch war sie eine 21-jährige Schwangere, die gezwungen war, im Kloster zu leben. Casanova, der glaubte, die Frau sei geschaffen, um ‚eine gute Familienmutter zu sein, und die die Grausamkeit ihrer Erzeuger dazu verdammt hatte, nur eine nutzlose Nonne zu sein‘, versprach ihr, sie nach Italien zu bringen. Er war selbst überrascht, dass sein Altruismus nicht eines erotischen Antriebes bedurft hatte. Doch bald verliebte er sich in die Frau, ohne eine der Spielerinnen namens Zeroli zu verschmähen, mit der er vier Stunden verbrachte – wie er fast immer die Dauer ihrer gemeinsamen Beschäftigung vermerkte. Derweil hatte das Schlafmittel, das die Nonne ihrer Aufpasserin gegeben hatte, damit sie die Geburtswehen nicht mitbekam, tödliche Folgen für die alte Nonne.
Am nächsten Tag kam ein Junge zur Welt, der von der Mutter getrennt, nach Annecy am Findelhaus auf einer Drehscheibe abgelegt wurde. Bei der Nonne stellte sich heraus, dass sie nicht nur aussah wie jene „M. M.“, sondern sogar den gleichen Namen trug. Die beiden verbrachten, nach Überwindung ihrer religiösen Bedenken und ihrer eher töchterlichen Gefühle, eine Nacht. Die Zeroli reiste ab und drohte Casanova in einem Brief, sich zu rächen, wenn er nach Turin reisen würde. In der zweiten Nacht benutzte Casanova ein ‚Futteral‘. Wieder vermerkt Casanova die Zahl der Stunden, nämlich zwölf. Die Nonne entschied sich, dennoch ins Kloster zurückzukehren. Den Nachstellungen der Geliebten des Marquis von Prié entzog er sich durch Abreise nach Grenoble, zumal die Spieler gedachten, seine Kassette zu plündern (4, 1–2).
Wieder durch ein Empfehlungsschreiben von d’Urfé an einen Offizier namens Valenglard wurde ihm ein Landhaus vermittelt, dessen Hausmeister ihn bekochte. Als Venezianer habe er Talglichter abgelehnt und nur Wachskerzen geduldet. Seine Pariser Protektorin hatte ihn unter dem Namen „Seingalt“ angekündigt, und auf diesen Namen lauteten fortan auch seine Wechsel. Er habe ‚stets Furcht vor dem Sparen‘ gehabt (4, 3). Wie immer verließ sein Bediensteter Leduc – ihn hatte er in Solothurn engagiert – das Haus, da ‚reizende Mädchen‘ anwesend waren, nämlich die Töchter des Hausmeisters, Rose und Manon, und dann und wann ihre Base. Casanova fühlte sich auf dem Höhepunkt seines Lebens, zumal er noch ein tugendhaftes, 17-jähriges ‚Fräulein Roman‘ im Auge hatte, das sich als entfernte Verwandte jener „M. M.“ herausstellte. Diese bat jedoch, sie nicht zugrunde zu richten. Wie in Holland wollte er das Mittel der Prophezeiung wählen, vermittels der Astrologie, um die Frauen für sich einzunehmen. Die Roman versuchte er so dazu zu bewegen, nach Paris zu gehen, um Geliebte des Königs zu werden. Doch sie wies Casanova immer wieder ab, ihre Bedingung war die Ehe; er vergnügte sich ersatzweise mit Manon. Bei einer Kutschfahrt kam er zum Ziel, doch war dies für ihn wenig bedeutend, denn er hatte dabei ihr Gesicht nicht gesehen. Als ein russischer Abenteurer ihn um Geld bat, erkannte er sehr wohl, dass er selbst bloß einer war. Valenglard bat ihn um Korrespondenz, was Casanova die Gelegenheit gab, über Roman in Kenntnis zu bleiben. Die letzte Nacht verbrachte er mit den anderen drei Mädchen – fünf Stunden.
Per Schiff fuhr Casanova am nächsten Tag nach Avignon, dort wollte er die Quelle von Vaucluse besichtigen, wo er eine bewegte Hommage an Francesco Petrarca verfasste. Eine falsche Pariser Schauspielerin versuchte ihn zu täuschen. Sie waren in Begleitung einer sehr schönen, jedoch traurigen Frau. Auch traf er Marchese Grimaldi aus Genua, der immer im – in seinen Augen – freieren Venedig lebte. Er hatte kurz zuvor gleichfalls vergebens sein Glück bei der Traurigen versucht. Gegen einen weiteren Mann musste sie sich zur Wehr setzen, ihr Mann brachte sie aufs Zimmer. Casanova ließ sich aus Neugierde auf die falsche Schauspielerin und eine bucklige Riesin ein, ein Vorgang, den er breit schildert. Als die besagte Schöne sich gegen 25 Louis durch ihren Mann anbietet, lehnt Casanova dies ab: ‚wenn Sie sich einmal für Geld preisgeben, so sind Sie ebensogut eine Verlorene, wenn Sie hundert Millionen, wie wenn Sie fünfundzwanzig Louis erhalten‘, da sie nicht das gleiche Gefühl mit dem Mann teile. Sie und ihr angeblicher Mann reisten nach Lyon ab – sie sollten sich in Lüttich wiedersehen. Kurz danach betätigte er sich als Voyeur bei einem jungen Paar.
Von dort ging es weiter nach Marseille (dort gab es für ihn den besten Fisch der Welt), wo sich ihm ein Gaetano Costa aus Parma empfahl, den er als eine Art Diener anstellte. Dort empfand er offenbar Heimweh, nannte aber zugleich eine Reihe von Klischees: ‚Das bunte Gemisch aller Trachten: der ernste Türke neben dem lebhaften Andalusier, der französische Stutzer, der stumpfsinnige Afrikaner, der schlaue Grieche, der schwerfällige Holländer – dies alles erinnerte mich an meine Heimat, und ich fühlte mich glücklich‘ (4, 4).
In Marseille, wo die Huren im Amphitheater Eintritt zahlen mussten, kam es zu einem Massenauflauf, als eine Mutter ihre Tochter aus dem Haus warf – dabei musste sich Casanova in eine Kirche flüchten: ‚Ich bin, glaube ich, niemals in größerer Lebensgefahr gewesen als an diesem Tage‘, vermerkte er (4, 5). Er brachte die 15-jährige Rosalie in einem Dachbodenzimmer unter. Bei ihr erwähnte er ausdrücklich, dass er auf Jungfräulichkeit ‚gar keinen Wert lege‘. Mit seinem erfahrenen Blick – wieder einmal verliebt – wusste er ihre Maße so genau, dass er sie ohne ihr Beisein mit Kleidern ausstatten konnte. Er zeichnete in seinen Memoiren sogar ein Bild von ihr. Er freute sich an ihrer Einfachheit, auch darüber, dass sie schreiben konnte – und er notierte: sieben Stunden. Er beschloss, sie nach Genua mitzunehmen (zusammen mit Costa und Leduc) und sie zu ‚erziehen‘, denn sie sollte ‚glänzen‘.
Zunächst aber fuhren sie nach Toulon (nicht Toulouse), dann nach Antibes, weiter ging es nach Nizza (‚der Sitz der Langeweile, und die Mücken sind dort eine fürchterliche Plage für die Fremden‘). Casanova hoffte inzwischen, dass er ‚zufrieden mit ihr leben und nicht mehr das Bedürfnis empfinden würde, von einer Schönen zur anderen zu eilen‘ (4, 5). Doch das Schicksal habe anders entschieden.
In Genua, wo er sich bei Grimaldi per Karte anmeldete, war er bis dahin nie gewesen. Die dortigen Champignons waren seiner Ansicht nach die besten der Welt. Grimaldi erkannte in Rosalie die Marseillerin, da sie mit dem ‚R schnarrte‘. Der Venezianer suchte ihr eine Kammerjungfer namens Veronika aus, von der Casanova sogleich bemerkte, dass sie wohl eher für ihn bestimmt wäre. Um Rosalie nicht unglücklich zu machen, hielt er sich von Veronika fern. Grimani hielt er für ungefährlich, da er bereits über 60 Jahre zählte.
Casanova übersetzte nun die Schottin von Voltaire, übte mit den Schauspielern die Rollen ein und verteilte diese – den Brief an Voltaire mit der entsprechenden Mitteilung beantwortete jener noch nicht einmal, was ihm Casanova zum ‚Todfeind‘ machte. Zwar hielt Casanova sein Verhalten für einen großen Fehler, doch Voltaire habe den Fehler gemacht, gegen die Religion aufzutreten, ohne zu erkennen, dass ‚die Religion für die Moral der Völker notwendig ist und dass das Glück der Nationen von der Moral der Völker abhängt‘ (4, 6).
Wieder traf er auf den Betrüger Carlo Iwanoff, doch ließ er ihn wortlos stehen. Veronika übernahm eine der Rollen, da Rosalies Italienisch noch unzureichend war. Diese erkannte, dass Casanova in Veronika verliebt war, der dies hatte vermeiden wollen. Doch Rosalie war schwanger und er verletzte sie durch Mutmaßungen, ob das Kind sicher von ihm sei. Grimani, dessen Patenkind ein Petri, Sohn eines Kaufmanns war, wusste inzwischen, dass Rosalie kurz vor der Zeit mit Casanova mit diesem etwa 24-jährigen Kaufmannsneffen zusammen gewesen war. Ohne Vorankündigung lud er Petri, der Rosalie hatte heiraten wollen, und das Paar zum Essen: Casanova war entsetzt, wütend, doch fehlte ihm der Mut, den Säbel zu ziehen. ‚Niemals habe ich bei Tisch eine so entsetzliche Stunde verbracht, wie bei diesem bösen Diner.‘ Der Marchese entschuldigte sich am nächsten Abend für diesen Auftritt. Rosalie sagte zu, den Vater ihres Kindes heiraten zu wollen; sie selbst zog sich in ein Kloster zurück (4, 6).
Inzwischen war für Casanova die Liebe explizit nichts anderes als Neugier, und so konnte er sich unentwegt verlieben. Dementsprechend erlosch seine Liebe, wenn die Neugier befriedigt war. Daher passte es, dass ihn nicht nur Veronika neugierig machte, sondern auch ihre albino-artig blasse, kurzsichtige, 14-jährige Schwester Annina (möglicherweise litt sie unter dem Hermansky-Pudlak-Syndrom). Als er bei Veronika zudringlich wurde, wies sie ihn brüsk zurück. Sie schrieb, sie glaube ihm, dass ‚Sie aufrichtig bereuen, mich gedemütigt zu haben‘, sie litt aber, wie häufiger, unter Kopfschmerzen. Zwei Stunden vergnügte sich Casanova, wie er vermerkt, nun mit der jüngeren Schwester. Rosalie wünschte er nunmehr als ‚Frau Petri‘ wiederzusehen.
Veronika ließ ihm einen Brief zukommen. Sie forderte eine Mitgift, eventuelle Kinder sollten bei ihr bleiben, er müsse sie binnen eines Jahres heiraten – den Vertrag dazu sollte Grimani abzeichnen. Casanova lehnte dies ab, machte sich auch nichts mehr aus ihr, zumal seine Vermögenssituation nicht so stabil war, wie man hätte meinen können. Seinen Niedergang kündigte er an: ‚Ich will mich glücklich schätzen, wenn meine Irrtümer oder vielmehr meine Torheiten meinen Lesern zur Warnung dienen.‘ Abends sah Veronika ein, dass ihr Plan ‚lächerlich‘ war. Zur Strafe musste sie den beiden zusehen, während Annika diese Rolle in der nächsten Nacht übernehmen sollte. Dann schaute Casanova den Schwestern zu. Am nächsten Abend war er bei Veronika zum ersten Mal in seinem Leben ohne Potenz: ‚Sie war hingebend, liebevoll und zärtlich, ich aber sah mich gezwungen, sie unbefriedigt zu lassen und ihr damit den größten Schimpf zuzufügen, den man in einem solchen Falle einer Frau antun kann! Der Leser wird sich meine Verzweiflung daher wohl vorstellen können.‘ ‚Meine Verzweiflung kam der ihrigen gleich, als ich sie entmutigt, erniedrigt, ermüdet und vor Beschämung weinend ihr Unterfangen aufgeben sah.‘ Er fühlte am nächsten Tag eine Verachtung, die er nicht mehr versuchte in Achtung umzuwandeln. Zum Abschied beschenkte er beide Schwestern (4, 7).
Nun reiste Casanova ab, fuhr über Lerici nach Livorno, wo er einem in seinen Augen unfähigen Dichter und Maler begegnete, den er jedoch unterstützte, da er gegen Abbate Chiari wetterte – obwohl er einräumte, dass dieser ein guter Dichter wäre. Er gab ihm sogar ein Empfehlungsschreiben nach Bern an Sarahs Vater mit.
Am nächsten Tag reiste Casanova nach Pisa, wo er die seinerzeit berühmte Sängerin Corilla traf, die eigentlich Morelli hieß und aus Pistoia stammte.[64] Nach zwei Tagen reiste er weiter nach Florenz. Er räumte ein, dass er in die Oper ging, ‚mehr um die Künstlerinnen zu beäugeln als die Musik zu hören, von der ich niemals ein begeisterter Freund war‘ (4, 8).
Völlig unvorbereitet traf er dort Teresa wieder, die er Anfang 1744 in Rimini verlassen hatte. Ihr letzter Brief, den er nicht beantwortet hatte, lag 13 Jahre zurück. Sie verabredeten sich, doch traf Casanova durch einen Zufall auf ihren Ehemann. Beim gemeinsamen Frühstück nutzten die beiden die halbstündige Abwesenheit des Ehemanns, der eine Schokolade versprochen hatte, ihre ‚Liebesglut wenigstens zum Teil‘ zu stillen. Teresa war 32, gab sich jedoch als 24-Jährige aus; ihr Mann war 22. Schließlich trat sein Sohn auf, Cesare Filippo Lanti, inzwischen 15, 16 Jahre alt, und Casanova zum Verwechseln ähnlich. Er war nach seiner Geburt einer Amme in Sorrent übergeben worden, wo er seine ersten neun Jahre verbracht hatte. Von seiner Mutter wurde er im Glauben gehalten, sie sei seine ältere Schwester. ‚Dieser Tag gehört zu den glücklichsten meines Lebens, und ich zähle deren viele‘ (4, 8).
Doch blieb dies nicht lange so. Als er wieder einmal versuchte, ein Mädchen zu besuchen, das Redegonda hieß, empfing sie ihn im Kreis ihrer Familie. Die Mutter, obwohl arm, beharrte darauf, die beiden niemals allein zu lassen, so dass Casanova unverrichteter Dinge gehen musste: ‚Ich schämte mich; denn nichts beschämt einen Wüstling so, wie die Sprache der Scham im Munde der Armut‘. Andererseits wurde ihm noch immer nicht bewusst, dass er begonnen hatte, sich Vergünstigungen zu erkaufen. Teresa machte sich derweil zu seiner Komplizin, um die junge Redegonda zu verführen. Doch scheiterte dies weiterhin an Redegondas Mutter, ebenso wie ein Versuch, ein anderes Mädchen zu verführen zunächst an dessen Mutter scheiterte. Diesem Mädchen wollte Casanova eine bestimmte Rolle in der Oper zuschanzen, wogegen sich jedoch der jüdische Theaterleiter wehrte. Casanova ließ ihn zusammenschlagen, weil er sich dadurch entehrt zu fühlen behauptete. Immerhin sagte ihm ein portugiesischer Diplomat und Spion zu, ihm einen Auftrag als Gesandter zu verschaffen, den er bereitwillig angenommen hätte.
In Florenz fiel er jedoch im Dezember 1760 einer Intrige jenes Abenteurers Carlo Ivanoff zum Opfer, denn er wurde für einen gefälschten Wechsel verantwortlich gemacht. So musste er als Fremder binnen drei Tagen Florenz, binnen fünf die Toskana verlassen.[65] Teresa musste er ebenso aufgeben, wie die Besuche bei der jungen (Marianna) Corticelli, jener Tänzerin.
36 Stunden nach seiner Abreise war Casanova in Rom (4, 9). Dort wurde durch die Zollbehörden sein Gepäck nach verbotenen Büchern durchsucht, doch ließ man ihn mit etwa 30 solcher Werke, die er mit sich führte, passieren.
In Rom traf er nach zehn Jahren wieder auf seinen Bruder Giovanni Battista, der wie Francesco Maler war. Dort lernte er auch dessen Lehrmeister Raphael Mengs kennen, sowie den Archäologen Johann Joachim Winckelmann.
Doch gleich am ersten Tag bei seinem Wirt hatte er sich in dessen 16-jährige Tochter Teresa verliebt, was sein Bruder eine bloße ‚Liebelei‘ nannte. Er suchte die Menschen, die er von seinem letzten Aufenthalt kannte, doch manche waren bereits gestorben, andere erkannten ihn kaum wieder, wieder andere hatten die Stadt verlassen.
Winckelmann lernte er durch einen Disput über den Unterschied zwischen ‚Es ist Casanovas Bruder‘ und es ‚sei‘, in dem der Deutsche Casanovas Partei ergriff. Mit Kardinal Alessandro Albani geriet er aneinander, weil ihn der Kardinal darauf hinwies, dass er wegen seiner Flucht aus den Bleikammern fürchten müsse, durch einen Ordine Santissimo der Staatsinquisition ausgeliefert zu werden. Casanova, der glaubte, für dumm erklärt zu werden, konterte mit dem Hinweis auf das Risiko, das die Inquisitoren eingehen würden, denn sie könnten immer noch keinen Grund für die seinerzeitige Verhaftung angeben. Das Haus betrat er nie wieder. Der blinde, alte Mann ‚schämte sich, mich für einen Dummkopf gehalten zu haben und zu sehen, daß ich ihm den Dummkopf zurückgab‘ (4, 9).
Er bevorzugte es, Winckelmann und Mengs aufzusuchen, wobei ersterer keine Bedenken hatte, mit den Kindern Purzelbäume zu schlagen (4, 10). Sein Wirt machte ihn mit seiner Tochter bekannt, doch gefiel sie ihm nicht mehr so, wie beim ersten Mal. Stattdessen verliebte sich sein Bruder in sie, der sie ein Jahr später heiratete, schließlich mit nach Dresden nahm. Fünf Jahre später hatten sie ein Kind, doch nach zehnjähriger Ehe starb seine Schwägerin an der Schwindsucht.
Während er Mengs als Künstler bewunderte, dessen Schüler sein Bruder ja war, meinte er: ‚Mein Bruder hat niemals etwas hervorgebracht, um den Namen eines Schülers dieses großen Künstlers zu rechtfertigen.‘ Mengs Schwester hatte sich gleichfalls in Casanovas Bruder verliebt. Sie war eine ‚ausgezeichnete Miniaturmalerin‘ (4, 10). Mengs hingegen war ‚grausam‘ und ein Trinker, wenn auch nie in der Öffentlichkeit. Mengs Frau saß ihm nackt nur deshalb Modell, weil ihr Beichtvater ihr gesagt hatte, ihr Mann würde mit anderen Modellen ansonsten ‚fleischlich verkehren‘.
Im selben Jahr erhielt Casanova bei Papst Clemens XIII. eine Audienz durch die Vermittlung des Kardinals Passionei, ‚der ein großer Feind der Jesuiten, ein geistvoller Mann und ein ausgezeichneter Kenner der Literatur war‘ (4, 9); Rezzonico war selbst Venezianer und seit 1758 Papst, doch habe er sich, seit er Papst war, zu seinen Ungunsten verändert – diese Auffassung äußerte Passionei, der den Papst für einen Coglione hielt, einen Tölpel – Casanova: ‚Ich bewahrte diese Anekdote sofort in meinem Tagebuch auf‘. Passionei hielt nur den früh verstorbenen Kardinal Fortunato Tamburini für würdig, worin ihm Winckelmann laut Casanova zugestimmt habe, und zwar, weil er ein erklärter Feind der Jesuiten war. Winckelmann verwaltete Passioneis Bibliothek, der Großbibliothekar des Vatikans war.
Im Dezember 1760 ernannte ihn Papst Clemens, die beiden kannten sich, seit Clemens Bischof von Padua gewesen war, zum „Protonotar extra urbem“ und erhob ihn zum „Ritter des goldenen Sporns“. Das Kreuz hängte er sich um den Hals, ohne zu wissen, dass andere ihre Kammerdiener damit schmückten, so verächtlich war dieses Abzeichen geworden (4, 10). Daraus leitete Casanova das Recht ab, sich Cavaliere (Ritter) nennen zu lassen. Doch der Papst erinnerte sich auch, dass Casanova in Padua jedes Mal die Kirche verlassen hatte, wenn er den Rosenkranz angestimmt hatte.
Casanova freute sich, den Barcarole Momolo wiederzusehen, der ihn, was Casanova sehr freute, in seine Familie einlud. Seinen Bruder brachte er mit. Doch die Familie war arm (und hässlich), musste von ‚zweihundert römischen Talern im Jahre leben, und da der apostolische Kehricht nicht denselben Wert hat wie die Darmentleerungen des Dalai Lama, so musste er mit dieser geringen Summe alle Bedürfnisse bestreiten.‘ Es gab Polenta und Schweinsrippchen, zwei noch ärmere Gäste kamen hinzu, doch er erkannte die Großherzigkeit sehr wohl: ‚Ich sah, dass die wahre christliche Liebe öfter im Herzen des Armen zu finden ist als bei demjenigen, den das Glück mit seinen Gaben überschüttet und den es gleichgültig gegen die Leiden des Nächsten macht, indem es ihm alles gibt, was sein Herz begehrt‘ (4, 10). Mariuccia, das hinzugekommene fünfte Mädchen, denn Momolo hatte vier Töchter und zwei Söhne, glaubte fest an den Sieg der Losnummer 27, woraufhin auch Casanova auf diese Zahl setzte – und gewann.
Um dies zu feiern, wollte er nach Neapel reisen, nachdem er zuvor zu eruieren versucht hatte, unter welchen Bedingungen er nach Venedig zurückkehren dürfe. Auch hatte er den Papst um eine Art Schutzbrief ersucht. Casanova besaß noch immer 200.000 Francs, ‚Juwelen für dreißigtausend und fünfzigtausend Gulden in Amsterdam.‘ Nun waren Momolos Töchter enttäuscht, was Casanova dazu veranlasste, zu sagen: ‚Geld macht nicht glücklich, und Fröhlichkeit wohnt nur in sorglosen Herzen.‘ Er verlangte, Mariuccia hinzuzuholen, in die er sich verliebte, und ihm war ‚das Glück beschieden, sie glücklich zu machen‘. Auf der Suche nach einem geeigneten Zimmer traf er auf eine Frau, die ihm dieses vermitteln wollte. Ihrer armen Familie hinterließ Casanova ein paar Münzen: ‚Es ist so süß, Gutes zu tun‘. Während Casanova und er sich gegenseitig beglückten – drei Stunden hatten sie Zeit –, erhoffte Mariuccia von ihm, ‚ihr zu glauben, dass sie trotz ihrer Armut im Herzen fühle, dass sie sich nur der Liebe ergeben habe‘. Das Geld, das er ihrem Beichtvater gab, war für die Aussteuer vorgesehen, denn die junge Frau hoffte bald heiraten zu können.
Bevor Casanova Rom Richtung Neapel verließ, bemerkte er, dass Costa die zweite Tochter Momolos liebte. Er erklärte sich bereit, ihre Hochzeit auszurichten. Doch Costa traute Casanova nicht, denn er fürchtete, dieser würde das ‚Herrenrecht‘ beanspruchen. So heirateten die beiden erst ein Jahr später, nachdem Costa Casanova bestohlen hatte.
Leduc ritt als Kurier voraus. Obwohl man glaubte, der Vesuv werde ausbrechen, setzte Casanova seine Reise fort.
In Neapel hielt er sich nur einige Wochen auf (4, 11). Der Herzog veranlasste ihn, im Palazzo Matalone zu gastieren. Seine Geliebte, die 17-jährige Leonilda, überließ er ihm, zumal er selbst impotent war – außer bei seiner Frau. Obwohl das Glücksspiel verboten war, betätigten sich der Herzog und seine Gäste darin. In der Oper siezte Leonilda ihn weiterhin, doch ‚der Ton ihrer Stimme und der Ausdruck ihrer Augen‘ waren mehr wert ‚als das »Du«, mit welchem man in Neapel so verschwenderisch umgeht, daß es oft keinen Wert mehr hat‘. Der Herzog überzeugte sich eigenhändig, dass Casanova nicht gleichfalls impotent war. Casanova bot Leonilda die Ehe an, nachdem der Herzog sein Einverständnis erklärt hatte; ein Heiratsvertrag wurde aufgesetzt. An mehreren Abenden spielte Casanova und gewann insgesamt 15.000 Dukaten. Leonilda war die Tochter von Donna Lucrezia Castelli, die inzwischen 38 Jahre alt war. Sie war dementsprechend Casanovas Tochter. Lucrezias Mann, der offenbar wusste, dass er die Tochter Casanovas großzog, nannte sie Giacomina. Eine Verbindung zwischen Vater und Tochter hielt Casanova ‚in jeder Beziehung [für] abscheulich‘.
Sie war nicht das einzige seiner Kinder, dessen Existenz er einfach ignorierte. Schon 1759 hatte ihm in Amsterdam Teresa Imer offenbart, dass er der Vater ihrer Tochter war – folgt man seinen Memoiren, so kamen bereits mindestens neun Kinder zusammen. Doch nun erwachte die alte Leidenschaft zwischen Lucrezia und Casanova wieder. Die nachfolgende Nacht mochte selbst Casanova nicht schildern, er schrieb nur von ‚wollüstiger Raserei, verliebter Ausgelassenheit und Zurückhaltung‘ (4, 11).
Auf dem Weg nach Rom glaubten die Männer, überfallen worden zu sein, ihr Wagen umgestürzt, doch war nur die Achse des Wagens gebrochen. Vor der Tür des Postmeisters machte Casanova ‚einen Höllenlärm‘, doch bemerkte er auch, dass seine ‚üble Laune … im Grunde weiter nichts war als ein gewisses Bedürfnis, wie ein großer Herr Spektakel zu machen‘. So kam man bei Marchese Galiani unter, den Casanova noch von seinem ersten Besuch kannte. Zufällig traf Casanova dort auf Lucrezia, der er erneut die Ehe anbot. Doch war er nach wie vor nicht bereit, sein ‚Landstreichertum‘ aufzugeben.
Nach 15 Poststationen erreichte er wieder Rom. Dort erlebte er den Karneval, der sich über acht Tage erstreckte. Auch gastierte er wieder bei Momolo und seine Mariuccia besuchte ihn auf eine Stunde in der besagten Wohnung. Ihrem zukünftigen Schwiegervater kaufte er für 200 Taler einen Garten jenseits des Tibers ab, wobei der Bräutigam die Summe zur Mitgift Mariuccias schlug. Casanova forderte sie auf, ihrem gemeinsamen Kind seinen Namen zu geben (vier Stunden).
In scharfem Gegensatz dazu beschreibt Casanova eine widerwärtige Orgie, die im Haus Talons stattfand, den er aus Paris kannte, und der inzwischen Graf Limore war. Dabei wurde er allerdings, im Gegensatz zu anderen Gästen, von sexuellen Handlungen verschont, so dass er nicht zu seinem Degen greifen musste: ‚Ich konnte mir nicht verhehlen, daß mein Leben in Gefahr gewesen war‘ (4, 12). Limore musste aus Rom fliehen, nachdem ein Wechsel geplatzt war.
Casanova besuchte die Oper um einem Kastraten zu lauschen, der durch seine wohlgeformten Brüste verliebt machen konnte, wie Casanova schreibt. ‚Um ihm zu widerstehen oder nichts zu fühlen, hätte man kalt oder prosaisch sein müssen wie ein Deutscher‘ – ‚Das heilige Rom, das auf diese Weise alle Männer nötigt, Päderasten zu werden, will dies nicht zugeben und stellt sich, als glaube es nicht an die Wirkungen einer Illusion, die es mit allen Kräften zu erwecken sich bemüht‘ (4, 12). Casanova nannte ihn ein ‚Ungeheuer‘.
Am zweiten Fastentag besuchte Casanova erneut den Papst und ließ sich von ihm segnen. Er erkannte aber, dass dieser ‚nicht übermäßig an seine eigene Macht glaubte‘. Nachdem Casanova seine Geliebte und ihren Zukünftigen reich beschenkt hatte, verließ er Rom. Von seinem Bruder erhielt er als Geschenk einen Onyx: ‚eine Kamee, die eine Venus im Bade darstellte‘. Sie war von ‚Sostrates angefertigt worden, der vor dreiundzwanzighundert Jahren lebte‘. Casanova behauptet, er habe das Stück an ‚Doktor Masti für dreihundert Pfund Sterling‘ verkauft, und spekulierte darüber, ob es sich noch immer im ‚Britischen Museum‘ befinde.
Da Casanovas Verweisung aus Florenz immer noch gültig war, brach er fluchtartig nach Bologna auf. Die Corticelli, wie er sie meist nennt, die er mitgeführt hatte, verschaffte ihm mit ihren Freundinnen acht unvergessliche Tage, bevor sie Richtung Prag zu einem Engagement abreiste. Doch klagte Casanova über die in Bologna grassierende, leichte Form der Krätze. Wegen seiner Flucht aus den Bleikammern wurde er aus Modena ausgewiesen. Als ihm ein Mann anbot, den Stadtoberen dafür zu erschießen, lehnte er dies nur ab, weil er fürchtete, sich bloßzustellen.
Bei seinem Aufenthalt in Parma, wo er unter dem Namen eines Chevaliers de Seingalt auftrat (‚denn wenn ein Ehrenmann einen Namen annimmt, der keinem Menschen gehört, hat niemand das Recht, ihm diesen zu bestreiten, und es ist seine Pflicht, ihn nicht wieder abzulegen‘), entließ er Costa, nahm den Sohn eines armen Violinenspielers jedoch aus Mitgefühl wieder auf. Sein ‚Spanier‘ warnte ihn vor Costa, der ein Dieb sei, der seinen großen Schlag noch führen wolle. Tatsächlich stahl er ihm fünf, sechs Monate später 50.000 Taler. Im Jahr 1784 traf er den Dieb in Wien als Kammerdiener des Grafen Franz von Hardegg (1741–1808). Er hatte das Geld verspielt, war von seinen Teilhabern ausgeplündert worden, und er lebte in völliger Armut. Casanova hätte ihn am liebsten hängen lassen, doch verschonte er ihn am Ende. ‚Er hatte im selben Jahre Momolos Tochter geheiratet und verließ sie, nachdem er sie zur Mutter gemacht hatte‘ (4, 13). In der Vorrede zu seinen Memoiren behauptet Casanova, Costa selbst habe sich als Dieb gesehen, aber auch als Schüler Casanovas, woraufhin die beiden Männer sich die Hand gereicht hätten.
In Turin hoffte er immer noch, durch Abbate Gama einen diplomatischen Posten zu erhalten. Dabei sollten Gesandte der Kriegsteilnehmer sich in Augsburg versammeln – die Erwähnung dieses Krieges vermeidet Casanova ansonsten. In einem Kaffeehaus, wo er Zeitungen las, traf er auf Marquis Desarmoises, den er aus Savoyen kannte. Nirgendwo sei die Polizei so ‚unbequem‘, überall waren Spitzel, die Prostitution unterlag ‚barbarischen‘ Strafen.
Schon bald suchte Casanova ein Abenteuer, wozu er sich mit der Jüdin Lia bekanntmachen ließ, der Tochter eines Pferdehändlers. Ihr Vater, ‚habgierig wie alle seine Glaubensgenossen‘, ermunterte sie, mit Casanova auszureiten, der dies als Bedingung für den Kauf gestellt hatte. Als Lia sagte, sie sei nicht käuflich, antwortete Casanova: ‚Alle Frauen, anständig oder nicht, verkaufen sich. Wenn ein Mann Zeit hat, kauft er die Frau, die seine Liebe begehrt, durch eifrige Bewerbung; wenn er es eilig hat, wie ich, bedient er sich der Geschenke und sogar des Goldes‘ (4, 13). Dennoch erreichte Casanova zunächst nichts, mietete aber ein verschwiegenes Haus an. Dann besuchte er eine jüdische Hochzeit, deren Zeremonie, wie er meinte, ‚etwas Symbolisches und zugleich lächerlich Groteskes‘ hätte. In sein Haus ließ er sich von einer Kupplerin junge Mädchen kommen. Lia und ihr Vater Moses suchten ihn ebenfalls auf. ‚Während der Karwoche wagten die Juden sich nicht in den Straßen von Turin sehen zu lassen; ich riet ihnen daher, die drei Tage bei mir zu verbringen‘ (4, 13). Lia ‚war den ganzen Tag gefügig und verliebt … und obwohl ihr Leib das Vollkommenste war, was man sich denken kann, brauchte und missbrauchte ich ihn auf jede Art.‘
Am Ostermontag wurde Casanova vor die Polizei geladen. Er weigerte sich, die Stadt binnen drei Tagen zu verlassen, und er wandte sich stattdessen an den ‚Minister des Auswärtigen, Chevalier Osorio‘,[66] der mit dem König sprach. Am Ende durfte Casanova einen Monat bleiben.
Mitte Mai verließ Casanova Turin Richtung Chambéry. Wieder sah er eine reizvolle junge Frau, deren Begleiter nach einem Degenstich darniederlag. Eilends nahm er sich ‚die Freiheit, ihr die Hand zu küssen; dies ist in Frankreich eine ebenso ehrerbietige wie zarte Liebeserklärung.‘ Der junge Mann hatte die Tochter des Marquis Desarmoises entführt. Diese fürchtete von ihrem Vater, der sie seit ihrem 11. Lebensjahr verfolgte, vergewaltigt zu werden. Ihr Vater hatte den Mann niedergestochen, den sie in Genf heiraten wollte. Casanova half ihnen bei der Flucht, was ihn nicht abhielt, sein Glück bei der jungen Frau zu versuchen. Doch ‚heuchlerische Liebe bedeckte sich mit dem Mantel väterlicher Zärtlichkeit.‘
Frau Morin berichtete ihm aus Paris. Fräulein Romans, der Casanova prophezeit hatte, dass sie die Geliebte des Königs werden würde, wenn sie nur nach Paris ginge, berichtete, sie sei tatsächlich ‚die Geliebte des Königs; sie bewohne ein schönes Haus in Passy, und da sie im fünften Monat schwanger sei, so sei sie auf dem Wege, Königin von Frankreich zu werden‘. Nun glaubte jeder in Grenoble an Casanovas Prophezeiungen und ‚der ganze Adel würde ihm zu Füßen liegen‘; man würde ihn nicht wieder fortlassen. Als er in Paris Romans, die zukünftige Königin traf (wie er glaubte), klagte sie ihm ihr Unglück, denn sie fühlte sich einflusslos und immer wieder gedemütigt, weil sie vom König nichts verlangen mochte. ‚Ach! nur Einfachheit macht glücklich, Luxus nicht!‘ Casanova bedauerte am Ende, die Unglückliche nicht selbst geheiratet zu haben (4, 15).
Mit Frau Morin besuchte er, noch vor Lyon, ‚M. M.‘ im Kloster, wo man nur durch das Sprechgitter reden konnte. Geistesgegenwärtig konnte sie ihrer Tante glaubhaft machen, sie kenne Casanova kaum, doch verabredete man sich zum Speisen, und zwar sollte die Gesellschaft je zur Hälfte dies- und jenseits des Sprechgitters sitzen. Casanova, der die Kosten übernahm, saß zwischen ‚M. M.‘ und der jungen Desarmoises. Hinter dem Gitter saßen sieben Nonnen, insgesamt saß Casanova mit elf Frauen drei Stunden lang beisammen. Seine ‚M. M.‘ hatte sich auf ihre 12-jährige Pensionärin eingelassen, was ihr einen begrenzten Ersatz bot. Die Beziehung zu Casanova beendete sie, denn man schöpfte bereits Verdacht. Doch verhinderte sie nicht, dass ihre Geliebte durch das Gitter Casanova befriedigte und er sie. So hielt sich Casanova an die Desarmoises, doch versprach er ihrem zukünftigen Ehemann, den alten Desarmoises zu zwingen, von seiner Tochter abzulassen. Er glaubte, sie sei unzufrieden mit ihm, denn ‚ich unterhielt sie nur ein einziges Mal von meiner Zärtlichkeit; M. M.’s junge Freundin hatte mich beinahe völlig ausgepumpt‘.
Am nächsten Tag reiste er nach Lyon ab. Leduc und Desarmoises, der ihm die besagten Versprechungen verbriefte, schickte er nach Straßburg voraus, denn er wollte nach Paris. Sowohl Desarmoises’ Frau als auch ihm, den er als verarmten, falschen Marquis bezeichnete, von denen es so viele gebe, wie er betont, half er mit einigem Geld aus. Costa schickte er zu d’Urfé voraus (4, 14).
Im Mai 1761 in Paris angekommen, versprach er seiner 20 Jahre älteren Gönnerin die Operation, die sie zum Mann machen sollte. Doch zuvor müsse ‚Quérilinte, eines der drei Häupter der Rosenkreuzer, aus den Gefängnissen der Lissaboner Inquisition befreit‘ werden (4, 15). Dazu müsse er nach Augsburg reisen, brauche aber reichlich Bestechungsgeld. Er behauptete, die 14 Tage in Paris zu benötigen, um eine Intrige St.-Germains zunichte zu machen. Tatsächlich, als d’Urfé ihm von ihren Visionen im Bois de Boulogne berichtete, erschien der Graf, floh jedoch. Für den zuständigen Minister, den Herzog Choiseul, war dies keine Überraschung, denn er habe die Nacht in seinem Kabinett verbracht. ‚Der Herzog von Choiseul hatte zum Schein St.-Germain in Frankreich in Ungnade fallen lassen, um ihn in London als Spion zu halten; aber Lord Halifax ließ sich davon nicht anführen, er fand sogar die List zu plump.‘
Er besuchte seinen Bruder, der mit seiner Frau an der Porte St. Denis wohnte. Sie liebte ihn, doch konnte er sie nicht befriedigen, denn er war vollkommen impotent. Sie hingegen glaubte, er liebe sie nicht und enthalte sich aus diesem Grund. Sie starb Jahre später, wie Casanova glaubte, vor Kummer an der Schwindsucht.
Als er noch alte Freunde und Bekannte aufsuchte, ereilte ihn ein Unglück, das ihn zwang, Paris Hals über Kopf zu verlassen. Er begegnete in den Tuilerien der Opfernfigurantin Dangenancour, die ihn schon einmal abgewiesen hatte. In einem Gasthof trafen die beiden auf eine Gesellschaft von Abenteurern, und wieder gelang es Casanova nicht, dieser Gesellschaft einfach den Rücken zu kehren. Einer von ihnen, ein Santis, stahl ihm einen Ring, den Casanova ihm gezeigt hatte. Doch Santis und sein portugiesischer Freund Xavier behaupteten, er sei ihm zurückgegeben worden. Casanova stach Santis im Streit mit seinem Degen nieder – wie er erst später erfuhr, überlebte er den Stich.
Wegen dieser Tat musste Casanova Paris sofort verlassen. Er fuhr zum falschen Marquis Desarmoises, der ihn einer Frau vorstellte (Catherine Renaud), die behauptete, Casanova zu kennen. Diese Tänzerin, seine ‚schöne Renaud‘, war eine Trinkerin, und der ‚Weinrausch machte aus ihr eine Bacchantin, die schwer zu befriedigen war; aber wenn ich nicht mehr konnte, bat ich sie, mich in Ruhe zu lassen, und sie musste mir wohl oder übel gehorchen‘ (4, 15).
Der Augsburger Bankier Carli,[67] bei dem er ein Konto hatte, besorgte ihm ein Haus. Er verbrachte nun vier Wochen in München. Dort, in der ‚kleinen Hauptstadt‘, verlor er sein gesamtes Vermögen und seine Gesundheit.
Am dritten Tag in München machte er der Kurfürstin-Witwe von Sachsen seine Aufwartung. Sein Schwager gehörte zum Gefolge der Fürstin. Doch nun musste er erkennen, dass ihn sein ‚böser Geist‘ seit Neapel von Unglück zu Unglück trieb, wie er meinte: ‚Der nächtliche Sturz aus dem Wagen, die Abendgesellschaft bei Limore, die Verbindung mit Desarmoises, die Lustpartie nach Choisy, mein Vertrauen zu Costa, meine Verbindung mit der Renaud, und mehr als alles meine unbegreifbare Dummheit, mich auf das Pharaospiel einzulassen an einem Hofe, wo die Bankhalter für die geschicktesten Verbesserer des Glücks in ganz Europa galten – dies waren die Stufen meiner Dummheit‘ (4, 16). Renaud, der man ihre Erkrankung äußerlich nicht ansah, wusste davon, und sie schlief trotzdem mit Casanova. Dieser ließ sich zudem davon überzeugen, sich nicht behandeln zu lassen, denn man wisse, dass die beiden wie Mann und Frau zusammenlebten. Die Kurfürstin-Witwe warnte ihn sogar persönlich.
Casanova zog sich in sein Haus in Augsburg zurück. Sein Bankier empfahl ihm einen gewissen Kefalides, der bei Fayet gelernt hatte, der Casanova wiederum einige Jahre zuvor in Paris kuriert hatte. Dieser verordnete u. a. ‚Quecksilbereinreibungen‘. Nach sechs Wochen war Casanova völlig abgemagert und hatte zwei riesige Geschwüre in der Leistengegend. ‚Kefalides schnitt aus Ungeschicklichkeit die Arterie an und verursachte dadurch eine Blutung, die nur mit großer Mühe gestillt werden konnte und die mich das Leben gekostet hätte, wenn sich nicht der bolognesische Arzt Dr. Algardi, der Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, meiner angenommen hätte‘. Algardi heilte Casanova binnen zweieinhalb Monaten.[68] Erst Ende des Jahres fühlte dieser sich wieder gesund.
Costa hatte inzwischen alle Wertgegenstände gestohlen, die ihm d’Urfé mitgegeben hatte. Dies betraf allerdings nicht ihren Wechsel über 50.000 Francs, der auf anderem Wege in Augsburg ankam. Zugleich merkte er, dass auch Leduc ihn bestahl. Das gleiche galt für Renaud, die mit Desarmoises direkt nach Paris reiste, ohne Casanova noch einmal zu besuchen.[69]
Casanova nahm, kaum gesundet, seine Vergnügungen wieder auf, diesmal mit Gertrud und Anna Midel, seiner Köchin, gleichzeitig. Diesmal bevorzugte er die höfische Gesellschaft, wie etwa die des Grafen von Lamberg; dieser war ‚ein Gelehrter ersten Ranges‘. Die beiden korrespondierten bis zu dessen Tod im Juni 1792, verursacht durch eine ärztlich verordnete Quecksilberanwendung.
Als eine 14-köpfige italienische Theatertruppe in Augsburg ankam, unterstützte er diese. Zu ihr gehörte ein Venezianer namens (Domenico) Bassi (ca. 1724–1774), den er vom ‚Kollegium San Cipriano‘ kannte, wo sie gemeinsam gelernt hatten, und der der Direktor der mäßigen Truppe war. Casanova, der bei der ‚hässlichen‘ Frau Bassi zu Gast war, sah die große Armut und den Schmutz, doch waren auch diese Leute offenbar glücklich. Sein Schulkamerad vermachte ihm als Geschenk die Rezeptur des venezianischen Theriak. Zur Vorstellung kamen nur 30 oder 40 Zuschauer, so dass Bassi nicht mehr wusste, wie er seine Truppe entlohnen sollte. Casanova lud die Truppe zu einem dreistündigen Mahl, was er nur tat, weil ihn ‚eine junge Straßburgerin, die Soubrette der Truppe … auf den ersten Blick interessierte‘ (4, 16). Doch sie wollte den eifersüchtigen Harlekin heiraten, den Casanova kurzerhand hinauswarf. Bei der nächsten Gelegenheit machte er sich an die Tochter Bassis heran, zugleich ergab sich ihm die Straßburgerin.
Casanova musste wegen seines Namens Seingalt im Rathaus erscheinen, wo der Bürgermeister ihm vorhielt, er trage einen falschen Namen. Doch dieser berief sich darauf, dass er ihn frei gewählt habe, ihn niemand sonst beanspruche, und jeder Name sei von einem der Vorfahren irgendwann einmal erfunden und beigelegt worden. Nur ablegen dürfe man ihn nicht mehr, denn dies schade der Gesellschaft. Der Bürgermeister pflichtete ihm sogar bei.
Mitte Dezember 1761 verließ er Augsburg. Gertrud, die schwanger war, hätte er gern mitgenommen. Seinen Diener Leduc, der ihn in Verdacht gebracht hatte, zu stehlen, ließ er einfach an der Straße stehen, ohne ihm ein Zeugnis auszustellen. Er hörte nie wieder von ihm. Doch er bedauerte am Ende, ihn entlassen zu haben, da ihm Leduc so bedeutende Dienste erwiesen hatte.
Von Augsburg reiste er über Konstanz nach Basel. Dort vergnügte er sich mit den Töchtern seines Wirtes Imhoff, der ‚ein Schinder allerersten Ranges‘ war – es war das teuerste Haus der Stadt (an anderer Stelle hatte Casanova vermerkt, man müsse mit den Schweizer Schindern eben immer die Preise vorher absprechen (3, 16)).
Am letzten Tag des Jahres 1761 kam Casanova erneut in Paris an. Er wohnte drei Wochen in der Rue du Bac, die d’Urfé für ihn eingerichtet hatte. Dort konnte er auf großzügige Zuwendungen der Gräfin (Constance) du Rumain und weiterhin der Markgräfin d’Urfè rechnen. Vor allem letztere, die sehr vermögend und zugleich äußerst abergläubisch, tief verstrickt in okkulte Kreise war, plünderte Casanova geradezu aus, wozu er eine andere Geliebte, die 14-jährige Marianna Corticelli,[70] benutzen wollte. Sie sollte die Universalerbin werden, deren Vormund bis zum 13. Lebensjahr wiederum Casanova sein sollte.
Am 25. Januar reiste Casanova, reich ausgestattet, nach Metz, um seine zukünftige Komplizin dort abzuholen. Er hatte d’Urfé noch nicht einmal dadurch von ihrem unbedingten Willen, ein Mann zu werden, abhalten können, dass er sie auf ihren Tod vorbereitete. Wieder fesselte ihn eine Frau, diesmal eine Dame der Oper. Sie ‚hieß Raton und war fünfzehn Jahre alt, das heißt, nach der Mode der Bühnenkünstlerinnen, die stets mindestens zwei oder drei Jahre unterschlagen – eine Schwäche übrigens, die allen Frauen gemeinsam ist, und die man ihnen wohl vergeben muss, da für sie Jugend der höchste Vorzug ist.‘ Sie erhielt für ihre Dienste einen Louis pro Tag.
Wieder verabschiedete sich Casanova, reiste nach Nancy. Doch die Mutter der Corticelli war mit seinem Vorhaben nicht einverstanden, widersetzte sich ihm. Später betrachtete Casanova diese Tatsache als letzten Versuch seines Guten Geistes, die nachfolgende Katastrophe zu verhindern. Doch Casanova setzte sich durch, bereitete ihre Tochter zwölf Tage lang vor. Sie wurden auf Schloss Pont-Carré erwartet.
Im April scheiterte der erste Versuch, die besagte Operation durchzuführen. Nun, so behauptete er, müsse außerhalb Frankreichs im Mai ein zweiter Versuch unternommen werden – dazu erwählte er Aachen. Dort aber geriet Casanova wieder in schlechte Gesellschaft: ‚Die schlechteste von allen aber war die eines jungen Offiziers d’Aché, der eine hübsche Frau und noch hübschere Tochter hatte. Diese Tochter bemächtigte sich bald des Platzes, den die Corticelli bereits nur noch sehr oberflächlich in meinem Herzen eingenommen hatte; sobald jedoch Frau von Aché bemerkte, dass ich ihre Tochter ihr vorzog, nahm sie meine Besuche nicht mehr an.‘ Wieder geriet er in einen Streit, der in ein Duell mündete, bei dem einer der Kontrahenten zu Tode kam. Zudem weigerte sich nun Corticelli, den Zeugungsakt durchzuführen, indem sie Krämpfe simulierte.
Erneut wurde d’Urfé vertröstet, die selbst in einem Orakel „herausfand“, dass die Corticelli verrückt geworden sei. Ihr Geist sei in den Händen eines bösen Geistes. Man könne ihr also kein Wort glauben, folgerte sie. D’Urfé schrieb nun an den Mond (!), der ihr brieflich antwortete, sie könnten erst im nächsten Jahr, dann in Marseille, einen weiteren Versuch unternehmen. Wieder nutzte Casanova die Gelegenheit, sich auf ein Mädchen namens Mimi einzulassen, das die Rolle der Corticelli übernehmen konnte. Diese wurde Casanova durch ihre Art zu tanzen, die sie als berufsmäßige Tänzerin auszeichnete, gefährlich, denn ihre Rolle als seine Nichte und Angehörige der höheren Gesellschaft wurde damit unglaubwürdig.
Die Reisegruppe brach nach Paris auf, zunächst Richtung Lüttich. Während d’Urfé einen Tag wartete, fuhren Casanova und Mimi durch die Ardennen nach Luxemburg. Über Metz reisten sie weiter nach Colmar. Trotz aller Bemühungen gelang es der Corticelli nicht mehr, Casanovas Gunst zurückzugewinnen. Auch die beiden Frauen aus Colmar verlor er, denn beide heirateten, weil sie nicht wussten, ob ihr Zusammensein mit Casanova folgenlos geblieben war (4, 17). Corticelli und ihre Mutter brachte er nach Genf, dann ließ er sie nach Turin befördern. Er selbst mied diesmal Voltaires Haus. Doch sein Böser Geist gab ihm ein, bald die falschen Leute einzuladen.
Er lernte die 22-jährige Helene kennen, in die er sich verliebte, sich aber zugleich mit seinen drei Freundinnen von früher vergnügte. In Genf lernte er von Helene: ‚wenn ein junges Mädchen geistvoll oder gebildet ist, so muss sie dies sorgfältig verbergen, wenigstens wenn sie die Absicht hat, sich zu verheiraten‘ (4, 18). Noch klüger war jedoch ihre Base Hedwig, eine überaus scharf denkende Theologin, was Casanova sehr anziehend fand.
Doch nun erhielt er von seiner früheren Haushälterin, Frau Lebel, eine Einladung nach Lausanne. Sie kam mit einem 18-monatigen Kind, das Casanova als das seinige erkannte. 21 Jahre später sollten sich Vater und Sohn in Fontainebleau wiedersehen. Das Paar reiste heim nach Solothurn. Mit Hedwig und der sechs Jahre jüngeren Helene verbrachte er eine gemeinsame Nacht. Bei Helene konstatierte er: ‚vierzehnmal wechselte sie in der Zeit, die ich zu einer einzigen Operation brauchte, zwischen Leben und Tod.‘ Dann reiste er ab, um d’Urfé zu treffen. Schließlich besuchte er in Chambéry seine Nonne, die jedoch um ihre Pensionärin trauerte, die verheiratet worden war. Anfang Dezember kam Casanova schließlich wieder nach Turin (4, 18–19).
Dort glaubte man, er sei immer noch verliebt, forderte ihn dringend auf, sich angemessen zu verhalten. Doch Casanova war anderer Auffassung: ‚Ein bisschen Skandal war mir nicht unlieb, und ich wusste, dass die Leute darüber reden würden, und war neugierig, wie die Folgen sein würden‘ (4, 19). Er suchte – stets in Begleitung, wie es in Turin streng vorgeschrieben war – Corticelli auf, die inzwischen als Kupplerin berüchtigt war, dann auch Lia, die verheiratet und nach seiner Meinung zu dick geworden war. Auch sie versuchte er nicht wiederzusehen. Die Behörden achteten inzwischen streng darauf, dass Mädchen nicht mehr allein zu ihren männlichen Auftraggebern geschickt wurden, Frau R. hatte nur noch Raton und Victorine bei sich. Der Vikar hatte ein ‚schreckliches Spioniersystem‘ in der ganzen Stadt eingerichtet, wie Casanova klagt. In seinen Augen erzeugte solcher Zwang nur reizvolleren Ideenreichtum, diesen zu umgehen – zu Lasten der Moral und der Sitte. So versuchte er, weitgehend unbeobachtet zu bleiben. Dieweil lobte er die Küche des Piemont in den höchsten Tönen, auch dessen Weine. Er glaubte, die Piemontesinnen seien wegen dieser guten Lebensmittel und wegen der guten Luft besonders schön.
Casanova lernte beim Tanzunterricht eine junge, arme Witwe aus Lucca kennen, vor allem aber ihre Tochter Agata. Diese wollte aber nicht als ‚Lückenbüßerin‘ für die Corticelli fungieren. Nach einem von ihm organisierten Tanzfest, ließ er sich am nächsten Morgen auf ihre Mutter ein, ohne zu verhehlen, dass er noch mehr ihre Tochter liebte. Die Corticelli wurde er endgültig los, als er sie in flagranti ertappte. Sechs Monate später traf er sie wieder in Paris; der Versuch, Casanova mit einer ‚langweiligen‘ Veröffentlichung, einem Heftchen, in Misskredit zu bringen, misslang. In diesem Zusammenhang notierte Casanova, die Rachsucht habe alle seine anderen Eigenschaften überragt (4, 19).
Agata wurde seine ‚anerkannte Geliebte‘, so dass die Behörden sich heraushielten. Doch der Engländer Lord Percy, Sohn der Herzogin von Northumberland, warb gleichfalls um sie. Er bot ihm im Tausch die ‚Tänzerin Redegonda‘ an, um die Casanova vergebens geworben hatte, dazu ein ‚Draufgeld‘, das Casanova von dem reichen Percy beliebig fordern können sollte. Überraschenderweise, jedoch wohl im Scherz, stimmte Agata zu. So traf man sich in Percys Haus zu viert. Doch nun tauchte wieder Corticelli als ‚Draufgeld‘ auf, so dass Casanova und Agata das Haus eilig wieder verließen. Casanova, der seine Unstetheit kannte, wurde ein Freund Percys, auch wollte er einem länger als mit ihm selbst anhaltenden Glück Agatas nicht im Wege stehen. Um sie zudem materiell abzusichern meinte er zu Percy: ‚… aber Sie müssen mir versprechen, Agata unter keinen Umständen zu verlassen, ohne ihr zweitausend Guineen zu schenken‘. Auch versprach er, sie im Falle seines Todes abzusichern (4, 20). Unter Tränen verabschiedete sich Casanova von Mutter und Tochter, um nach Mailand abzureisen.
Über Casale ging es nach Pavia, wo ihn sein Bediensteter Clairmont gegen den Angriff eines französischen Offiziers verteidigte, der ausgewiesen wurde. Casanovas Auffassung nach waren ‚alle guten französischen Bedienten … intelligent und treu, aber sie halten sich alle für klüger als ihre Herren, was sie oft genug auch sind; wenn sie ihrer Sache sicher sind, werden sie die Herren ihrer Herren, tyrannisieren diese und behandeln sie oftmals sogar auf eine verächtliche Art‘ (4, 20). Jene Mailänder Gräfin, die er sich in seiner Phantasie reizvoller vorgestellt hatte, enttäuschte ihn. Doch leicht wie immer verliebte er sich in ein Mädchen namens Zenobia, das allerdings einen unansehnlichen Schneider heiraten wollte. Dies tat die 22-Jährige jedoch nur, weil sie nicht länger warten wollte (über sie ist weiter nichts bekannt).
Er traf Teresa wieder, die seit sechs Monaten getrennt lebte. Casanova fragte sogleich nach Cesarino, war zunächst wieder verliebt wie vor 18 Jahren. Gegenüber der Gräfin verwahrte er sich gegen die Verachtung der unteren Stände, insbesondere durch Greppi, bei dem er 100.000 Francs hatte, außerdem galt er als Teresas Liebhaber – zu Unrecht. Und: ‚Armut hat mir stets Achtung eingeflößt‘ (4, 20).
Doch erneut deutete Casanova an, dass ihn seine Liebeskraft zu verlassen begann. Die Gräfin, deren Stolz er verachtete, brüskierte er, indem er sagte, er wolle nur eine Nacht mit ihr verbringen ‚um Sie zu demütigen und um Ihren unerträglichen, übelangebrachten Stolz zu ducken‘ (4, 21). Sie wiederum freute sich, als er beim Glücksspiel eine große Summe verlor. Er ließ ihr ein prächtiges Kleid zukommen, und lud sie auf die Hochzeit der schönen Zenobia ein. Doch würde ‚die Gesellschaft nur aus braven Leuten der allerniedrigsten Klasse bestehen; ich würde auf keinen Fall dulden, daß sie gekränkt würden‘. Er selbst verbrachte einige Stunden mit Zenobia, wobei er nicht zum ersten Mal die Zahl ihrer Höhepunkte angab (‚Zenobia zum vierzehntenmal ihre Existenz verhauchte‘), nicht mehr die der gemeinsamen Stunden. Der Graf hatte die beiden mit Vergnügen durch einen Spalt beobachtet, wie er Casanova danach lachend eingestand. Schließlich war er bei der anmaßenden Gräfin, die nun, im Besitz des Kleides, bereit war, sich ihm hinzugeben. Doch ‚der Besitz aller ihrer Reize war nicht imstande, das Werkzeug, ohne welches die Operation unmöglich war, in Tätigkeit zu setzen‘ (4, 21). Casanova, der wegen seiner schlechten Behandlung Gewissensbisse hatte, fand die Gräfin am nächsten Tag überaus freundlich. Noch am Abend der Zweckehe, die Zenobia eingegangen war, nutzten sie und Casanova die Gelegenheit während einer Kutschfahrt.
Zufällig traf er auf die Frau jenes Barbaro aus Venedig, mit dem er im Streit gelegen hatte. Dieser war völlig verarmt. Seine Frau behauptete zunächst, ihre Tochter wäre auch ein Kind Casanovas, doch wusste er, dass sie auf diese Art verhindern wollte, dass er das Mädchen berührte. Barbaro verriet Casanova, wer die beiden Marchesine waren, denen Casanova auf einem Maskenball seine Tabaksdose mit einer verfänglichen Darstellung gezeigt hatte. Doch besaßen sie einen Stolz, ‚der sie unter die niedrigsten Klassen erniedrigt, aber auf die Dummen, deren es überall so viele gibt, stets großen Eindruck macht‘ (4, 20). Da er an sich selbst zu zweifeln begann, unterließ er den sonst zu erwartenden Versuch.
Er zog es vor, seinen Sohn Cesarino und Teresa zu besuchen. Er ‚fand den jungen Mann verständig, wohl unterrichtet und ausgezeichnet erzogen. Er war viel größer geworden, seitdem ich ihn zuletzt in Florenz gesehen hatte, und hatte sich geistig ebensosehr entwickelt wie körperlich. Cesarinos Gegenwart machte unser Abendessen ernst, aber angenehm. Schönheit und reine Jugend breitet einen unaussprechlichen Zauber über unser Leben aus; ihre Unschuld flößt Achtung und Zurückhaltung ein.‘ Er verspürte gar den Drang, Seemann zu werden und Handel zu treiben.
Die gehässige und abergläubische spanische Gräfin verabreichte sich und Casanova ein Rauchkraut, das Nasenbluten verursachte. Gemeinsam bluteten sie in eine Schale. Der stark beunruhigte Casanova befragte vergeblich einen Apotheker, um welches Kraut es sich gehandelt haben könnte. Er sollte bald erfahren, wozu das vermischte Blut gebraucht wurde.
Rinaldis Tochter Irene holte er bald nach: 6 Stunden. Sie war eine begnadete Falschspielerin, die nur deshalb nicht zu Vermögen gekommen war, weil sie nur mit Bettlern zu tun hatte, so Casanova. Ihre Eltern verließen mit ihr die Stadt, sie musste mitziehen, wenn Casanova ihr auch versprach, sie wiederzusehen.
Überraschenderweise warnte ihn ein unbekannter Kapuziner, und ‚ein Rest von Aberglauben, von welchem ich mich niemals gänzlich habe befreien können, hielt mich ab, auf die Stimme der Vernunft zu hören‘. So besuchte er eine ‚angebliche Hexe‘, wie er ja schon einmal in Paris die berühmte Bontems besucht hatte. Gegen Geld zeigte sie ihm ‚Phiolen von allen Größen, Steine von allen Farben, Metalle, Minerale, große und kleine Nägel, Zangen, Öfen, Kohlen, missgestaltete Statuen und tausend andere Sachen‘ (4, 21). In einer Flasche befand sich sein Blut mit demjenigen der spanischen Gräfin vermischt. Für einen Moment brach ihm der kalte Schweiß aus. Casanova glaubte dennoch nicht an ihren Hokuspokus, warf das Fläschchen aus dem Fenster und schmolz die Wachsfigur, die ihn grotesk aber erkennbar darstellte. Ihren Vorschlag, die Gräfin ‚rasend verliebt‘ zu machen, lehnte er ab. Er gab ihr den Rat, ‚ihr abscheuliches Gewerbe aufzugeben, das sie früher oder später auf den Scheiterhaufen führen müsse‘ (4, 20).
Schließlich lud Casanova zu einem Maskenball im Karneval (er dauerte in Mailand vier Tage länger als in anderen Orten), bei dem unter allen Umständen verhindert werden sollte, dass diejenigen, die er mit selbst an bestimmten Stellen durchlöcherten, sehr prachtvollen Kleidern ausstattete, erkannt würden. Sie sollten zwei Männer und drei Frauen in Lumpen spielen. Er selbst wollte als Pierrot gehen, um gleichfalls unerkannt zu bleiben. Dabei gewann er 2500 Zechinen, verriet sich aber nicht durch seine gewohnte Art zu spielen. Danach vergnügte er sich wieder mit Zenobia, wiewohl er ein Auge auf eine der von ihm Maskierten, die ‚Marchesina Q.‘ geworfen hatte. Mit dieser vergnügte er sich nach einem weiteren Maskenball bis zum Morgengrauen, dann, am nächsten Tag wieder fünf Stunden. Da am Rosenmontag kein Ball stattfand, spielte Casanova wieder, und er verlor sehr viel Geld. Noch unglücklicher war Croce, der allen Unglück brachte, und der aus Mailand verwiesen worden war. Er ließ seine Geliebte zurück. ‚Am vierten Tage der Fastenzeit verabschiedete ich mich auf zwei Wochen von Teresa, Greppi, der zärtlichen Marchesa, und wir reisten ab‘ (4, 22). Es ging auf ein Landgut in Sant’Angelo, das weitgehend verfallen war.
Von den Mailändern meint Casanova, sie seien ,im allgemeinen gut, ehrlich, dienstbereit und gastfreundlich; die Offenheit ihres Charakters beschämt die Piemontesen und Genuesen, ihre beiden Nachbarn‘ (5, 1). Beim bescheidenen Gastmahl erwies sich, dass das Stillen in der Öffentlichkeit üblich war, dies ,sei das Vorrecht einer Mutter, die ihr Kind säugt‘ – die Mutter war 22, und Casanova fand den Anblick offenbar ausgesprochen erotisch. Casanova, der darauf beharrte, ein Türschloss zu bekommen, war aber eher von einer der Schwestern, der 18-jährigen Clementina, beeindruckt, die beständig errötete. Sie zwang ihn, seine Vorstellung, dass Schüchternheit ein Anzeichen für Dummheit sei, zurückzunehmen. In einem Kloster besuchten sie die besonders schöne Maria Maddalena, die ursprünglich Teresa geheißen hatte. Sie war nur wegen ihrer Schönheit ins Kloster gesperrt worden, was Casanova zu Tränen rührte. Man glaubte, sie sei wahnsinnig geworden – alles wegen der Tyrannei der österreichischen Kaiserin.
Über Clementina – ihr Name war Angela Gandini, Tochter des Patriziers Fabrizio Gandini aus Lodi – notierte Casanova: ‚niemals aber hatte bis dahin eine Schöne in so kurzer Zeit eine derartige Verheerung in meinem Innern angerichtet‘. In einem Nebenbuhler, einem Abbate, sah er ‚eine Wespe, die zerquetscht werden musste‘, er war eifersüchtig (‚das schrecklichste aller Gefühle‘), nahe an der Rachsucht. Doch war ihm Clementina schließlich dankbar, dass er ihren Geist glänzen ließ. Sie war frei vom ‚dumme[n] Stolz …, der Emporkömmlingen und eitlen Tröpfen eigen ist‘ (5, 1). Aber sie schätzte Casanova richtig ein, was ihn versteinert zurückließ: ‚Ich würde unglücklich werden, weil ich einen Unbeständigen lieben würde, und Sie, weil Sie Gewissensbisse empfinden und damit die Vernichtung meiner Ruhe teuer erkaufen würden!‘ Vor dem Hintergrund, dass man in der feinen Gesellschaft am besten gar keine Fragen stellte, auch nicht nach der Herkunft, auch keine Komplimente verteilte, und auch sonst viele Themen mied, waren seine Gespräche geradezu eine Unhöflichkeit: ‚In London gilt es für die allergrößte Unhöflichkeit, jemanden nach seiner Religion zu fragen; auch in Deutschland kann dies der Fall sein; denn ein Herrenhuter oder ein Wiedertäufer werden ungern sagen, wes Glaubens sie sind. Wenn dir also daran liegt, bei allen Leuten beliebt zu sein, so ist es das sicherste, keinen Menschen nach etwas zu fragen, nicht einmal ob er einen Louis wechseln kann‘ (5, 1). Clementina hingegen war … zum Entzücken, denn sie antwortete anmutig, geistreich und gewandt auf alle Fragen, die ich an sie richtete.‘ So konnten die beiden Anspielungen austauschen, während sie sich über mythologische Gestalten unterhielten. Sie besaß ‚nur etwa dreißig‘ Bücher, hatte beim inzwischen altersschwachen (Giovan Battista Domenico) Sardini gelernt (1689–1770).[71]
Casanova fuhr heimlich nach Lodi. Diese Stadt kannte er nur wegen des berühmten, von dort stammenden ‚Parmesankäses‘, wie er ausdrücklich vermerkt: ‚Dieser vortreffliche Käse ist nämlich aus Lodi und nicht aus Parma‘. Zu dieser Zeit arbeitete er an einem ‚Käse-Lexikon‘, das ihn jedoch überforderte, wie er einräumte. In Lodi wollte er die seiner Ansicht nach fehlenden Bücher erwerben, von denen er etwa hundert seiner geliebten Frau schenkte. ‚Die Wonne über den Ausdruck von Dankbarkeit auf dem Antlitz einer angebeteten Frau hat etwas Erhabenes, Unbeschreibliches an sich. Wenn du dies nicht ebenso fühlst wie ich, mein lieber Leser, so beklage ich dich und bin der Meinung, du musst ein Geizhals oder ein Teufel und folglich nicht wert sein, geliebt zu werden.‘ Doch Clementina war der Auffassung, dass sie sich zwar liebten, aber dass sie ‚vernünftig‘ wären. Erst als er den Schwestern eröffnete, sie würden nach Mailand fahren, wo sie noch nie zuvor gewesen waren, genossen sie die Liebe für zwei Stunden, wie Casanova auch diesmal nicht zu vermerken vergisst. Sie lebten als Paar, doch trennten sie sich. Als er seine Memoiren schrieb, verstand er diese Entscheidung selbst nicht mehr. ‚Tränen des Schmerzes wechselten unaufhörlich mit Tränen der Liebe, und ich erneuerte neunmal das Opfer‘: acht Stunden. Sie sahen sich nie wieder, aber Casanova ‚habe Clementina niemals vergessen können‘. Drei Jahre später heiratete sie, hatte zwei Söhne, doch nie beschrieb er die Trennung von einer Frau so lang und bewegend. Am 20. März 1763 verließ er Mailand Richtung Genua.
Mit sich führte er die Geliebte Croces, die er nach Marseille bringen wollte, und der er den Namen Crosin beilegte. Sie reisten über Tortona. Zwar schien sich seine angebliche Nichte bereitwillig zu fügen, ‚aber in jenem Tone der Unterwürfigkeit, die alle Begierden tötet‘.
Als sie am 22. März 1763 in Genua ankamen, wandte er sich an Marchese Grimaldi, um herauszufinden, wo Rosalie wohne, die sechs Monate nach seiner Abreise Petri geheiratet hatte, und die eine sechs Monate alte Tochter hatte. Sie war Casanova dankbar, doch sie meinte: ‚lass uns nicht den Frieden stören, den ich dir verdanke! Von morgen an wollen wir uns auch nicht mehr duzen‘ (5, 3). Immerhin war Veronika inzwischen ihre Kammerzofe. Casanova bedang sich aus, dass Annina ihrerseits die Kammerzofe seiner „Nichte“ sein sollte. Als letztere ihren Zukünftigen kennenlernte (Croce hatte sie längst vergessen) notierte Casanova: ‚Welche Wonne empfand ich darüber, dass ich mich gleichsam als Glücksstifter ansehen durfte, den das Schicksal diesem reizenden Mädchen zugeführt hatte, um sie vom Abgrund der Schande zurückzureißen, in welchen Armut und Verzweiflung sie zu stürzen drohten!‘ (5, 3).
Casanova, der die höfische Gesellschaft liebte, spielte bei Signora Isolabella das Glücksspiel Biribi mit. Er sprengte die Bank, doch sah er, dass sich nach dem Ende des Spiels die Damen langweilten, woraufhin er selbst eine Bank eröffnete. Wenig später meldete sich Irena Rinaldi bei ihm, und er besuchte ihren Vater. Doch nachdem ihm dieser eröffnet hatte, Casanova habe mit einem der drei Biribanti unter einer Decke gesteckt, was ganz Genua zu glauben schien, und was ihm in Betrügerkreisen viel Ehre machte, verließ dieser entrüstet das Haus. Er ärgerte sich, dass ‚man mir eine Heldentat zuschrieb, deren Verdienst ich nicht beanspruchen konnte‘ (5, 3).
Casanova lud, wie so oft, zum Speisen. Signora Isolabella und Marchese Grimaldi kamen spät, ‚wie es in der vornehmen Gesellschaft üblich ist‘. Während des Essens erhielt er von seinem Haushälter Passano einen Brief der Polizei. An der Münze, die Casanova dem Haushälter geschenkt hatte, fehlten demnach zehn Karat. Sie war also beschnitten worden, was in Genua mit dem Tode geahndet wurde. Es stellte sich heraus, dass sämtliche Münzen, die Casanova gewonnen hatte, beschnitten waren. Der Marchese sorgte dafür, dass sie eingeschmolzen und das Gold zügig verkauft wurde. Der Verkauf brachte 1300 Zechinen ein. Doch im nächsten Glücksspiel verlor Casanova gleich wieder 3000. Davon beglich er zwei Drittel in Form von Wechseln, die er jedoch, als er in England war, mangels Geldmitteln protestieren lassen musste. Passano, sein ‚bitterer Feind‘, rächte sich später, indem er dafür sorgte, dass Casanova in Barcelona in Schuldhaft kam.[72] Casanova genoss wieder Annina, deren Kurzsichtigkeit es erlaubte, dass seine „Nichte“ ihn währenddessen liebkoste – er fasste sich in Geduld, auch diese für sich zu gewinnen. Doch bald musste er nach Marseille abreisen, wo ihn Frau d’Urfé erwartete.
Überraschend tauchte aus Venedig sein 29-jähriger Bruder Gaetano Alvise auf, dessen Namen Giacomo nicht einmal erwähnt. In ihm sah er seit jeher einen ‚verkommenen Menschen‘, der ihm zuwider war, und dessen er sich schämte (5, 4). Abgewiesen, drohte der Jüngere damit sich umzubringen. Doch Giacomo antwortete nur: ‚Nur zu! Das wäre das beste, was du tun könntest. Aber du bist ja zu feige.‘ Dieser gestand ihm, dass er, obwohl Priester, mit einer Frau zusammen sein wolle, die er entführt habe.
Die erste Frage, die diese „Marcolina“ stellte, war: ‚Sind Sie der Bruder dieses Lügners, dieses Ungeheuers, das mich betrogen hat?‘ Der jüngere Bruder hatte ihr, unter dem Vorwand, dort könnten Priester nach dem Wechsel der Konfession heiraten, in Genf die Ehe versprochen. Marcolina sprach nur Venezianisch, während Annina nur Genuesisch sprach – die beiden konnten sich kaum verständigen (so stark divergierten die Dialekte zu dieser Zeit). Casanova behauptete diesmal, bereits verheiratet zu sein, was sie jedoch als Lüge erkannte. Nun verbrachte sie eine Nacht mit Casanovas angeblicher Nichte. Da er ‚bei ihren wollüstigen Tollheiten anwesend sein konnte, so hatte ich nichts dagegen einzuwenden‘, sie mit nach Paris zu nehmen. Seinen Bruder wollte er ebenfalls mitnehmen, um ihn bei irgendeinem Bischof unterzubringen. Doch verbot er ihm sein Haus.
Als die kleine Reisegruppe vom Hafen abfuhr, ließ sie Annina unter Tränen zurück. Casanova versprach, auf der Rückreise von England wieder nach Genua zu kommen. Seine „Nichte“ sollte nach Marseille fahren, um dort zu heiraten. Der Zwölfruderer hatte zwei Steinkanonen und 24 Gewehre an Bord, um sich gegebenenfalls gegen Korsaren verteidigen zu können. Um seinen Bruder nicht zu ärgern, unterließ er es, ein Liebesverhältnis zu erkennen zu geben. In San Remo sah er die Gauner aus Genua wieder, doch diesmal ließ er die Münzen zuerst prüfen – und Marcolina gewann als einzige.
In Menton mussten sie wegen starker Winde wieder an Land gehen, außerdem waren alle mit Ausnahme Casanovas seekrank. Dort traf er jenen Fürsten von Monaco, dessen Namen Casanova noch nicht einmal nennt. Inzwischen war er mit der überaus vermögenden ‚Marchesa Brignole‘ verheiratet, doch verfolgte Casanova mit Missbilligung den kalten Fürsten, wie er in Gegenwart seiner Frau einer Zofe hinterherlief. So verließ er fast formlos den Hof, an dem er nicht willkommen war. Erst als der Fürst von den beiden Frauen in Casanovas Gefolge erfuhr, wollte er sogar selbst zum Schiff kommen.
Doch Casanova befahl den sofortigen Aufbruch nach Antibes (obwohl sein Bruder und sein Diener noch nicht an Bord waren), denn er tue was ihm gefalle. Seine „Nichte“, die während der ganzen Zeit befürchtet hatte, ihre Liebe würde nur als Dankbarkeit aufgefasst, gestand Casanova ihre Gefühle. Diesmal gab er ausnahmsweise nicht die Zahl der gemeinsam verbrachten Stunden an. Marcolina freute sich über das Glück der beiden und zog sich zurück (5, 4), zumal sie wusste, dass jene nicht Casanovas Nichte war (5, 5).
Da Casanova die Trennung von seiner „Nichte“ in Marseille vor Augen stand, wählte er möglichst kurze Tagesetappen, um noch Zeit zu gewinnen. Für die Nacht in Fréjus gibt Casanova wieder die Dauer an, nämlich zwölf Stunden. Ebenso verhielt es sich in ‚Luc, Brignoles und Aubagne, wo ich die sechste und letzte Nacht des Glückes verbrachte‘ (5, 5). Marcolina, die wegen der Trennung weinte, brachte Casanova gleichfalls unter. Ihr händigte er ihr Geld aus und rundete auf 1000 ‚Silberdukaten‘ auf.
Er selbst bezog ein Zimmer unmittelbar neben den Räumen Urfés. Deren Ausplünderung bemühte er sich zu rechtfertigen: ‚Ich war in mein Wüstlingsleben versunken und liebte ein Dasein, wie ich es führte; darum machte ich mir den Wahnsinn der Frau zunutze, die sich doch nur bemüht hätte, sich von einem anderen betrügen zu lassen, wenn ich sie nicht betrogen hätte; denn im Grunde betrog sie doch nur ihr eigener Geist, da für sie ihr Irrtum gleichbedeutend war mit ihrem Leben.‘ Er glaubte zu wissen, dass er keinem Menschen unrecht tue, wenn er sich ‚die Verrücktheit dieser sehr reichen Dame zunutze machte‘, und – so bekennt er – weil für ihn ‚der Vorteil außerordentlich groß war‘ (5, 5). Allein zur Weihung der Geschenke an die sieben Planeten brauchte Casanova eine Woche. Dann folgte eine Woche des ‚Planetenkultus‘.
Er besuchte seine ‚Nichte‘ und Marcolina, die meinte, er ‚scheine nur darum die Welt zu bereisen, um unglückliche junge Mädchen glücklich zu machen, vorausgesetzt, daß ich sie hübsch fände‘ (5, 5). Er betonte, sich an ihrem Appetit zu erfreuen, wie immer bei Frauen, und das Essen in der Provence und besonders in Marseille sei ganz ausgezeichnet, ‚abgesehen vom Geflügel, das nichts taugt; allerdings muß man einen Geschmack für Knoblauch haben, denn dieses Gewürz wird an alles getan‘. Maßvoll angewandt sei es ein ‚Reizmittel sondergleichen‘.
Doch bald beschwerte sich Marcolina über Casanovas Bruder, der ihr nachstelle und unverschämte Bemerkungen gemacht habe. Casanova zwang ihn, per ‚Schnellpost‘ nach Paris abzureisen.
Da er vorhatte, sich mit Urfé zu vereinigen, sich seiner Potenz aber nicht sicher war, da sie ihn nicht anzog, sah er Marcolinas Anwesenheit bei der Zeremonie vor. Diese, in die er sich immer mehr verliebte, war ‚ganz und gar von Wollust durchdrungen‘, was ihm ungemein gefiel. Sie sollte als Stumme beim Bad mit d’Urfé anwesend sein, auch wenn dies beiden unangenehm war.
Passano, der sich von dem Betrug an Urfé einen großen Verdienst erhoffte, wurde von Casanova in dieser Hinsicht enttäuscht. So griff dieser zum Mittel einer brieflichen Denunziation. Doch die Marquise glaubte Passano kein Wort, der zu dieser Zeit mittels Quecksilber wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt wurde. Casanova bot ihm, den er sofort entließ, an, entweder ins Hospital zu gehen, wo er als Pestkranker ausgewiesen werden würde, oder nach Lyon abzureisen, wo er ihm 100 Louis zusagte. Ausdrücklich duzte er Passano dabei, den er sonst immer gesiezt hatte. Damit wurde er jedenfalls seine beiden lästigen Begleiter los.
Inzwischen hatte Casanova die Kisten mit den wertvollen Opfergaben der Frau Urfé gegen solche ausgetauscht, in denen sich nur Blei befand. Diese wurden am Meer ‚geopfert‘, während sich die ursprünglichen Kisten bereits in seinem Zimmer befanden. Die Nacht vor der Vereinigung verbrachte er mit Marcolina, jedoch vollkommen enthaltsam, um seine Kräfte aufzusparen.
Diese überreichte der Marquise einen Brief, in dem sie ihr Schweigen erklärte. Tatsächlich gelang die erste Vereinigung mit der 70-Jährigen. Doch beim zweiten Mal musste Casanova, zumal sein schlechtes Gewissen sich meldete, bereits einen Höhepunkt vortäuschen. Auch beim dritten Mal erging es ihm so, obwohl sich Marcolina als ‚vollendete Lesbierin‘ erwies. Urfé beschenkte die junge Frau dafür mit ihrem prachtvollen Halsband. Casanova versprach der Marquise, sie ‚werde zu Anfang des Monats Februar mit ihrem anderen Ich niederkommen, das dem Geschlecht des Erzeugers angehören werde‘. Am nächsten Tag bat sie ihn, sie zu heiraten, um Erziehung und Vermögen des zu erwartenden Sohnes zu sichern.
Mit Marcolina, in die sich sogar die Marquise verliebt hatte, verbrachte er zuvor ‚eine der köstlichsten Nächte, die ich nur mit den Liebesnächten vergleichen kann, die ich in Parma mit Henriette und auf Murano mit meiner unvergleichlichen Nonne verlebt hatte. Wir blieben vierzehn Stunden im Bett‘ (5, 5). Casanova griff hier ausnahmsweise zu einem Vergleich mit anderen Geliebten. In der Tat war Marcolina von größtem Einfluss auf ihn, denn sie war die Erste, die ihm riet, sein Leben aufzuschreiben.[73]
Als die beiden später ins Theater gingen, traf Casanova wieder auf die Schwestern Rangoni. Babet ‚war zwar nur die Tochter eines Marseiller Kaufmanns, des römischen Konsuls, aber sie verdiente, Fürstin zu werden‘. Dort konstatierte er: ‚Ihr sehr eitler Gatte ist entzückt, daß die Leser dieser Almanache seine Gemahlin für eine Angehörige des erlauchten Hauses Medini halten. … Dieselben Almanache machen aus Medini den Namen Medici, was ebenso unschuldig ist. Diese Lügen haben ihren Ursprung in dem dummen Stolz des Adels, der sich allen Ernstes einbildet, von einer höheren Natur als die übrigen Menschen zu sein, weil er im Besitz von Namen und Würden ist, die nur zu oft durch niedrige Handlungen erworben wurden. Man muß ihm das hingehen lassen, weil die Dinge dieser Welt doch nur den Wert haben, den man ihnen beimißt, und weil man doch den stolzesten Adel sofort seines Glanzes entkleiden kann, wenn man ihn so sieht, wie er ist‘ (5, 5).
Fürst Gonzaga Solferino, verarmt, war dennoch von hoher Bildung und literarischen Kenntnissen. Casanova stellte nun Marcolina als seine ‚Nichte‘ vor; materiell sicherte er sie umfassend ab. Seine ‚andere Nichte‘ brachte er zu ihrem Vater, wo bald ihr zukünftiger Ehemann erschien, ebenso wie Marcolina. Er empfand diesen Augenblick als einen der schönsten seines Lebens. ‚Mein Geist war sozusagen vollständig von jener Ruhe durchdrungen, die das Gefühl einer guten Handlung verleiht. Ich sah in mir den Verfasser einer Komödie, deren Ausgang so außerordentlich glücklich war.‘ Doch gelang ihm noch mehr, denn: ‚Ich bin, meinem Charakter entsprechend, stets sehr eifersüchtig auf meine Geliebten gewesen, wenn ich aber voraussehen konnte, daß sie durch einen Nebenbuhler eine vorteilhafte Lebensstellung erhalten würden, machte meine Eifersucht einem edleren Gefühle Platz.‘ So wollte er es auch Marcolina ermöglichen, einen Mann zu gewinnen, doch diese lehnte empört ab. Sie wollte nur nach Venedig zurückkehren, wenn Casanova ihr dies befehlen würde.
Auf dem Weg nach Lyon zwang sie ein Achsbruch, eine Einladung anzunehmen, um die Reparatur abzuwarten. Der Gastgeber fragte Casanova, ob Marcolina seine Tochter sei, was er nicht ernst nahm, ‚denn obgleich ich zwanzig Jahre älter war als sie, gab man mir doch ganz allgemein zehn Jahre weniger, als ich in Wirklichkeit zählte‘ (5, 6). Casanova wurde (seiner Meinung nach) wohl auf Ende 20 geschätzt, statt Ende 30. Nachdem Marcolina die Nacht mit der 33-jährigen ‚Gräfin‘ verbracht hatte, wurde Casanova und seine Begleitung aus dem Haus komplimentiert, wie er glaubte. Doch schämte sich die Frau offenbar nur, seine Geliebte zur Untreue verführt zu haben. Nicht zum ersten Mal bat diese Casanova, sie nach London mitzunehmen, eine Stadt von einer ‚Million Einwohner‘ (5, 6), zumal dort ihr Bruder mütterlicherseits, Mattio Bosi, lebe. Der wiederum sei der Kammerdiener von ‚Monsignore Querini, der mit dem Prokurator Morosini von der venetianischen Regierung nach London geschickt worden‘ sei. Diese Glückwunsch-Gesandtschaft werde passend im Juli nach Venedig zurückreisen.[74] Casanova sagte der Plan zu.
In Avignon durfte sie ihm, nach Anweisung der „Gräfin“, einen Brief übergeben, in dem einzig und allein das Wort „Henriette“ stand. Der Name seiner großen Liebe, die er vor 16 Jahren zuletzt gesehen hatte. Casanova war eine Viertelstunde wie betäubt. Bei dieser Gelegenheit räumte er den Grund für seine Englandreise ein: ‚Ich gehe nach England, weil ich versuchen will, meine Tochter aus den Händen ihrer Mutter zu befreien‘ (5, 6).
Auch traf er dort Irene wieder, in die sich Marcolina sogleich verliebte. Wieder einmal schaute er zwei Frauen zu, doch zogen die beiden ihn mit ins Spiel. Die Rinaldi, ihre Eltern, die ohne Geld waren, löste er bei ihrem Wirt aus. Casanova und Irene sollten sich erst zehn Jahre später wiedersehen. Marcolina gestand Casanova freimütig, dass sie schon als 7-Jährige Frauen liebte, und dass sie schon 400 Freundinnen gehabt habe – diesen ‚Geschmack‘ habe sie ‚Von der Natur‘ –; ihren ersten Freund hatte sie mit 11. Ihr erster Mann war ihr Beichtvater Molini vom Kloster San Zanipolo – was Casanova unkommentiert lässt.
Urfé sollte ihre Mannwerdung in Paris erwarten. Alle Maßnahmen wurden getroffen, die angeblich verhindern sollten, dass sie, bzw. er in Armut leben würde. Casanova würde nach London gehen, ihr einen Edelmann aus England zur Ehe schicken; das Orakel befahl ihr, in drei Tagen abzureisen. Den kleinen ‚Aranda‘, der ihn gleichfalls versuchte zu verraten, wollte er zu seiner Mutter nach London bringen. Allerdings glaubte Passano, Casanova habe ihn vergiften lassen. Er behauptete, Casanova sei ‚Hexenmeister, Zauberer, Fälscher, Dieb, Spion, Münzenbeschneider, Giftmischer‘ (5, 6). Obwohl ihm ein Herr Bono, sein Bankier, riet, Lyon zu verlassen, ließ sich Casanova von ihm einen Anwalt empfehlen. Doch vertrat dieser bereits Passano. Genauso wie der erste Anwalt, so lehnte auch der zweite, der nun Casanova vertreten wollte, den Geldbetrag ab, der ihm zurückgelassen worden war – was Casanova dazu veranlasste zu schreiben: ‚nirgends habe ich so redliche Anwälte gefunden wie in Frankreich‘ (5, 6). Währenddessen fühlte Urfé schon die Symptome der Schwangerschaft. Doch zum ersten Mal notiert Casanova, er habe schlecht geschlafen. Einige Tage später bot Passano an, gegen 100 Louis die Stadt zu verlassen, die ihm Bono hinter dem Rücken Casanovas gab. Diesem gestand er später, dass er ihm einen Freundschaftsdienst erweisen wollte, indem er einen unabsehbaren Skandal vermeiden geholfen habe. Casanova war sehr erleichtert (5, 6).
Doch bald hatte er ein Vorgefühl, dass er sich bald von Marcolina würde trennen müssen. Tatsächlich sah er die Venezianer aus London, ‚Herrn Querini, den Prokurator Morosini, Herrn Memmo und den Professor an der Universität Padua, Grafen Stratico‘ in der Theaterloge – letzterer wieder ein Mediziner.[75] Während die beiden Adligen Casanova höflich begrüßten, der ihnen seine Aufwartung machte, war ‚Memmo … sichtlich aufgeregt, denn er erinnerte sich wohl, welchen Anteil seine Mutter an der Verschwörung gehabt hatte, die mich acht Jahre vorher unter die Bleidächer gebracht hatte‘ (5, 7).
Als Casanova der 17-jährigen Marcolina mitteilte, mit wem er gesprochen hatte, erkannte sie sofort die Folgen für sie. Sie nutzte bald die Gelegenheit, dem Querini die Hand zu küssen. Casanova riet ihr, gegen die Herren gleichermaßen freundlich zu sein, ihren Onkel Mattio hingegen nicht zu beachten. Marcolina riet Casanova, sich unter Querinis Schutz zu stellen und nur unter dieser Bedingung nach Venedig zurückkehren zu wollen. Er selbst wollte ‚in den Augen meiner stolzen aristokratischen Landsleute glänzen‘, wie er schreibt (5, 7). Seine prächtige Kleidung stellte einen Wert von 150.000 Francs dar. Er fand das Gepränge ‚kindisch‘, doch: ‚die tyrannischen Oberen, die mich gezwungen hatten, meine Heimat ohne andere Mittel als meinen Geist zu verlassen, sollten wissen, daß ich davon so guten Gebrauch gemacht hatte, um sie auslachen zu können.‘ Außerdem sollte dies Bragadin wissen, sein alter Gönner. Casanova erzählte zwei Stunden lang von seiner Flucht aus den Bleikammern. Ihre gefühlvolle Reaktion darauf verriet, dass sie nicht seine Nichte war, und es gelang ihr, den frommen, alten Querini für sich einzunehmen. Casanova vermerkte: ‚Das junge Mädchen war dazu geboren, eine Rolle zu spielen, sei es auf einer Bühne, sei es auf einem Throne – was so ziemlich auf das Gleiche hinauskommt.‘
Querini wusste inzwischen, dass sie die Nichte seines Kammerdieners war, was Casanova einräumte. Nun musste Marcolina nur noch dem Ansinnen Querinis zustimmen und beim Anblick ihres Onkels die Überraschte spielen. Querini, der um seinen Ruf fürchtete, sich jedoch auch ein wenig verliebte, stellte die Bedingung, dass Marcolina bei seiner Haushälterin schlafen würde. Als Casanova ihr seine Kutsche schenkte, musste er sich vor Rührung abwenden.
Morosini erklärte sich bereit, Casanova ein Empfehlungsschreiben für ‚Minister Lord Egremont‘ mitzugeben, ebenso für den ‚Residenten der Republik Venedig, Herrn Zuccata‘. Dies konnte er tun, da ihm die Inquisitoren nie den Grund für Casanovas Verhaftung mitgeteilt hatten. Casanova schreibt: Danach: ‚warf ich mich auf mein Bett und überließ mich meinen Tränen, wie wenn man mir ein Gut entrissen hätte, das ich nicht imstande gewesen wäre zu verteidigen‘ (5, 7). Alle Wertsachen, die Marcolina veräußern könne, dazu ein Wechsel über 5.000 Dukaten, würden es ihr gestatten von 10.000 Dukaten in Ehren zu leben. Sie verbrachten eine letzte Nacht: ‚Unaufhörlich fragte sie mich immer wieder, wie ich mir mein eigenes Glück zerstören könnte, und sie hatte recht; denn ich begriff dies ebensowenig wie sie.‘ Casanova fühlte sich, wie er erklärte, von einer Kraft angetrieben, der er absichtlich keinen Widerstand entgegensetzte, die er aber nicht verstand. Nie beschrieb er so ausführlich die gemeinsame Traurigkeit – erst elf Jahre später sollten sie sich wiedersehen.
Nach drei Tagen überwand er seine Trauer und beschaffte sich eine zweirädrige Kutsche. Doch nun baten eine Adele und ihr Vater Moreau ihn, sie mitzunehmen, wozu er sich nach langem Bitten auch bereiterklärte. Er übernahm sogar alle Kosten mit der Begründung: ‚Sie haben mir gesagt. Sie seien arm; das ist keine Schande. Und so will ich Ihnen sagen, daß ich reich bin; Reichtum aber ist nur dann ein Verdienst, wenn man ihn benutzt, um Gutes zu tun‘ (5, 7). Die drei wollten Richtung Nevers aufbrechen, doch der Mann, der die Lampen für die Nachtfahrt kontrolliert hatte, hatte sie beschädigt, um sich auf diese Weise ein Zuverdienst zu ergaunern. Casanova vertrieb ihn mit der Pistole in der Hand und mit Tritten – wobei der Wirt und die anderen Gäste ihm beipflichteten. Ein herbeigeholter Laternenmacher lachte über die ‚Spitzbüberei‘ seines Kollegen. Casanova ließ den Betrüger ins Gefängnis bringen, war aber dermaßen in Rage geraten, dass er sich bei Adele entschuldigen musste. Auf Bitten der Mutter und der Familie des Betrügers sorgte er für dessen Wiederfreilassung.
Auf dem Einsitzer saßen er und Adele gezwungenermaßen recht eng, und, weil Frauen mit Hosen ihm ‚immer ein Greuel [waren], besonders aber mit schwarzen Hosen‘, weil dies ihn an seine Trauer erinnerte, wechselte sie ihre Unterwäsche. Casanova ließ Adele Zeit, und erst nach Tagen bot sich Gelegenheit. Wie immer bei ‚Jungfrauen‘ berichtet er, die ‚Kleine‘ half ‚mit aller Glut …, um das Werk zu erleichtern, so war doch der erste Angriff so mühevoll wie eine von den Arbeiten des Herkules‘, um dann zu schreiben, dass ‚nach drei aufeinanderfolgenden Kämpfen das Schlachtfeld ganz von Blut überströmt war‘. Erst in Nevers stieß der Vater wieder zu ihnen, da er sich Geld beschafft hatte. Wie schon in Moulin allerlei Schnitzwaren, so wollten Frauen ihnen auch dort ‚allerlei Tand verkaufen‘ – ob dies auch andernorts vorkam, bleibt unklar. Schließlich kamen sie nach ‚Fontainebleau, wo ich meine schöne Adele zum letztenmal besaß‘ (5, 7). Sein Versprechen, sie auf der Rückreise von England zu besuchen, konnte er nicht einhalten.
In Paris besuchte er sogleich Urfé (5, 8). Beim Besuch des Balletts entdeckte er zu seiner Überraschung Corticelli, traf auch Balletti, der Pensionär war. Dann besuchte er seinen Bruder Checco und dessen Frau, die im Begriff standen, den jüngsten Bruder hinauszuwerfen. Sie hatten sich dafür eingesetzt, dass er eine Stellung als Priester bekomme, doch war diesem der Lohn zu gering, und außerdem wollte er niemandem dienen. Darüber hinaus hatte er das Küchenpersonal belästigt, einige hatten deshalb gekündigt. Auch Casanova war wütend auf ihn, denn er sah in ihm einen Verräter: ‚Ich besitze den Brief, den du an Passano geschrieben hast, und wonach ich ein Betrüger, ein Spion, ein Dukatenbeschneider, ein Giftmischer bin.‘ Dennoch bot er ihm an, für seine Reise nach Rom die Kosten zu übernehmen, nämlich als Anweisungen zu je 5 Louis in Lyon, Turin, Genua, Florenz und Rom, wenn er nur verschwände. Wenige Tage später sollte sein Diener Clairmont den Bruder hinauswerfen und ihn nie wieder in sein Haus lassen. Casanova hätte seinen Bruder sogar gern am Galgen gesehen, denn die Rachsucht war stets seine ‚höchste Leidenschaft‘ – so rechtfertigte er ausdrücklich gegenüber den Lesern sein Verhalten, das diese als ‚barbarisch‘ hätten ansehen können. Die Brüder sahen sich erst sechs Jahre später in Rom wieder. Seine Schwägerin beklagte sich, dass sie immer noch Jungfrau sei, nach zehn Jahren Ehe. Doch fürchtete sie den Skandal, wenn sie die aus diesem Grunde annullierbare Ehe lösen würde.
Auch seine zweite Gönnerin, Frau Rumain, besuchte er, doch beklagte sich diese nun, dass seine Prophezeiung, ihr Mann sollte doch schon vor einem halben Jahr gestorben sein, nicht eingetreten wäre. Doch viel mehr bedrängte sie, dass sie nicht mehr singen konnte, da sie seit drei Monaten ihre Stimme verloren hatte: ‚Man hat mich mit Arzneien vollgestopft, die alle nichts genützt haben‘ (5, 8). Casanova sollte das Orakel nach einem Heilmittel befragen. Erfahren, wie er war, verordnete er ihr einen ‚Sonnenkultus‘, der sie dazu veranlassen musste, einem gesünderen Lebenswandel zu folgen. So ging sie früh schlafen, um vor Sonnenaufgang mindestens sieben Stunden geschlafen zu haben, bevor sie einen ‚Kultus‘ ausüben konnte, auch sollte sie wenig Kaffee trinken. In London erreichte ihn ein Dankesbrief für ihre Heilung. Ansonsten hatte sie die übliche Not, die Zeit bis zum Mittagessen auszufüllen. Zwei Uhr ‚war damals die Essensstunde der vornehmen Welt‘.
Bei Urfé fand Casanova einen Brief Teresa Imers, die ihren Sohn abholen wollte; Casanova fand ihre Art ‚unverschämt‘. „Aranda“ sollte nun, gekleidet als ‚Kabinettskurier‘, nach Abbeville reisen. Seine eigene Reise nach London bereitete er ebenfalls vor, während Aranda noch glaubte, bald nach Paris zurückzukehren. ‚Ich wurde von allen verraten, deren ich mich bei meinem Zauberschwindel mit der Frau von Urfé bediente, nur von Marcolina nicht, und alle, mit Ausnahme der schönen und geistreichen Venetianerin, sind im Unglück gestorben.‘ Sie verabschiedeten sich mit großer Herzenswärme, während Casanova glaubte, sie nie wiederzusehen. Die Corticelli, die durch ihren ‚verruchten‘ Lebenswandel ins Unglück geraten war, beklagte sich über Casanova, der einsah, dass er die Ursache für ihr Unglück war. Zunächst gab er ihr Geld für ihre Gesundung. Er schickte sie inkognito für sechs Wochen zu einem Arzt. Danach sollte sie nach Bologna zurückkehren. Doch Marianna Corticelli starb während ihrer Kur (worin Casanova irrt[76]).
Aranda versuchte heimlich nach Paris zurückzukehren, doch Casanova ließ ihn einfangen. In Calais gab er ‚Aranda‘ seinen bescheidenen Namen ‚Trenti‘ zurück (5, 9). Mit dem Kurier des Herzogs von Bedford, des englischen Botschafters, einigte er sich darauf, dass ihm das gemietete Schiff zur Verfügung stehe. Nach zweieinhalb Stunden hatten sie ‚den Kanal‘ überquert.
Die Durchsuchung durch den englischen Zoll empfand er als ‚kleinlich, schikanös, indiskret, ja sogar unverschämt‘. ‚Der Engländer beschränkt sich auf die Rechte, die die Gesetze ihm zuweisen, und erlaubt sich nur, was die Gesetze nicht verbieten; dies macht ihn schroff, schwer zu behandeln und grob.‘ Ganz im Gegensatz zu den französischen Beamten, wie Casanova konstatierte. Zudem: ‚Nichts ist in England wie im übrigen Europa: die Erde selber hat eine andere Färbung, und das Wasser der Themse hat einen Geschmack, den man bei keinem anderen Flusse trifft.‘
Darüber hinaus fiel Casanova die ‚allgemeine Sauberkeit‘ auf, dann ‚die Schönheit der Landschaft, die Sorgfalt der Landbestellung, die kräftige Nahrung, die schönen Straßen und Postwagen, die Gerechtigkeit der Fahrpreise, die Leichtigkeit, wie diese mit einem Stück Papier bezahlt werden konnten, die Schnelligkeit ihrer Wagenpferde, obgleich diese stets nur trabten, und endlich die eigentümliche Anlage ihrer Städte, die auf dem Weg von Dover nach London liegen, wie zum Beispiel die sehr volkreichen Städte Canterbury und Rochester, die man mit großen Därmen vergleichen könnte, denn sie sind außerordentlich lang und haben fast gar keine Breite‘ (5, 9).
‚Gegen Abend stiegen sie bei Madame Cornelis ab, wie sich Teresa nannte; sie war zuerst mit dem Schauspieler Imer und hierauf mit dem Tänzer Pompeati verheiratet gewesen, der sich in Wien das Leben nahm‘.[77] In London trug sie den Namen ‚ihres Liebhabers Cornelius Rigerboos‘, den sie ruiniert hatte. Sie wohnte ‚am Soho-Square, dem venetianischen Geschäftsträger gegenüber‘, und hatte 33 Bediente. Auch Casanova wurde wie ein ‚Subalterner‘ behandelt, doch hatte er seinen Zorn diesmal im Griff.
Durch Zufall geriet er ins ‚Café d’Orange‘ (Prince of Orange Coffee House gegenüber dem Haymarket Theatre), das verrufenste in London. Dort, unter Italienern, lernte er den Schriftsteller (Vincenzo) Martinelli (1702–1785) kennen, dem er gleich vier Ausgaben seiner Decamerone-Übersetzung abkaufte, die noch unfertig war.[78] Dieser vermittelte ihm sofort ein Wohnhaus in Pall-Mall, womit er bereits nach zwei Stunden eine ihm angemessen erscheinende Unterkunft besaß.[79]
Imer-Cornelis behandelte ihn gleichgültig, erzählte nur von sich und ihren gewaltigen Festen, die sie dem Adel gab (der in drei Wochen, wie üblich, aufs Land ziehen würde), von ihren Schulden, ihrem Prozess um das Eigentum an ihrem Haus. Die Tochter enthielt sie ihm tagelang vor, mokierte sich über die Unerzogenheit des Sohnes (für den Casanova ja verantwortlich gewesen war). Vom Venezianer Zuccata wurde er so kalt abgefertigt, dass Casanova ihn nie wieder aufsuchte: ‚Es war von seiner Seite aristokratischer Hochmut‘. Dann übergab er Lord Egremont auftragsgemäß den Brief, der jedoch wenige Tage später starb. So nutzten ihm beide Empfehlungsschreiben Morosinis nichts.
Im Gegensatz dazu brachte er den Brief des ‚Marquis de Chauvelin zum französischen Botschafter, dem Grafen Guerchy‘, der ihn freundlich empfing. An Guerchys Tafel lernte er den ‚Gesandtschaftssekretär Chevalier d’Eon‘ kennen. Dieser ‚war eine schöne Frau, die vor ihrem Eintritt in den diplomatischen Dienst Advokat und Dragonerrittmeister gewesen war‘. Sie diente Ludwig XV. ‚als tapferer Soldat und als geschickter Unterhändler‘ (5, 9).
Trotz seiner fehlenden Sprachkenntnisse besuchte er Theater, Bankiers, bei denen er ein Vermögen von 300.000 Francs deponiert hatte, Badehäuser, die Börse. ‚Ein Kaufmann, an den ich mich gewandt hatte, verschaffte mir einen Neger, der englisch, französisch und italienisch sprach‘ – er hieß Jarbe – sowie ‚einen französisch sprechenden, sehr guten englischen Koch, der mit seiner ganzen Familie in meine Dienste trat‘.
Der Gesandte stellte ihn schließlich König Georg III. vor; er parlierte mit der Königin, doch die Gelegenheit einer Rache an Zuccata, der gleichfalls zugegen war, musste er auslassen.
Er ließ sich am nächsten Tag zur Mutter seiner Kinder tragen, denn: ‚Ein Herr in Hoftracht kann es nicht wagen, zu Fuß sich in den Straßen von London sehen zu lassen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von gemeinem Pack mit Kot beworfen zu werden‘.
Sein ‚Herz zog sich schmerzlich zusammen‘, als Sophie (1753/54–1823) eintrat, sie sich jedoch vor seiner Umarmung zurückzog, eine Verbeugung machte und artig vorgefertigte Sätze aufsagte. Die Mutter redete Englisch in seiner Gegenwart, obwohl alle Anwesenden Französisch verstanden. Er rief ein ‚scherzhaftes Gespräch über meine Beobachtungen englischer Gebräuche herbei, doch vermied ich sorgfältig jede Kritik, da eine solche stets den Nationalstolz verletzt, wenn ein Ausländer sie übt‘. Dann wandte er sich seiner Tochter zu, die bald froh war, sich keinen Zwang mehr auferlegen zu müssen, nämlich den, ihn nicht anzusehen: ‚Meine kleine Sophie … sah mich unaufhörlich mit einem Ausdruck kindlicher Zärtlichkeit an, der mich entzückte.‘ Sie spielte Klavier und Gitarre. ‚Sonst darf in ganz England am Sonntag niemand zu spielen oder Musik zu machen wagen. Die zahlreichen Spione, die sich in den Straßen der Hauptstadt herumtreiben, horchen auf jedes Geräusch, das aus den Gesellschaftszimmern der Häuser dringt‘, jedoch im Hofbezirk war dies sehr wohl gestattet. ‚Dafür kann aber der Engländer ungestraft den Tag Gottes in den Schenken feiern oder in den Freudenhäusern, von denen die Stadt wimmelt.‘
Nun besuchte Casanova Lady Harrington, die 40 Jahre zählte und ‚noch schön‘ war, und die ihn bei der Königin gesehen hatte. Sie hatte vier erwachsene Töchter. Er solle mit seinem einjährigen Besuch in London damit beginnen ‚am Donnerstag den ganzen Adel bei Madame Cornelis am Soho-Square zu sehen‘. Sie verkaufte ihm ihre Eintrittskarte.
Nun hatte seinerzeit Lord Percy ihm ein Porträt seiner Mutter gegeben, und er habe ihm gesagt, es könne als Empfehlungsbrief dienen, wenn er es seiner Mutter überreichte. Beim Glücksspiel zahlte er mit Gold, was geradezu als ‚Verstoß‘ galt, denn nicht einmal mit Münzen wurde gezahlt. Man zahlte ausschließlich in Banknoten (dies galt als Vertrauensbeweis in die Stabilität der Staatsfinanzen).
Zudem lernte er ‚Lord Hervey kennen, den Eroberer von Havana‘ (der ihn später über die andersartigen Rechts- und Ehrvorstellungen der Engländer aufklärte, etwa: ‚Da wir wissen, daß dies Ungeziefer [Straßenräuber] in unserem Lande vorhanden ist, so führen wir Engländer auf Reisen zwei Börsen mit uns, eine kleine für die Räuber, … eine andere für unsere Bedürfnisse‘).
Ansonsten speiste Casanova zu Hause, was ihm zeitweise ein Eremitendasein aufnötigte. Der Engländer esse hauptsächlich Fleisch, Suppen seien eher für Kranke gedacht. ‚Brot ißt er fast gar nicht … Suppe zu essen wird für eine große Verschwendung angesehen, weil nicht einmal die Dienstboten das Suppenfleisch würden essen wollen. Sie behaupten, mit dem Kochfleisch könne man nur die Hunde füttern. Allerdings ist das gesalzene Rindfleisch, das sie anstatt der Suppe essen, ganz ausgezeichnet. Anders ist es mit ihrem Bier; es war mir unmöglich, mich an dieses zu gewöhnen, denn es erschien mir unerträglich bitter‘ (5, 9). Casanova hingegen liebte Suppen.
Sein Besuch im Drury-Lane-Theater, wo er ‚ein Beispiel von den etwas rauhen Sitten dieser Inselbewohner‘ erlebte, endete in einem Fiasko. Die Truppe konnte diesmal ihr Stück nicht geben, was nicht nur zu Missfallenskundgebungen Anlass gab. Als einige brüllten: ‚Rette sich wer kann‘, verließ das Monarchenpaar und seine Gesellschaft ‚so schnell wie möglich das Haus‘, das nun bis auf die Grundmauern verwüstet wurde. Nur diese widerstanden der Wut des ‚Pöbels, der diese ganze Verwüstung nur aus Übermut anrichtete, weil es ihm Vergnügen bereitete, seine Macht zu zeigen.‘ Danach betrank man sich in den Schenken. 14 Tage später wurde schon wieder eine neue Vorstellung gegeben, der Theatersaal war bereits wiederhergestellt. Garrick, der berühmte Schauspieler, musste auf Knien um Verzeihung bitten. Selbst die Monarchen zeigten sich angesichts dieser Unsicherheit nur selten in der Öffentlichkeit, und wenn, dann unter dem Schutz hunderter von ‚Constablern‘.
Teresa war so hoch verschuldet, dass sie nur sonntags auf die Straße zu gehen wagte, denn an diesem Wochentag durfte niemand seine Schulden eintreiben. Casanova bedauerte sie ausdrücklich nur wegen ihrer Kinder. Er folgte ihrer nicht ausgesprochenen Einladung, und jedermann hielt ihn für Teresas Mann – wegen der Ähnlichkeit mit ihrer gemeinsamen Tochter. Er tanzte mit Sophie ein Menuett. Während sie glänzte, blieb ihr Bruder linkisch und er tat Casanova leid. ‚Die Cornelis hatte mehr als zwölfhundert Guineen eingenommen; aber die Ausgaben waren ungeheuer; denn es herrschte keine vernünftige Einteilung, und es war keine einzige von den Vorsichtsmaßregeln getroffen worden, die notwendig gewesen wären, um zu verhindern, daß an allen Ecken und Enden gestohlen wurde‘ (5, 10).
Lord Pembroke hatte ihm den Hinweis gegeben, man könne in der Staven-Tavern hübsche Engländerinnen kennen lernen. Der ‚Bordellwirt‘ stellte ihm ein Mädchen nach dem anderen vor, die Casanova alle nicht zusagten. Er bezahlte die Sänften jeweils, und zwar zehn an der Zahl, bis er begriff, dass das Ganze dazu diente, diesen Trägern einen Verdienst zu verschaffen. Nun verzichtete Casanova und begnügte sich damit zu speisen.
Bei einer Feier in Ranelagh tanzte er einige Menuette und trank Tee. Doch nach der Dunkelheit war sein Kutscher verschwunden, und er nahm erfreut das Angebot einer ‚hübschen Frau‘ an, ihn in ihrer Kutsche mitzunehmen – eine Gelegenheit zu einem ‚hübschen Abenteuer‘, die sich Casanova nicht entgehen ließ, denn er hatte sie ‚sanft und hingebend gefunden‘. Sie sagte ihm ein neues Treffen zu, doch sollte er verschwiegen sein. Als sie sich zwei Wochen später zufälligerweise bei einer Gesellschaft trafen, konterte sie, als er sie bat, ihn vorzustellen: ‚Ich erinnere mich Ihrer sehr gut; aber ein toller Streich gibt keinen Anspruch auf Bekanntschaft.‘
Hingegen warf ihm bei anderer Gelegenheit eine Tänzerin Kusshände zu, nämlich Madame Binetti, die er vier Jahre zuvor in Stuttgart kennen gelernt hatte. Sie und ihr Mann tanzten im Theater am Haymarket. Sie nannte Casanova ihren ‚Doyen‘, ‚weil ich der älteste von ihren Bekannten war‘. Sie erklärte ihm, dass sie nicht mit ihrem Mann zusammenwohnte, weil das Gesetz es erlaube, dass ein Mann den Liebhaber seiner Frau verhaften lasse. Ihr Mann wiederum wusste von ihren „Einnahmen“ und zwang sie, ihm die Summen herauszugeben. Casanova begriff, dass England sehr gute Gesetze habe, aber dass ‚leicht Mißbrauch mit ihnen getrieben werden kann‘. ‚Infolgedessen ist man genötigt, unaufhörlich neue Gesetze zu erlassen und die alten durch neue Auslegungen zu erläutern‘ (5, 10).
Von Pembroke erhielt er auch eine Liste der in Frage kommenden ‚Mädchen‘. Casanova schickte ‚Jarbe zu einer von den Schönen‘, doch dieses, und auch das nächste missfielen ihm. In Covent-Garden sprach er nun selbst ein Mädchen an, das für drei Guineen mit ihm ging. Sein Geschmack und derjenige von Pembroke stimmten in dieser Hinsicht nicht überein. Als sich in seinem Haus die Binetti und Pembroke begegneten, stellte sich heraus, dass er sie bereits seit sechs Monaten liebte – doch war sie nicht darauf eingegangen, denn Pembroke galt als Wüstling, der eine Frau immer nur eine Nacht ertragen konnte.
In Vauxhall traf er den ‚französischen Offizier Mallingan, dem ich in Aachen meine Börse geöffnet hatte‘. Wieder hätte er misstrauischer sein sollen: Mallingan stellte ihm einen Herrn vor. ‚Es war ein Mann von vierzig Jahren … er nannte sich Friedrich und war der Sohn des verstorbenen sogenannten Königs Theodor von Korsika, der … im größten Elend gestorben war, einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, worin unbarmherzige Gläubiger ihn sechs oder sieben Jahre lang eingesperrt gehalten hatten. Ich hätte besser getan, an diesem Tage nicht nach Vauxhall zu gehen.‘
Da er sich nach sechs Wochen London allein fühlte, ließ er an seinem Haus einen Aushang anbringen: ‚Zu vermieten: zweites oder drittes Stockwerk, möbliert, an ein alleinstehendes und unabhängiges junges Fräulein, das englisch und französisch spricht, und weder bei Tage noch bei Nacht Besuche empfängt.‘ ‚Schon am zweiten Tage teilte mein Neger Jarbe mir mit, meine Anzeige sei wörtlich in St. James-Chronicle abgedruckt.‘[80] Casanova freute sich über die leicht ironischen Kommentare und meinte: ‚Glücklich die Völker, bei denen man alles sagen und alles schreiben darf.‘ Binnen neun oder zehn Tagen kamen etwa 100 Kandidatinnen, doch erst am 11. oder 12. Tag erschien eine, die ihm gefiel. Sie sprach nicht nur Französisch, sondern auch ein Italienisch, ‚das einer Senesin würdig‘ sei. ‚Mistreß Pauline‘ erhielt die Wohnung. Sie ist wahrscheinlich mit Dona Maria-Francisca de Sousa zu identifizieren.[81]
Wenig später besuchte ihn sein Sohn zum ersten Mal in London, denn er hatte sich nicht getraut, gegen das Verbot seiner Mutter zu handeln. Einer von Teresas Wechseln war geplatzt, und sie saß im Gefängnis. Casanova lehnte jede Hilfe ab. Als er mit seiner neuen, 22-jährigen Mieterin speiste und gerade Schach spielte, meldete Clairmont ‚die kleine Cornelis mit Frau Rancour‘ an. Casanova wollte sie vertrösten, doch Sophie drängte sich ins Zimmer und warf sich vor seine Füße. Nun sagte er ihr unter Tränen Hilfe zu, und auch Pauline weinte. Sophie gestand, dass sie ihre Mutter nur achtete, sie aber nicht liebte, ‚denn sie macht mir immer Angst‘. Casanova ließ der Tänzerin einen größeren Betrag zukommen. Pauline, die von Sophie als ihre Mutter angesprochen worden war, meinte, wenn sie ihre Mutter wäre, wäre das Kind glücklicher. Er jedoch verabscheue die Ehe, ‚weil sie das Grab der Liebe‘ sei. Als Pauline auf ihr Zimmer ging, schrieb Casanova: ‚Als ich allein war, verspürte ich ein gewisses Gefühl von Leere‘. Sophie erkrankte später an einem Fieber. Casanova war der Ansicht, sie habe nur Angst vor ihrer Mutter, und sie sollte in ein Pensionat gehen. Sie fanden eine Pension in Harwich.
Die ‚Cornelis‘, wie Casanova Teresa nur noch nannte, kam mit Sophie zu Besuch, eröffnete ihm Pläne, wie sie zu Reichtum gelangen wollte. Sie erklärte sich sogar damit einverstanden, die kleine Sophie bei Pauline übernachten zu lassen.
Am nächsten Tag – Casanova hatte Pauline gestanden, sie zu lieben, sie wurde jedoch zurückgehalten – sagte sie, sie sei Portugiesin (sie sprach zudem fünf Sprachen seit ihrem 18. Lebensjahr). Sie gestand, dass sie ‚die einzige Tochter des unglücklichen Grafen X‘ sei, ‚den Carvalho Oeiras – bekannter als Marquês de Pombal – nach dem den Jesuiten zugeschobenen Anschlag auf das Leben des Königs im Gefängnis sterben ließ.‘ Pauline konnte nur an ihr Eigentum gelangen, wenn sie nach Portugal zurückkehrte. Die Verheiratungspläne ihres Großvaters lehnte sie ab, doch wollte man sie notfalls zwingen. Nun ersuchte sie Pombal um Hilfe, der sie ja schließlich zur Waisen gemacht hatte. Dieser sagte ihr über einen Kurier tatsächlich mündlich seine Hilfe zu.
Ausgerechnet in diesen Kurier verliebte sie sich, der es sogar wagte, sich als Modistin ins Haus zu schleichen. Unter Mitwisserschaft ihrer Zofe besuchte der Graf Al. sie drei Monate lang alle zwei Tage. Nun wurde ihr Geliebter jedoch nach England geschickt, woraufhin sie, die größer gewachsen war, seine Rolle und Kleidung übernahm, während er als Frau reiste. 14 Tage später landeten die beiden zwar in Plymouth, doch forderte der Minister nun die Rückkehr der Frau – so kehrte nun er auf einer Fregatte nach Lissabon zurück.
Sie war nun gezwungen, äußerst sparsam in London zu leben und unterzutauchen. ‚Das bare Geld, das ich bei mir hatte und noch jetzt besitze, wollte ich behalten, um auf dem Landwege nach Lissabon zurückkehren zu können, sobald man mir schreiben würde, daß ich mich unbesorgt dort wieder sehen lassen könnte. Ich hatte unter der Seekrankheit so sehr gelitten, daß ich mich nicht entschließen konnte, noch einmal eine solche Fahrt zu machen.‘ Der Minister sah sich genötigt, den jungen Grafen persönlich aus dem Kloster zu holen. Diese von Casanova vielleicht nicht in allen Einzelheiten genau überlieferte Geschichte, könnte sich auf Dona Maria-Francisca de Sousa beziehen, die 5. Markgräfin von Minas – doch lässt sich die Frage nach ihrer Identität nicht mit Sicherheit beantworten.[82]
Sie forderte Casanova auf auszureiten. Dabei stürzte er schwer, verstauchte sich den Knöchel. Besorgt fiel Pauline ihm in die Arme, sie wollte mit ihm wie Mann und Frau zusammenleben, bis der Brief aus Lissabon sie erreichen würde. Sie verbrachten eine Nacht, doch ließen sie auch theologische Erörterungen nicht aus, wie etwa über die Frage, ob Eva von dem bekannten Verbot nur von Adam oder direkt von Gott erfahren habe. Pauline stellte fest: ‚Die Theologen sind eben Betrüger; sie sind fast alle Feinde unseres Geschlechts.‘ ‚Nach der köstlichsten Nacht, die die Liebe mir verschafft hatte und die mir die süßeste zu sein schien, die der liebe Gott mir jemals gewährt hat, beschloß ich, mein Haus nicht mehr zu verlassen, solange Pauline noch in London bleiben würde.‘ Von einem jüdischen Maler, den ihm Martinelli empfohlen hatte, ließen sich die beiden porträtieren. ‚So verbrachten wir drei Wochen in einem Übermaß von Glück, das keine Feder beschreiben könnte.‘ Keine der Frauen beschrieb Casanova so euphorisch. ‚Pauline hatte außer ihrer weiblichen Schönheit, Anmut und Sanftmut auch jenen festen und stolzen Charakter und den weiten Gesichtskreis, die nur höchstbegabten Männern eigen sind.‘
Doch am 1. August kamen zwei Briefe an. Pauline musste nach Portugal zurückkehren, Casanova musste ihr versprechen, niemals ohne ihre Erlaubnis dorthin zu kommen – sie würde jenen Grafen heiraten, da alle Welt glauben musste, sie habe sich ihm bereits hingegeben – ein Gebot der Ehre also. Clairmont sollte sie bis Madrid begleiten (er sollte nie zurückkehren), im Oktober wollte sie in Lissabon sein. Casanova versuchte später, über Madrid zu ihr zu gelangen, doch scheiterte das Vorhaben, so dass sich die beiden nie wiedersahen.
Man habe, so schrieb nun du Rumain über d’Urfé, ‚ein Testament gefunden, das nach dem Irrenhause schmecke: sie vermache ihr ganzes Vermögen dem ersten Sohn oder der ersten Tochter, die sie gebären werde; denn sie behaupte, schwanger zu sein.‘ Casanova schmerzte, dass er zum Vormund über das erwartete Kind eingesetzt worden war, worüber ‚ganz Paris mindestens eine Woche lang lachen‘ musste.
Pauline und Casanova reisten am 10. August gemeinsam nach Calais ab. Am 12. August brachen Pauline und Clairmont auf, letzteren sollte nun Jarbe vertreten. Der Eindruck, den Henriette auf ihn gemacht hatte, sei nur deshalb noch ein wenig tiefer, weil er zu jener Zeit erst 22 Jahre alt gewesen war (5, 11).
In den nächsten Tagen war Casanova äußerst niedergeschlagen, beobachtete dennoch die für ihn eigenartigen englischen Sitten. Als er 20 Guineen in Münzen wechseln wollte, und der Bankier ihn vertrösten musste, da er keine Münzen bei sich hatte, lehnte dieser es ab, die Banknote bis zum nächsten Tage zu behalten. Dies könne angesichts der Schwäche des menschlichen Gedächtnisses zu Missverständnissen führen. Oder: Männer, die ihr Geschäft auf der Straße verrichteten, taten dies in Richtung Straßenmitte, um von den Vorbeifahrenden nicht erkannt zu werden. Und die Engländer wetteten um alles! So war der Faustkampf, der oft tödlich ausging, nur als Wette erlaubt. Dies bekundete man, indem man vor Kampfbeginn Münzen auf den Boden warf. Casanova wollte in einem solchen Wettclub Mitglied werden. Zugleich hörte er, dass jener Gascogner namens (Louis de) Castelbajac in London war, der ihn wiedererkannte, den er jedoch beleidigte, als er ihm die erbetenen Goldmünzen beim Glücksspiel verweigerte. Er musste zum Wettclub allerdings nach St. Albans fahren, nahm vorsichtshalber zwei Geldbörsen mit. Die von Pembroke angepriesene französische Schönheit reizte Casanova nicht, denn es sei ‚ein großer Schönheitsfehler bei einer Frau; denn das Lachen muß sie verschönern, damit sie wirklich interessant werde.‘
Bei einem Glücksspiel wies Casanova einen Wechsel Castelbajacs zurück, was diesen erneut aufbrachte. Am nächsten Tag ließ Casanova bei einer Bank dessen Banknoten prüfen; sie waren gefälscht. Doch Castelbajac floh nach Frankreich, seine angebliche Frau folgte ihm. Sie erschien allerdings zwei Tage nach der Flucht des Betrügers bei Casanova – er sollte sie 1766 in Leipzig wiedersehen. Den Mittäter, einen angeblichen Grafen Schwerin, ließ er laufen.
Kurz danach erfolgte sein Absturz, denn Anfang September verliebte er sich in eine kaum 18-jährige Schweizerin namens Marie Charpillon, mit vollem Namen Marie-Anne-Geneviève Augspurgher (ca. 1746 – nach 1777). Sie und ihre Mutter Rose-Elisabeth (ca. 1720 – nach 1764) waren Prostituierte und Kurtisanen.[83] Er hatte sie durch Morosini kennengelernt, sie hatte den Aushang gelesen, auf den sich Pauline gemeldet hatte. An jenem Tag, als er Charpillon kennen lernte, so schreibt er in seinen Memoiren, ‚begann ich zu sterben und hörte auf zu leben.‘
Vergebens umwarb er sie. Die spätere Rezeption glaubte, dass seine Verzweiflung nicht aus enttäuschter Liebe geboren wurde, sondern weil ein solcher Misserfolg nicht mit seinem Selbstbild als unwiderstehlicher Liebhaber in Einklang zu bringen wäre, und weil sie sich über ihn lustig machte. Eigentlich kannte er sie aus Paris (5, 12–13). Sie kündigte ihm sogar an, ihn verliebt zu machen, um ihn zu unterjochen, notierte Casanova. Ihre Mutter und ihre beiden Tanten hatten ihn 1759 mittels eines Genfers namens Bolomé und eines Wechsels um 6000 Francs betrogen. Ihre Großmutter kam hinzu, ebenso wie drei Männer, von denen Casanova einen mit Namen (Ange) Goudar[84] aus Paris kannte (ihn sollte Casanova wiedersehen, nämlich in Neapel); die anderen wurden als Rostaing und Caumon vorgestellt. ‚Ohne Zweifel glaubte ich, nichts zu wagen, wenn ich auf meiner Hut wäre‘, schrieb Casanova, und ‚das Frauenzimmer hatte mich völlig behext‘. In dem Haus lebten sieben Frauen, die sich mit den besagten drei Gaunern zusammengetan hatten.
Zunächst aber besuchte er drei Wochen lang Sophie und erfreute sich an ihr und ihren Kameradinnen. Erst danach suchte er die besagte Tante auf, die sie zu ihrer Nichte führte, die gerade im Bad lag. Diese tat überrascht und Casanova beschrieb seine Reaktion auf ihr mehrfaches Bitten zu gehen so: ‚diese brutale Befriedigung bewies mir, daß das Übel nicht tief saß, da es durch eine bloße tierische Betätigung zu beseitigen war.‘ Er wusste, dass er sie hätte meiden müssen, doch sie übte bereits eine ‚unüberwindliche Herrschaft über‘ ihn aus. Bald warf sie ihm vor, sie von ‚Anfang an wie eine ganz gemeine Prostituierte behandelt‘ zu haben, ‚wie ein willenloses Tier‘ (5, 13). Sie erwartete, von ihm umworben zu werden, er war bereits voller Reue über sein Verhalten. Sie verließ sich auf die Wirkung ihrer Persönlichkeit, nicht auf die eines Briefes, sie suchte ihn daher persönlich auf. ‚Ohne Zweifel hatte sie dies vorausgesehen, denn der Instinkt der Frau ist so fein, daß in Herzensangelegenheiten das bloße Gefühl sie in einer Minute mehr lehrt, als wir Männer unser ganzes Leben lang lernen.‘ Als sie sich trotz seiner Geschenke wortlos verweigerte, war er versucht, sie zu erwürgen. Trotz Misshandlungen und Beleidigungen widerstand sie drei Stunden lang.
Daraufhin erkrankte er, erkannte jedoch bald seine Gesundung daran, dass er keine Rachepläne mehr schmiedete. Nun aber brachte ihm Jarbe einen Brief von Pauline, worin sie schrieb, Clairmont habe ihr bei der Überquerung eines Flusses das Leben gerettet. Sie wollte ihn nun von Madrid bis nach Lissabon mitnehmen. Er sollte per Schiff nach London zurückkehren. Doch das Schiff sank und Casanova hörte nie wieder von ihm.
In einem Brief teilte Charpillons Mutter ihm nun mit, ihre Tochter liege, von den ‚erhaltenen Schläge mit Wunden bedeckt‘ im Bett. Auch die Tochter hatte ihrerseits geschrieben, ihr Unrecht einzusehen, ja, sie schrieb, sie wundere sich, dass er sie nicht erwürgt habe, als er sie am Hals packte.
Nun kam wieder Goudar, der Casanova eine Art Vergewaltigungsstuhl anbot: ‚»Der Lehnstuhl hat fünf Federn, die sich gleichzeitig lösen, sobald ein Mensch sich hineinsetzt. Der Vorgang vollzieht sich sehr schnell: zwei Federn umgreifen die Arme und halten sie fest umklammert; zwei andere bemächtigen sich der Knie und spreizen die Schenkel soweit wie möglich; die fünfte Feder hebt den Sitz in die Höhe, so daß die gefangen gehaltene Person eine gekrümmte Stellung einnehmen muß.«‘ Doch Casanova wollte dieses ‚teuflische Instrument‘ nicht anwenden.
Goudar machte ihn aber mit anderen ‚Kurtisanen‘ bekannt, wie der seinerzeit noch immer bekannten ‚Kitty Fisher‘, die allerdings nur Englisch sprach, was Casanova abhielt. Goudar heiratete eine von ihnen namens ‚Sarah Goudar, die in Neapel, Florenz, Venedig und an anderen Orten glänzte und die wir vier oder fünf Jahre später, immer mit ihrem Gemahl, wiederfinden werden.‘
Die Charpillon verärgerte er endgültig, als er sie, die sich nun wohl fügen wollte, seinerseits kalt abwies. Dennoch mietete er in Chelsea ein Haus. Die Mutter erhielt ihre Guineen, die Habe der Tochter kam in sein Haus. Erneut widerstand sie, doch diesmal zartfühlender. Dennoch gerieten sie am nächsten Tag in Streit, wobei ihr verachtungsvoller Ton ihn herausforderte: Er gab ‚ihr eine kräftige Ohrfeige und versetzte ihr einen Fußtritt, daß sie der Länge nach auf die Diele fiel.‘ ‚Als schließlich die Vernunft sich geltend machte, sah ich ein, daß ich ihr unrecht getan hatte, und fand mich in meinen eigenen Augen verächtlich.‘ Er hegte, so schrieb er, Selbstmordgedanken, musste, wie ihm Goudar eröffnete, eine Klage fürchten. Trotz dessen Warnung nahm Casanova abermals Kontakt auf. Sie schrieb ihm und ‚Dieser Brief raubte mir so völlig die Besinnung, daß ich in einem Wahnsinnsanfalle von Begeisterung den Entschluß faßte, ihr die beiden Wechsel über sechstausend Franken anzuvertrauen, die Bolomé mir ausgestellt hatte, und die mir das Recht gaben, ihre Mutter und ihre Tante ins Gefängnis bringen zu lassen.‘ Am Ende war Casanova so ‚entrüstet‘, nicht nur wütend, dass er, obwohl sie sich ihm (scheinbar) anbot, dazu nicht mehr in der Lage war.
Abermals wollte er das Verhältnis beenden, versuchte sich mit anderen Frauen zu vergnügen. So lernte er eine Irin kennen, namens ‚Kennedy, die etwas Französisch radebrechte‘, doch war er danach ‚traurig und unzufrieden‘. Nun versuchte er, wenigstens die beiden Wechsel zurückzugewinnen. Doch bei Malignant, der ihn eingeladen hatte, tauchte überraschend wieder Charpillon auf. Als er die Gesellschaft zu einer Kutschfahrt einlud, lud sie sich selbst ebenfalls ein. Sie forderte Genugtuung für die Beleidigung, versprach ihm im Gegenzug die Wechsel. Wieder ließ sie Vieles zu, doch bremste sie Casanova abermals, woraufhin er sogar zu einem Messer griff – danach hängte sie sich wieder, kaum bei den anderen wieder aufgetaucht, bei ihm ein, als wäre nichts geschehen. Als er schon vorhatte, in ihr Haus einzudringen und sie mit Waffengewalt zur Herausgabe der Wechsel zu zwingen, ertappte er sie mit ihrem Friseur in flagranti. Während Casanova diesen hinausprügelte und Porzellan und Mobiliar zerschlug, tauchte plötzlich die Nachtwache auf.
Als er tagelang glaubte, sie liege im Sterben, wollte auch er sich das Leben nehmen – er wollte sich beim Tower in der Themse ertränken und Bragadin sein Erbe vermachen. Er schrieb sogar einen entsprechenden Brief an den venezianischen Gesandten. Er beschaffte sich genügend Blei, doch ‚mitten auf der Westminster-Brücke führte mein guter Geist mir den Chevalier Edgar in den Weg‘, der es sich nicht nehmen ließ, Casanova zu begleiten. Die beiden Männer kannten sich von Pembroke. Casanova erkannte: ‚Der Mensch darf sich niemals töten, denn es ist möglich, daß die Ursache seines Kummers aufhört, bevor der Wahnsinn eintritt.‘ Als Edgar zwei Frauen hinzuzog, eine von ihnen war Französin, stellte er nur fest: ‚Ich hatte einen Ruf, und sobald sie hörten, wer ich sei, sah ich sie von Ehrfurcht durchdrungen.‘ Aber er konnte ihnen in seinem Zustand keine Hoffnung machen.
Edgar lud nun zu einer Orgie, die sie als entkleidete Tänzer mit blinden Musikern begannen. ‚Bei dieser Gelegenheit erkannte ich, daß die Freuden der Liebe eine Wirkung und nicht eine Ursache der Fröhlichkeit sind.‘ Daher ‚regte sich in mir nichts‘. Dennoch ‚verschob ich meinen Selbstmord auf den nächsten Tag‘, da er bei dem Engländer Schulden gemacht hatte. Er ‚stieg mit Edgar in einen Fiaker, um den Grundsatz der Stoiker zu befolgen, den man mir in meiner kindlichen Jugend eingeprägt hatte: Sequere deum – folge Gott!‘ Sie fuhren nach Ranelagh, tanzten in der Rotunde, wo er eine Frau beim Tanz beobachtete. Es war die Charpillon! Casanova zitterte sichtbar, doch war er unsicher, ob sie es sein könne. Als er auf sie zutrat, lief sie davon. Er ‚machte nach und nach, sozusagen, alle Zwischengefühle von der Verzweiflung bis zur Begeisterung durch‘, er war sicher, dass Edgar sein ‚Genius, mein Schutzengel, mein guter Geist‘ wäre. In ihm selbst, so konstatierte er, ‚war stets ein Keim von Aberglauben, eine Neigung zum Spiritismus‘.
Nach drei Hungertagen hatte er die Krise überwunden. Goudar hatte ihm geschrieben – den Brief hatte er zunächst ungeöffnet gelassen –, dass das ‚betreffende Mädchen‘ durchaus nicht im Sterben liege, sondern ‚mit Lord Grosvenor nach Ranelagh gegangen‘ sei. Nun sollte der Sachwalter, der ihn gegen den Grafen Schwerin vertreten hatte, ihn gegen die drei Schwestern vertreten, die verhaftet wurden.
Doch noch immer nahm die Geschichte kein Ende. Der ‚Erbprinz von Braunschweig, der jetzige regierende Herzog‘, heiratete die Schwester des Königs von England. Lady Harrington verschaffte der Cornelis dabei ein großes Fest. Auf der Rückfahrt wurde Casanovas Wagen von Bewaffneten umringt. Den Grund für die Verhaftung wollten sie ihm nicht mitteilen, woraufhin Jarbe Einspruch erhob. Passanten pflichteten ihm bei. Casanova hatte nur den Grundsatz missachtet, dass man bei Nacht niemals antworten solle. Nun wurde er von einer Schänke mit einer Sänfte – ‚… denn der Pöbel würde mich mit Kot beworfen haben, wenn ich in meinem Galakleide es gewagt hätte, zu Fuß die Straßen zu betreten‘ – vor Richter Fielding gebracht. Dieser eröffnete ihm, er sei zu lebenslanger Haft verurteilt. Er habe ein Mädchen entstellen wollen. Der Richter forderte: ‚»zwei Hausbesitzer müssen uns dafür bürgen, daß Sie niemals ein solches Verbrechen begehen werden«‘. Da sich niemand rechtzeitig einfand, wurde er nach Newgate gebracht. ‚Das ist das Londoner Gefängnis, in das man nur die elendesten und verruchtesten Verbrecher bringt.‘ Schon nach einer halben Stunde ging es zurück vor den Richter. Sein Schneider Pégu und sein Weinhändler Maisonneuve wollten für ihn bürgen. ‚Einige Schritte davon bemerkte ich die elende Charpillon und den niederträchtigen Rostaing mit einem Anwalt und Goudar. Casanova wurde freigelassen; als Zeugen der Gegenseite hatten Rostaing und Bottarelli fungiert. Seine Gegnerin musste die Verfahrenskosten übernehmen. Zu spät zwar, doch immerhin, erschienen nun fünf oder sechs weitere Bürgen für Casanova (5, 14). ‚So war also der erste Akt der Komödie meines Lebens beendigt; der zweite begann am nächsten Morgen‘ (5, 15).
Wenig später besuchte er einen seiner Gegner, jenen Bottarelli, der Mönch in Pisa gewesen war. Er hatte eine Frau entführt, die er in London geheiratet hatte. Dort lebte die Familie mit vier Kindern in so tiefem Elend, dass er der Frau eine Guinee in die Hand drückte. Herr de Saa, Diplomat, überbrachte ihm einen Brief, in dem Pauline den Tod Clairmonts und ihre Hochzeit mit jenem Grafen bestätigte.
Schließlich kaufte er auf dem ‚Papageienmarkt‘ einen Vogel, dem er beibrachte zu sagen: ‚La Charpillon est plus putain que sa mère – Die Charpillon ist eine noch größere Hure als ihre Mutter.‘ Er beauftragte ‚Jarbe mit dem Verkauf; denn da er aus Westindien stammte, so paßte die Ware vortrefflich zu ihm‘ (5, 15). Tagelang wurde das Tier angeboten, da Casanova mit 50 Guineen einen sehr hohen Preis verlangte. Goudar teilte ihm mit, ‚die Charpillon finde die Rache sehr geistreich, aber die Mutter und die Tanten seien wütend.‘ Im Chronicle erschien ein Artikel, der den guten Geschmack des Rächers lobte: ‚er verdient, Engländer zu sein.‘ Lord Grosvenor ließ schließlich den Papagei kaufen, ‚um der Charpillon, die ihm zuweilen zum Zeitvertreib diente, einen Gefallen zu tun.‘ Casanova betrachtete die Charpillon nach dieser Rache mit Gleichgültigkeit.
Eines Tages sah er die Töchter jenes Pocchini, der ihn in Stuttgart bestohlen hatte. Im Hyde-Park verprügelte er ihn kurzerhand, da er keinen Degen bei sich hatte. Der englische Offizier, der glaubte, Pocchini sei ebenfalls Offizier, und der sich für ihn schlagen wollte, sah, dass Pocchini ein Feigling war. Doch war er in eine seiner Töchter verliebt. ‚Der Wüstling Goudar machte sie gehörig betrunken und veranlaßte sie, in ihrem Zustande tausend Greuel von ihrem angeblichen Vater zu erzählen.‘ Pocchini war ihr Zuhälter, und sie stahlen in seinem Auftrag. Die Frauen wurden verhaftet, ihr Zuhälter floh. Casanova sollte ihm wenige Jahre später wieder begegnen.
Casanova erlebte endlich einige ruhige Tage: ‚Jeden Tag besuchte ich entweder meine Tochter … oder ich verbrachte einige Stunden im Britischen Museum mit dem Doktor Matti. Bei diesem traf ich eines Tages einen anglikanischen Geistlichen, den ich fragte, wieviel verschiedene Sekten es in England gebe.‘ Nun starb Malingans Tochter an den Pocken, und er starb, wie ihm seine Witwe mitteilte, kurz nach seiner Rückkehr nach Lüttich.
Nachdem ‚Herr F. aus Bern‘ Casanova nicht empfangen wollte, da er wohl noch Sarah in Erinnerung hatte, traf er diese zufälligerweise beim Besuch des Marylebone-Theaters. Dort zahlte man nur einen Schilling Eintritt, musste aber etwas verzehren. Sie war in Begleitung der Familie, der wieder Passano ‚böse Dinge‘ über ihn geschrieben hatte, doch erkannte er sie nicht sogleich. Er lud die Familie für zehn Guineen zum Essen, wobei sich ‚Herr F.‘ als Schweizer beschwerte, dies sei viel zu teuer. Demonstrativ gab Casanova dem Kellner eine halbe Guinee Trinkgeld. Die Familie musste ihre Wohnung räumen, da sie in wenigen Tagen London verlassen wollte.
Bei der ersten Gelegenheit ‚kosteten wir die höchste Wollust, indem wir ineinander verschmolzen‘ – wenige Augenblicke, bevor der Vater zurückkehrte. Nun bot Casanova der Familie sein Haus als Unterkunft für die kommende Woche an, er selbst wollte Sarah in die Schweiz folgen. Doch wurde die Familie wegen Schulden festgehalten. Casanova erledigte dies mit drei Banknoten; auch schloss er einen Kreditvertrag und übernahm die übrigen Schulden. Aber die Ehe mit Sarah verweigerte der Vater, weil sie bereits versprochen war. Und sie entzog sich, weil sie glaubte, mit ihrer Liebe nur die elterlichen Schulden abtragen zu sollen. Er jedoch verabschiedete sich bereits von allen, auch von seiner Tochter, um bald erkennen zu müssen, dass die Verbindung mit Sarah ohne Aussicht war. Zum ersten Mal machte Casanova die Erfahrung, dass ‚Enthaltsamkeit, die im allgemeinen eine Liebe nur noch mehr anstachelt, zuweilen auch die entgegengesetzte Wirkung hervorbringt. Sarah würde mir mit der Zeit noch völlig gleichgültig geworden sein; denn ich hätte sie niemals meiner Freundschaft unwert finden können.‘ Ganz im Gegensatz zu Charpillon, die er am Ende hasste und verachtete. Casanova blieb in London: ‚Die Familie reiste nach Ostende ab, und ich begleitete sie bis zur Themsemündung. Ich gab Sarah einen Brief für Frau von W., dies war die gelehrte Hedwig, die sie nicht kannte. Zwei Jahre später wurde Sarah ihre Schwägerin, indem sie einen Bruder des Herrn von W. heiratete, mit dem sie glücklich wurde.‘
Über Goudar lernte er nun einen ‚jungen Livländer kennen, der sich Baron von Stenau nannte. Und eine erkrankte, 45-jährige Mutter, die seit zwei Monaten um Wiedergutmachung der Schäden durch die Armee des Herzogs von Cumberland stritt, eine ‚Dame aus Hannover, Witwe und Mutter von fünf Töchtern‘ (5, 15). Ihre Bekannten hatten sie im Stich gelassen. Unverhohlen bot Casanova nun Geld gegen Dienste an: ‚Wenn sie nach ihrer Art tugendhaft sein wollen, so werde ich sie nicht mehr quälen; sie müssen aber auch nicht die Männer quälen‘ (5, 16).
Als die Mutter verhaftet worden war, bot sich die Älteste der Töchter an, doch so unterwürfig, dass es Casanova abstieß. Er ließ sie wissen: ‚Sie haben sich erniedrigt, indem Sie sich prostituierten, anstatt sich der Liebe hinzugeben. Ich schäme mich für Sie!‘ Die zweite, Victoria, erklärte, als sie zu ihm kam, ihre ältere Schwester liebe einen anderen und könne Casanova deshalb nicht lieben. Die beiden vergnügten sich zwei Stunden lang, wie Casanova vermerkt. ‚Ich trieb eine tolle Verschwendung, und ich fühlte, daß meine Mittel sich ihrem Ende nahten; aber ich genoß und ich dachte, ich würde in Lissabon neue Mittel finden.‘
Im Covent-Garden traf er auf den Kastraten (Giusto Fernando) Tenducci, der ‚mir zu meiner großen Überraschung seine Ehefrau vorstellte, von der er zwei Kinder hatte. Er lachte über die Leute, die behaupteten, er könne als Kastrat keine Nachkommenschaft haben‘. Er hatte ursprünglich drei Hoden, von denen ihm nur zwei entfernt worden waren (5, 16).
Mit Victoria verbrachte er weitere Nächte, versprach, den angeblichen Marchese Petina aus Neapel aus dem Schuldgefängnis zu befreien, da dieser der zukünftige Ehemann ihrer älteren Schwester werden sollte. Nun erfreute er sich auch mit Auguste, der dritten Schwester. Der Marchese war tatsächlich ein solcher, doch war er laut Casanova ‚mager, abstoßend häßlich und haarsträubend dumm‘. Die Cornelis wünschte Casanova Glück zu dem ‚schönen Harem‘, den er sich zugelegt habe.
Inzwischen hatte Casanova auf die 13-jährige Freundin seiner Tochter, ‚Miß Nancy Stein‘, ein Auge geworfen. Die Gesellschaft ging in den dritten Stock, wo ‚Sophie entzückend Klavier spielte und die Lieder begleitete, die ihre Mutter sang. Der kleine Cornelis glänzte durch sein Flötenspiel‘ (5, 16). Die Mutter der Fünf genoss das ‚dolce far niente‘, er inzwischen Hippolyta. Am nächsten Nachmittag ritten sie aus, immer von Jarbe begleitet, der ebenfalls sehr gut ritt, wie etwa zum Richmond Park. Schließlich kam auch die 15-jährige Gabriele hinzu. Ihre Mutter, eine ‚abgefeimte Heuchlerin‘, bot ihm die Ehe an, damit er seine väterliche Liebe zu den Töchtern pflegen könne. Sie versuchte weiterhin den Anschein zu wahren, es handle sich nicht um Kuppelei.
Lord Pembroke hatte sich in Augusta verliebt. Er bot ihr ‚monatlich fünfzig Guineen auf drei Jahre, dazu Wohnung, Unterhalt, Dienerschaft, Wagen und Pferde in St. Albans, ohne die Geschenke zu rechnen, die sie von seiner zärtlichen Dankbarkeit erwarten dürfte, wenn sie die Liebe teilte, die sie ihm eingeflößt hätte‘. Dieser Vertrag wurde aufgesetzt und von Casanova als Zeuge beglaubigt. Sie verließ sein Haus.
Dann meldete sich über Goudar jener Lavalette du Claude an, ‚der den berühmten Bankerott machte, durch den die Gesellschaft Jesu in Frankreich zugrunde gerichtet wurde‘ (5, 17). Dabei war es ihm ‚ganz angenehm, einmal das Gesicht dieses Mannes zu sehen, dessen Gaunerei ein so kunstreich ersonnenes Werk der Hölle vernichtet hatte.‘ Auch er brachte einen Wechsel von Petina mit; mit diesem brannte nun seine Zukünftige durch. Dabei gab sich Casanova eine Mitschuld, denn er hatte ja Petina aus dem Gefängnis geholt.
Gabriele wurde inzwischen von Victoria und Hippolyta als Casanovas Frau angesehen. Gern hätten die Frauen so weitergelebt, doch ‚Leider ging ich … mit großen Schritten meiner völligen körperlichen und pekuniären Erschöpfung entgegen.‘ ‚Seit einem Monat bezahlte ich weder die Rechnungen meines Kochs noch die meines Weinhändlers‘. Nun wünschte auch noch die Mutter, mit ihren drei jüngeren Töchtern nach Hannover zurückzukehren. Drei Tage später, es war Mitte Februar 1764, brachen sie auf.
Mit den Frauen hatte er ‚alles Geld verschwendet, das ich für meine Edelsteine bekommen hatte‘, dazu hatte er über 400 Guineen Schulden. Nach dem Verkauf seines verbliebenen Besitzes blieben ihm nur noch achtzig Guineen. ‚Ich verließ mein schönes Haus, worin ich so lustig gelebt hatte, und bezog ein Zimmerchen, wofür ich wöchentlich eine Guinee bezahlte. Ich behielt nur meinen Neger, an dessen Treue zu zweifeln ich keinen Anlaß hatte.‘
In seiner Not schrieb Casanova an Bragadin, er möge ihm 200 Zechinen schicken, zumal er sein dort deponiertes Vermögen in den letzten fünf Jahren nicht angerührt hatte. ‚Ende Februar 1764 führte mich mein böser Stern in die Schenke zur Kanone‘. Dort lud ihn „Baron Stenau“ an seinen Tisch. Mit seiner Geliebten verabredete er sich, während der Baron nach einem Spielverlust von 100 Guineen Geld zu holen versprach. Doch musste er dazu einen Wechsel ziehen, was Casanova übernahm, der bei Herrn Leigh 520 Guineen auf das portugiesische Papier erhielt. Drei Nächte verbrachte er mit Stenaus Geliebter, doch bei ihr steckte er sich auch an.
Ein anderer Gefangener, sein Patenkind Daturi, erbat ähnliche Hilfe, wobei sich Casanova kaum erinnern konnte, das Kind, inzwischen 20 Jahre alt, über das Taufbecken gehalten zu haben. Er vermutete, dass es vielleicht sogar sein eigener Sohn gewesen sei. ‚Er war mit einer Seiltänzergruppe nach London gekommen‘. ‚Ohne ihm etwas über das Geheimnis seiner Geburt oder vielmehr über meine Beziehungen zu seiner Mutter zu sagen, löste ich ihn sofort aus.‘
Am 13. März 1764 verließ er, auch hier wieder Hals über Kopf, nachdem er jenen gefälschten Wechsel entgegengenommen hatte, die englische Hauptstadt. ‚Es war der Schluß des ersten Aktes meines Lebens. Der zweite Akt schloß mit meiner Abreise aus Venedig im Jahre 1783, und der dritte Akt wird offenbar hier in Dux schließen, wo ich mich damit unterhalte, diese Erinnerungen niederzuschreiben.‘ Sein Leben betrachtete er im Rückblick als ‚Komödie‘. Er verabschiedete sich von Jarbe und reiste mit Daturi ab.
Nun erst bemerkte er seine Erkrankung, die ihn zwang, sich sechs Wochen zu pflegen, und vor allem, nicht nach Lissabon zu reisen, wie es sein Plan gewesen war. An dem Morgen, als er in die ‚Heilanstalt‘ gehen wollte, erfuhr er von seinem geplatzten Wechsel (gegenüber Leigh hatte er ein schlechtes Gewissen). Der Verantwortliche, der angebliche Graf Stenau, hatte sich bereits vier Tage zuvor nach Lissabon abgesetzt, da nutzten Casanova auch seine mitgebrachten Pistolen nichts. Als sich Casanova im Oktober in Riga befand, hörte er, dass Stenau in Lissabon aufgehängt worden war.
Casanova ‚eilte zu dem venetianischen Juden Treves, an den ich von dem Bankier Grafen Algarotti von Venedig empfohlen war, dessen ich mich aber bis dahin niemals bedient hatte‘. ‚Ich begnügte mich mit der Diskontierung eines kleinen Wechsels von hundert venetianischen Zechinen, den ich auf Algarotti zog. Ich schrieb ihm, er möchte sich den Betrag von seinem Verwandten Dandolo bezahlen lassen, der mir seine Empfehlung verschafft hatte.‘ Jarbe wollte mitkommen, er bot Casanova sogar 60 angesparte Guineen an, doch Casanova lehnte dies ab: ‚»Nein, lieber Freund, ich danke dir; ich habe das Geld nicht nötig. Ich werde deine Treue nicht vergessen.«‘ Casanova schaffte es nur noch bis Rochester. Am nächsten Tag setzte er nach Calais über. Er hoffte noch, Jarbe nachreisen lassen zu können – er erwähnt, dass er ihn zwei Jahre später wiederfinden würde. Er selbst hatte zwei Wochen lang schwere Fieberattacken zu überstehen. Daturi rettete ihm das Leben.
Casanova war offenbar von der Krankheit schwer gezeichnet, denn als er in Dünkirchen ankam, einen Tag nachdem er Calais verlassen hatte, traf er dort den Mann jener Theresa, die er sieben Jahre zuvor geliebt hatte, und dieser ‚wackere‘ ‚Kaufmann S.‘ fand ihn sehr verändert. Dieser beharrte auf einem gemeinsamen Abendessen zusammen mit seiner Frau und seinen drei Söhnen. Casanova bereitete Kummer, ‚in welch einer traurigen Gestalt ich vor sie treten mußte‘. Der älteste der Söhne war etwa sechs Jahre alt: ‚Ich lachte innerlich darüber, daß ich so Kinder von mir über ganz Europa zerstreut fand‘ (5, 17). Von seinem Freund, dem Grafen Tiretta aus Treviso, erfuhr er, dass er nach Batavia gegangen war, von wo er wegen einer Verschwörung fliehen musste. Wie Casanova räsonierte, eine Parallele zu seinem Leben als Flüchtling und Abenteurer.
Wie geplant kam er bereits am nächsten Tag in Tournai an. Dort traf er sich mit dem Grafen von Saint-Germain, ein äußerst undurchsichtiger Mann, von dem Casanova fasziniert war. Er selbst schrieb: ‚Was für ein Mann! Man konnte sich von ihm täuschen lassen, ohne sich zu entehren.‘[86] Er hatte seit einem Monat niemanden empfangen, sein Einladungsbriefchen, so vermerkt Casanova, habe er immer noch. Er sollte in österreichischen Diensten eine Hutfabrik aufbauen, kannte Urfé, die sich nach seiner Aussage vergiftet hatte. Er behauptete, in einer Flüssigkeit den ‚Universalgeist der Natur‘ zu besitzen und Casanova damit binnen 15 Tagen heilen zu können. Er ließ ihn mit einer Nadel in den Korkverschluss stechen, und das Fläschchen entleerte sich sogleich. Vor seinen Augen verwandelte der Alchemist eine Silbermünze in Gold. Casanova ‚zweifelte nicht einen Augenblick, daß er meine Münze hatte verschwinden lassen und dafür die andere untergeschoben hatte, die er ohne Zweifel vorher weiß gemacht hatte‘. Auf seine Andeutung von Zweifeln antwortete er überheblich: ‚Wer an meiner Wissenschaft zweifeln kann, ist nicht würdig, mit mir zu sprechen.‘ Vor sechs oder sieben Jahren, so notierte Casanova, sei der berühmte Betrüger in Schleswig gestorben – er war, hier irrte er, 1784 in Eckernförde gestorben.
In Brüssel erreichte ihn Bragadins Wechsel über 200 Dukaten. ‚Daturi sagte mir …, er habe von einem Seiltänzer gehört, sein Vater und seine Mutter seien mit der ganzen Familie in Braunschweig. Er … versicherte [mir], ich werde mit der größten Sorgfalt gepflegt werden.‘ Doch in Roermond fühlte er sich so schlecht, dass er 36 Stunden ruhen musste.
In Wesel entschied er, seine ‚Postkutsche zu verkaufen, weil in Norddeutschland die Pferde nicht an die Deichsel gewöhnt sind‘ (5, 17). Überraschenderweise traf er dort ‚General Bekw…‘, der dort stationiert war, und dem er seine Kutsche verkaufte. Er empfahl ihm zur Behandlung einen Doktor Pipers von der Leydener Schule, der ihn sechs Wochen lang in seinem Hause wohnen ließ. Casanova schämte sich so sehr, dass er sein ‚Taschentuch vors Gesicht hielt, um dieses nicht der Mutter und den Schwestern des jungen Doktors zu zeigen.‘ Ein schweißtreibendes Mittel und Quecksilber sollten die Krankheit aus seinem Körper vertreiben, dazu kam eine strenge Diät und ein Verbot geistiger Arbeit (5, 19). Hier rekurriert Casanova wieder auf seine persönlichen Autoritäten im Medizinbereich, nämlich auf Hermann Boerhaave (1668–1738), das Haupt der Leidener Schule, dessen berühmtester wissenschaftlicher Schüler jener Albrecht von Haller war, dem er gleichfalls bereits begegnet war.
Casanova fürchtete nichts mehr als die Langeweile. Daturi, der sich gleichfalls langweilte, suchte außerhäusiges Vergnügen, kam jedoch eines Tages verprügelt zurück. Er bat Casanova um Rache an seinen Zechgenossen. Dieser schickte ihn stattdessen nach Braunschweig vor. Casanova war nach einem Monat wieder vollkommen hergestellt, doch war er erschreckend abgemagert. Am Tag vor seiner Abreise erhielt er einen Brief von Frau du Rumain, die erfahren hatte, dass er Geld brauchte, und die ihm einen Wechsel von sechshundert Gulden auf Amsterdam als Kredit schickte. Sie starb, bevor er die Schuld begleichen konnte.
In Erinnerung an Gabriele beschloss er, über Hannover zu reisen. Er wollte sie auf dem Gut in Stöcken besuchen. Doch ließ er sich auf eine Einladung bei seinem englischen General ein, in dessen Haus er Redegonda und ‚ihre abscheuliche Mutter‘ antraf. Redegonda war vom Herzog von Braunschweig als ‚zweite Virtuosa‘ engagiert worden. Sie stieg am nächsten Morgen einfach in seine Kutsche ein und fuhr mit. Doch die Wege waren ‚entsetzlich‘, sie fuhren die ganze Nacht durch und kamen dann in Lippstadt an, um dann in Minden zu übernachten: fünf Stunden. ‚Sie war vollkommen gut und ließ sich nur der Form wegen ein bißchen bitten.‘ In einem Hannoveraner Gasthof trafen sie ‚den Kellner, der in Zürich gewesen war, als ich die Solothurner Damen bei Tisch bedient hatte. Miß Chudleigh hatte in dem Gasthof mit dem Herzog von Kingston gespeist und war dann nach Berlin weitergefahren.‘ Mutter und Bruder seiner Geliebten überraschten im Gasthof die beiden in flagranti, die Tochter konnte sie beruhigen. Casanova fuhr nun nach Braunschweig voraus.
Daturi, der ihn erwartet hatte, überredete ihn, ihn ‚Signor Nicolini vorzustellen, dem Direktor des Stadt- und Hoftheaters‘, dessen Tochter Anna die Geliebte des Fürsten war. Am dritten Tag kam Redegonda zu Nicolini. Offenbar wussten alle über Casanova und sie Bescheid. ‚Zwei Tage später kam der preußische Thronfolger von Potsdam an, um seine künftige Gemahlin zu besuchen; sie war die Tochter des regierenden Herzogs, und er heiratete sie im folgenden Jahre‘ – nämlich am 14. Juli 1765. Ihn hatte er ‚am Tage nach seiner Aufnahme in die Londoner Bürgerschaft bei dem großen Picknick in Soho-Square kennen gelernt‘. Daturis Mutter war nach 22 Jahren zu Casanovas Bedauern ‚sehr häßlich‘ geworden. Bei einer Militärparade der 6000 Mann, über die der Fürst verfügte, traf er Miß Chudleigh.
‚Da ich in Braunschweig nichts zu tun hatte, so gedachte ich mich nach Berlin zu begeben, um dort den Sommer angenehmer zu verbringen als in einer kleinen Stadt.‘ Gegen 2 % Abzug löste er bei einem Juden Frau Rumains Wechsel gegen Gold ein. Als dieser am nächsten Tag Sicherheiten verlangte, verprügelte Casanova ihn kurzerhand, der sagte, er sei bekannt. Der Prinz, dem die Sache zu Ohren gekommen war, übernahm es selbst, den Wechsel einzulösen, da ihm der Jude leid tat. Gut gemeint in den Augen Casanovas, war dies dennoch Ausdruck des Verzeihens: ‚… es genügt nicht, ein Fürst zu sein, ein ausgezeichnetes Herz zu haben, freigebig und großmütig zu sein, wie der jetzige Herzog von Braunschweig es ist; man muß auch Takt und die nötigen Kenntnisse haben, um nicht das Zartgefühl eines Menschen zu verletzen, dem man ein unzweideutiges Zeichen von Achtung und Wohlwollen geben will. Dieser Fehler ist allen Prinzen gemein; er rührt von ihrer Erziehung her, die sie selten auf das Niveau des Lebens ihrer Mitmenschen erhebt oder, wenn man will, erniedrigt.‘ Casanovas ‚Selbstgefühl war tief verletzt‘. Selbst den Wunsch nach einer guten Reise deutete er nun als Ausweisung.
Er fuhr nach Wolfenbüttel, wo sich ‚die drittgrößte Bibliothek Europas‘ befand. Der Bibliothekar wollte ihm sogar die Handschriften in seine Wohnung bringen lassen, ‚die den besonderen Reichtum dieses schönen Instituts bilden‘. Die acht Tage in der Bibliothek zählte Casanova zu den schönsten Tagen in seinem Leben, ‚denn ich war nicht einen Augenblick mit mir selber beschäftigt‘.
‚Ich brachte von Wolfenbüttel eine große Menge Notizen über die Ilias und die Odyssee mit, die man bei keinem Scholiasten findet und die nicht einmal der große Pope kannte.‘ Er fürchtete, seine Aufzeichnungen würden verloren gehen, ‚ich selber werde nichts verbrennen, nicht einmal diese Erinnerungen, obgleich ich oft daran denke. Ich sehe voraus, daß ich niemals den richtigen Augenblick finden werde.‘[87]
Nun fuhr er nach Braunschweig zurück, meldete sich bei Daturi. Bei Nicolinis trat ein Lakai mit dem ‚geprügelten Juden ein‘. Dieser meinte, er sei gestraft, dadurch, dass er seine Provision verloren habe, worauf Casanova sich mit ‚Ich wünschte, Sie hätten nur diese Strafe erhalten‘ gleichsam entschuldigte.
‚Ich liebte Redegonda und hatte sie in Braunschweig nur darum vernachlässigt, weil ich mich nicht in der Laqe befand, ihr ein hübsches Geschenk machen zu können.‘ Doch war sie, die ihm eine Virtuosa vorstellte, die er aus Venedig kannte, inzwischen die Geliebte des Fürsten geworden. Dieser ‚war entzückt von meinem Lobe seiner Wolfenbüttler Bibliothek‘. Casanova riet ihr zur Treue und reiste Richtung Magdeburg ab.
Er fuhr ohne Aufenthalt über Potsdam nach Berlin, wo er zwei Monate blieb. ‚Die erbärmlichen Wege auf dem preußischen Sandboden waren schuld, daß ich drei Tage brauchte, um achtzehn deutsche Meilen zurückzulegen [à 7532,5 m]. Preußen ist ein Land, wo Gewerbefleiß und Gold Wunder wirken könnten; aber ich bezweifle, daß man jemals ein wohlhabendes Land daraus machen wird.‘ Nach dem Siebenjährigen Krieg war das Land verarmt, man suchte nach Einnahmequellen.
Casanova übernachtete im Hotel de Paris (in der Brüderstraße), dessen Inhaberin Madame Rufin war. An ihrer Tafel saß ‚Baron von Treidel‘ (gemeint ist Trotta genannt Treyden). Seine Schwester (Benigna Gottliebe) hatte den (erst 1763 eingesetzten) Herzog von Kurland ‚Johann Ernst Birlen oder Biron‘ geheiratet. Er wurde Casanovas Freund. Allerdings prägten sich ihm die deutschen Namen eher schlecht ein. Neben dem ‚Hamburger Kaufmann, Namens Greve, nebst seiner Frau, die er kurz vorher geheiratet hatte‘, lernte er Noël kennen, den einzigen Koch des Königs.[88] Sein Sohn war ‚der Gesandte der französischen Republik im Haag‘.
‚Beiläufig möchte ich bemerken, daß ich trotz meinem Abscheu vor dem französischen Direktorium es durchaus nicht übel finde, wenn ein verdienstvoller Mann, ohne Rücksicht auf seine Geburt … zu Ämtern verwandt wird, die gewöhnlich nur den privilegierten Ständen offen stehen und oft genug von Dummköpfen verwaltet werden‘ (5, 18).
Der ‚berühmte atheistische Arzt Lamettrie‘, ein fröhlicher Tischgenosse, starb an ‚Magenüberladung‘. Der König von Preußen habe die Leichenrede gehalten. Casanova notierte: ‚Übrigens war der große Friedrich niemals Atheist – er war Deist; darauf kommt es jedoch weniger an, da der Glaube an einen Gott niemals seine Lebensweise noch seine Handlungen beeinflußt hat.‘
Casanovas erster Besuch ‚galt Herrn Casalbigi, dem jüngeren Bruder dessen, mit dem ich mich im Jahre 1757 in Paris zusammengetan hatte, um dort Lotterien einzurichten‘. Er hatte in Brüssel eine Lotterie eingerichtet, war aber 1762 bankrottgegangen, um Ende 1762 in Berlin aufzutauchen. Er überredete den König, eine ‚Lotterie in seinem Staate einzuführen, ihm die Leitung anzuvertrauen und ihm den Titel eines Staatsrats zu geben‘. Er verlangte 10 % der Einnahmen. Da sich der König vor einem unglücklichen Lotterieausgang fürchtete, wollte er ‚die Lotterie nicht mehr auf seine eigene Rechnung führen; er überlasse sie ihm und begnüge sich in Zukunft mit hunderttausend Talern jährlich. Soviel kostete ihm sein italienisches Theater jährlich.‘ Genau an diesem Tag besuchte Casanova jenen Casalbigi. Dieser wollte Casanova dafür gewinnen, seine Entscheidung zurückzunehmen, was dieser für unmöglich hielt, da der König nur von seiner Furcht befreit sein wollte. Die 24- bis 25-jährige Frau Casalbigis war ‚Fräulein Bélanger‘, ihre Mutter war die Witwe eines Börsenmaklers, die er aus Paris kannte. Es stellte sich aber heraus, dass Casalbigis Frau noch lebte, die Bélanger also nicht mit ihm verheiratet sein konnte. Vor drei Jahren hatte Casalbigi einem Genuesen namens Brea den Auftrag gegeben, einen Ersatz für seine schwer kranke Frau zu finden. Sie sollte bei der Ankunft wie seine Frau behandelt werden. Als Casanova sie antraf, war sie bereits seit sechs Monaten bei Casalbigi. Sie fürchtete seinen Bankrott ebenso, wie den Spott über ihren Status als Ehefrau.
Casanovas Plan sah vor, alle ‚Kapitalisten‘ dazu zu bewegen, mit ihrem Namen für Gewinne einzustehen, nicht jedoch, Geld einzuzahlen. Dafür sollten sie entsprechend ihrer Garantiesumme an den Gewinnen beteiligt werden. Casanova rechnete dabei mit einem Grundbedarf von einer Million statt zwei Millionen. Diese Million wollte er in hundert Aktien zu je 10.000 Taler aufteilen, hinzu käme eine notarielle Verpflichtung, eine Dividende jeweils am dritten Tag nach der Ziehung, bei Verlusten das Wiederaufstocken des Aktienanteils. Doch Casalbigi gefiel sein Plan nicht. Wie es der Zufall wollte, verlor die Lotterie bei der letzten königlichen Ziehung zum ersten Mal, nämlich 20.000 preußische Taler (5, 18).
Wie Casanova vermerkt, stellte er sich am fünften Tage nach seiner Ankunft in Berlin ‚Mylord Keith‘ vor, den er zuletzt in London gesehen hatte. Nachdem ihm seine Güter entzogen worden waren, weil er sich auf die Seite von König James geschlagen hatte, erreichte der preußische König die Wiedereinsetzung in seinen Besitz. Keith lebte in Berlin, wo er ‚immer noch ein Liebling des Königs‘ war – er war zu dieser Zeit jenseits der 70. Casanova war überaus erstaunt, dass man den König direkt anschreiben könne, um eine Audienz zu erbitten, und zwar ohne Vermittlung. Friedrich, so Keith, bilde sich viel auf seine Menschenkenntnis ein, und seine Fähigkeit Talente einzuschätzen.
Tatsächlich antwortete der König schon nach zwei Tagen, er unterschrieb mit ‚»Frédéric«‘. In ‚einen einfachen schwarzen Anzug gekleidet, begab ich mich um drei Uhr nach Sanssouci.‘ Von einem Aufseher – man konnte sich überraschenderweise frei im Park bewegen – erfuhr er: »Er ist in diesem Augenblick bei seinem kleinen Konzert, wo er die Flöte spielt. Das tut er jeden Tag nach Tisch. Hat er Ihnen die Stunde bezeichnet?«‘ Pünktlich sah er ihn ‚mit seinem Vorleser und einer hübschen Windhündin erscheinen‘. Der König sprach ihn barsch an. ‚Überrascht von diesem Empfang, konnte ich kein Wort hervorbringen; ich sah ihn nur an, ohne ihm zu antworten.‘ »Nun, so sprechen Sie doch! Haben Sie mir denn nicht geschrieben?« Der König fragte ihn, was er von dem Park halte, dass Versailles doch schöner sei.
Casanova antwortete, dass dem so sei, aber dass dies an den Wasserkünsten liege. Friedrich habe 300.000 Taler erfolglos in solche Künste gesteckt. Er fragte, ‚welche Streitkräfte Venedig im Kriegsfalle zu Wasser und zu Lande habe‘, woraufhin Casanova meinte: »Zwanzig Schlachtschiffe, Sire, und eine große Menge Galeeren.« Venedig könne 70.000 Mann auf die Beine stellen. Friedrich glaubte ihm nicht. Casanova empfand die Szene, wie eine Improvisation auf der Bühne, und er begann, sich dementsprechend zu verhalten. Freimütig meinte er über die drei Steuerarten: ‚»Die königliche Steuer, Sire, ist diejenige, die die Börsen der Untertanen erschöpft, um die Geldkisten des Herrschers zu füllen.«‘ Sie sei schädlich, denn sie schade dem Geldumlauf, der die Seele des Handels und die Stütze des Staates sei. Die Kriegssteuer sei notwendig, wenn auch der Krieg ein Übel sei. Die Steuer, die dem Volk diene, sei stets ausgezeichnet, ‚denn der König nimmt seinen Untertanen mit der einen Hand und gibt ihnen mit der anderen; dadurch erzieht er sie zu gemeinnützigem Denken. Er begründet die notwendigen gewerblichen Unternehmungen, beschützt Wissenschaften und Künste, die dazu beitragen, das Geld in Umlauf zu bringen; endlich erhöht er das allgemeine Wohlbefinden durch die Verordnungen, die ihm seine Weisheit eingibt, um diese Steuer so zu verwenden, wie sie den Massen am besten nützt‘. Die Lotterie hielt Friedrich allerdings für eine ‚»Gaunerei«‘. Nach weiteren Themen sah der König den Venezianer an und meinte: ‚»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.«‘ Vorsichtig wies er dieses Kompliment zurück, denn seine Grenadiere brächten diese Tugend ebenfalls mit, doch hätten sie keine lange wissenschaftliche Unterhaltung geführt. Friedrich ‚lächelte fein, aber freundlich und gütig‘. Er nahm den Hut ab und grüßte, woraufhin sich Casanova entfernte.
Casalbigi machte einen Gewinn von rund 100.000 Talern mit seiner Lotterie. Daraufhin gewann er ‚ohne jede Mühe Bürgen für eine Million Taler‘. Doch nach zwei, drei Jahren ging er bankrott und starb verarmt in Italien. Seine „Witwe“ heiratete und kehrte vermögend nach Paris zurück.
Casanova sah die ‚berühmte Denis‘ in Charlottenburg auf der Ballettbühne, seine erste Liebe, wie er schreibt. Sie war zu jenem Zeitpunkt acht Jahre alt gewesen, er selbst zehn. Noch immer musste er über seine ‚kindliche Galanterie‘ lachen, da sie die erste war, der er ein Geschenk machte. Er hatte ihr einen Ring geschenkt, allerdings von geliehenem Geld; seiner Mutter versprach er, ‚es solle der letzte Fehltritt sein, den ich aus Liebe begehen werde‘ (5, 19). Sie war ein Patenkind seiner Mutter. Seither hatte er das Mädchen nie wieder gesehen. Nun war ihr Mann vom König ausgewiesen worden, ‚weil er sie mißhandelt‘ hatte. Casanova konnte bezeugen, dass sie nicht 36, wie man ihr unterstellte, sondern 26 Jahre alt war – eine ‚Lüge, die bei einer Frau ihres Berufes sehr unschuldiger Art war‘. ‚Die Verheimlichung ihres Alters ist für Theaterdamen gewissermaßen eine Pflicht; denn sie wissen, daß trotz allen ihren Talenten das Publikum ihnen niemals verzeiht, daß sie zu früh geboren sind.‘ So konnte sich Casanova im Übrigen auch zehn Jahre jünger machen. Dieser fragte nach einem Liebhaber, doch hatte sie keinen, denn sie ‚leide an Krämpfen, die mich unglücklich machen‘, wie sie ihm gestand. Sie wollte in die Bäder nach Teplitz gehen, wo man ‚Nervenkrankheiten‘ behandelte, doch gestattete ihr der König dies nicht.
Beim Besuch in ihrem Haus war er wieder ganz in der Theatergesellschaft. ‚Der erste, der auf mich zukam und mich wie einen alten Bekannten umarmte, war ein junger Tänzer, namens Aubry, den ich in Paris als Opernstatisten und später in Venedig gekannt hatte. Er war dadurch berühmt geworden, daß er gleichzeitig der Liebhaber einer der vornehmsten Damen Venedigs und der Liebling ihres Gatten gewesen war. Man behauptete, diese skandalöse Verbindung sei so innig gewesen, daß Aubry zwischen den beiden Gatten geschlafen habe. Nach Schluß der Opernsaison schickten die Staatsinquisitoren ihn nach Triest.‘ Auch seine Petersburger Frau ‚La Santina‘ war anwesend, eine Tochter des Giuseppe da Loglio, ‚der in ganz Europa berühmt‘ war. Er traf auf den Cellisten da Loglio, den er vor 25 Jahren bei Doktor Gozzi kennen gelernt hatte. Dieser war auf dem Weg zu Casanovas Mutter nach Dresden. Das Thema des Abends war aber ‚die große Katharina‘. Diese ‚Verschwörung‘ sei von dem Piemontesen ‚Audar‘ ausgeheckt worden, der wenige Jahre später auf seinem Landgut vom Blitz erschlagen wurde (5, 19). Da Loglio und seine Frau brachten ihn auf die Idee, nach Petersburg zu gehen; von ihnen erhielt er gute Empfehlungen.
Als Denis nach einem Abendessen von Krämpfen gequält wurde, blieb er die ganze Nacht bei ihr, ‚ging nicht einen Augenblick von ihrer Seite‘. Ihr ‚Liebesverhältnis dauerte bis zu meiner Abreise von Berlin‘ (sechs Jahre später sollte er sie wieder in Florenz treffen). Sie galt allgemein, wieder einmal, als seine Nichte. So reisten sie nach Potsdam, ‚mir dort alle Sehenswürdigkeiten zu zeigen‘.
Dort sah er auch den König beim Kommandieren seiner Garde-Grenadiere, ,die sich ebensosehr durch ihre Tapferkeit wie durch ihre Schönheit auszeichnen‘. Casanova meinte über Maria Theresia, die, porträtiert als junge Frau, über seinem Bett hing: ‚Friedrich hatte sich in sie verliebt, weil er Kaiser zu werden wünschte.‘ Der König hatte ‚ein armseliges Zimmer; ein schmales Bett, das hinter einem Schirm stand. Kein Schlafrock, keine Pantoffeln. Der Kammerdiener zeigte uns eine alte Mütze, die der König aufsetzte, wenn er erkältet war.‘ ‚Vor einem Kanapee stand ein Tisch, der mit Papieren, Federn, einem Tintengeschirr und halbverbrannten Heften bedeckt war: dies war der Schreibtisch Seiner Preußischen Majestät. Der Kammerdiener sagte uns, diese Hefte seien die Geschichte des letzten Krieges; der Unfall, bei dem die Hefte angebrannt seien, habe den König so sehr geärgert, daß er das Werk nicht fortgesetzt habe.‘ Er habe es zwar dennoch vollendet, doch maß man dem posthum veröffentlichten Werk ‚keinen großen Wert bei‘. Der König bewilligte ihm ‚eine Stelle als Erzieher an einer soeben geschafften Kadettenschule für pommersche Junker‘. Jeder der fünf ‚Gouverneure‘ hätte drei 12- bis 13-jährige pommersche Kadetten gehabt – ‚er erhielt sechshundert Taler Gehalt und dasselbe Essen wie die Kadetten‘. Casanova lachte heimlich, besichtigte aber dennoch die notdürftigen Unterkünfte. Zufällig erschien in diesem Moment der König mit seinem ‚Freund Quintus Icilius‘. Vor seinen Augen demütigte der König einen der Gouverneure für eine Nachlässigkeit eines der Kadetten. Casanova war danach eine Begegnung mit dem König so zuwider, dass er es vorzog, seine Absage nur übermitteln zu lassen.
Casanova beschloss, nach Russland zu reisen. Baron ‚Treidel‘ bestärkte ihn in seinem Entschluss, ‚indem er sich erbot, mir eine Empfehlung an seine Schwester, die Herzogin von Kurland, mitzugeben‘. Herrn von Bragadin bat er um eine Empfehlung an einen Petersburger Bankier, der ihm ‚jeden Monat die Summe auszahlen würde, deren ich zu einem bequemen Lebensunterhalt bedürfte‘. ‚Anstandshalber‘ brauchte er einen Bedienten, den er in dem Lothringer Lambert fand, auch wenn er stotterte. Er hatte in einem Streit in Straßburg einen Mann erdolcht und war daraufhin zu Fuß nach Berlin gegangen. Casanova schrieb an den zu dieser Zeit in Straßburg lebenden Herrn von Schauenburg, ob er die Geschichte bestätigen könne. Dort war der Mann unbekannt, auch sei niemand in dem besagten Regiment ermordet worden. Lambert, der die Geschichte erfunden hatte, um als tapfer und damit geeignet für den Soldatenberuf zu erscheinen, räumte ein: ‚Die Armut ist eine schlechte Lehrmeisterin, die einen zu den übelsten Sachen treibt; ich bin von Natur nicht lügenhaft‘. Lambert war aber mathematisch begabt. ‚Er sprach schlecht französisch; da er aber Lothringer war, so wunderte ich mich nicht darüber.‘ ‚Er wußte sich auch nicht zu benehmen und betrug sich wie ein richtiger Bauernjunge.‘ Auch die Rechtschreibung beherrschte er nicht. Dennoch wollte Casanova ihn anstellen.
Nun machte ‚Baron Bodisson aus Venedig, der dem König ein Gemälde des Andrea del Sarto verkaufen wollte, mir den Vorschlag, ihn nach Potsdam zu begleiten.‘ Wie erwartet, traf Casanova dort den König, der ihn fragte, wann er nach Petersburg aufbrechen wolle. Friedrich äußerte die Erwartung, dass Casanova bei der Durchreise über Russland berichten würde, und meinte, dass seine Empfehlungen an Bankiers besser seien als eine an die Kaiserin, die er ja nicht besaß; er wünschte ihm knapp »Adieu!«.
Den letzten Abend verbrachte er mit Denis, die ihm seine Postkalesche abkaufte. Er hatte 200 Dukaten, und diese hätten für die Reise genügt, wenn er nicht in Danzig die Hälfte davon verspielt hätte.
Wie immer ebneten Empfehlungen den Weg: Er ‚erhielt vom Baron Treidel einen Brief an den Großkanzler Herrn von Keyserlingk in Mitau mit einer Einlage für seine Schwester, die Herzogin von Kurland. … In Königsberg, wo ich an den Gouverneur Feldmarschall von Lehwald empfohlen war, blieb ich nur einen Tag. Er gab mir einen Empfehlungsbrief an seinen Freund, den General Wojakoff, Gouverneur von Riga‘ (5, 19). Binnen drei Tagen reiste er von Mitau nach Memel, um ‚als großer Herr ankommen zu können‘ mit einem viersitzigen Wagen mit sechs Pferden.
Unterwegs versuchte ein Jude ihn zum Verzollen seiner Waren zu veranlassen, da er auf polnischem Gebiet sei. Casanova griff – nicht zum ersten Mal – zur Pistole und prügelte den Mann in die Flucht. Der Postillon hatte ‚mit seinem deutschen Phlegma‘ derweil nichts unternommen, sein Bedienter wollte den Eindruck vermeiden, sie wären zu zweit über den Mann hergefallen. Als sie nach zwei Tagen in Mitau ankamen, es war Anfang Oktober 1764, gegenüber dem Schloss, hatte er nur noch drei Dukaten.
Mit seinem Brief, den ihm von Treidel mitgegeben hatte, ging er zu Herrn von Keyserlingk. Von dessen Gattin (Anna Alexandrine Freiin von Manteuffel (1723–1784)) wurde er zu einem Maskenball eingeladen. Wieder gegenüber einem Juden erklärte er sich ‚bereit, hundert [Dukaten] zu nehmen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er zählte mir mit dankbarer Miene sofort hundert Dukaten auf, und ich gab ihm dafür eine Anweisung auf den Bankier Demetrio Papanelopulo, für den da Loglio mir einen Brief mitgegeben hatte‘. Diesen Dienst erlangte er, weil er der polnischen Zofe der Frau Keyserlingks seine letzten drei Dukaten gegeben hatte – er nannte diese ostentative Großzügigkeit seine ‚Renommisterei‘. Diese bewirkte jedenfalls den Eifer des Juden, dessen Namen Casanova – wie so oft – nicht nennt.
Wie üblich wurde er auf dem Fest vorgestellt, hier dem ‚berühmten‘ Herzog Biron oder Birlen und seiner Frau (Benigna Gottliebe von Biron). Ihn bezeichnete Casanova als ‚früheren Günstling der Kaiserin Anna Iwanowna, der nach dem Tode dieser Herrscherin Regent von Rußland gewesen und hierauf zu zwanzigjähriger Verbannung nach Sibirien verurteilt war‘. Die Herzogin eröffnete mit ihm als geladenem Gast die Polonaise, die Casanova nicht kannte. Offenbar kaufte man Kleider üblicherweise bei Juden, denn auch diesmal schickte er Lambert aus, sich einzukleiden.
Aus dem Stegreif veranlasste man ihn, einen Vortrag über Bergbau zu halten, während ein ‚alter Kammerherr, dem alle Bergwerke von Kurland und Samland unterstanden‘ anwesend war. Da Casanova dies nicht ahnte, plauderte er drauflos, was den Herzog im Glauben bestärkte, er sei bei dieser Thematik sehr beschlagen. Er lud Casanova ein, mit ihm die Bergwerke zu besuchen, wobei sie Lambert mit seinen Rechenfertigkeiten begleitete. ‚Unsere Rundfahrt dauerte vierzehn Tage, und wir besuchten fünf Kupfer- oder Eisenwerke.‘ Casanova gab eine Reihe von Hinweisen zu Einsparungen, ließ aber auch Kanäle trockenlegen, um ‚Schwefel und Vitriol‘ gewinnen zu können. Er freute sich, dass er sich hatte nützlich machen können. ‚Auch freute ich mich, in mir ein Talent entdeckt zu haben, von welchem ich bisher keine Ahnung gehabt hatte.‘ Dafür erhielt er ‚vierhundert Albertstaler, die mir der Kassierer in schönen Mitauer Dukaten auszahlte. Der Albertstaler gilt einen halben Dukaten‘ (5, 19).
Mit Lambert brach er nach Riga auf und er ‚schickte sofort dem Prinzen Karl den Brief seines Vaters‘. Dieser 36-jährige ‚Generalmajor in russischen Diensten, Ritter des Alexander-Newskis-Ordens‘ ‚bot mir seinen Tisch, seine Gesellschaft, seine Vergnügungen, seinen Marstall, seinen Rat und seine Börse an, und er tat es mit jenem freimütigen Ton, der einem Soldaten so gut ansteht, und mit jener herzlichen Güte, die eigentlich eine unzertrennliche Eigenschaft aller Fürsten sein sollte.‘ Bei ihm befand sich jener Tänzer Campioni, den er immer wieder traf (5, 20). Dieser hatte Schulden in Petersburg zurückgelassen, nämlich 500 Rubel, bzw. 2000 Francs. Ähnlich wie der Baron von Ste.-Héleine, der gleichfalls verschuldet war, bereitete er seine Flucht nach Polen vor.
Als Zarin Katharina in Riga erschien, wurde er ‚Zeuge der Liebenswürdigkeit und der anmutigen Freundlichkeit, womit sie die Huldigungen des livländischen Adels entgegennahm: alle adligen Fräuleins, die ihr die Hand küssen wollten, küßte sie auf den Mund‘ (5, 20). Just in dieser Zeit versuchten Aufständische, den ‚unglücklichen Iwan Iwanowitsch‘ zu befreien, eine ‚Revolution‘ war im Gang. Seine beiden Wächter töteten ihn, als sie erkannten, dass sie seine Befreiung nicht verhindern konnten. So sah sich die Zarin, deren Alter Casanova mit 35 angibt, gezwungen, ‚Mitau schon vierundzwanzig Stunden nach ihrer Ankunft wieder zu verlassen‘.
Wegen eines großen Betruges beim Glücksspiel wurde dieses fortan auch den Stabsoffizieren untersagt. Der dahinter steckende Russe hatte zugleich als Spion gegen die Zarin Elisabeth agiert: ‚Nach Elisabeths Tode machte Peter der Dritte den Halunken zum Vorsitzenden des Handelsgerichts, und dieser veröffentlichte mit Ermächtigung des neuen Zaren die von ihm geleisteten Dienste, die ihm diese schöne Belohnung eingetragen hatten: er rühmte sich also seines abscheulichen Vorgehens, statt sich dessen zu schämen. Peter wußte offenbar nicht, daß man aus Politik zuweilen ein Verbrechen belohnt, daß man aber den Verbrecher stets verachtet‘. Die ‚Orloffs‘ hatten in Russland das Glücksspiel verboten, obwohl sie selbst dadurch reich geworden waren. Doch zog das Spielen zu viele Gauner an. Ein solcher, genannt Dragon – er ließ sich d’Aragon nennen –, erschien auch bei Casanova; er war einst Fechtmeister am russischen Hof gewesen. Mit 100.000 Rubel ging er an den Hof des Königs Stanislaus, ,wo alle Spiele erlaubt waren‘. ‚In Riga stellte Ste.-Héleine ihn dem Prinzen Karl vor, der ihn bat, am nächsten Tage mit dem Florett gegen ihn und einige Freunde seine Kunst zu zeigen. Ich hatte die Ehre, dabei zu sein. Er verdrosch uns alle ganz gehörig, denn seine Geschicklichkeit war wirklich teufelsmäßig.‘ Doch in Warschau fiel er noch größeren Gaunern zum Opfer. Insgesamt war Casanova zwei Monate in Riga (5, 20).
Am 15. Dezember reiste er ‚bei fünfzehn Grad Kälte‘ von dort ab. Zuvor ‚reiste Campioni mit Unterstützung des trefflichen Prinzen Karl in aller Heimlichkeit ab. Drei oder vier Tage später folgte ihm der Baron von Ste.-Héleine, ohne sich von seinen zahlreichen Gläubigern zu verabschieden.‘
Mit dem sechsspännigen Schlafwagen Campionis fuhr Casanova nach Petersburg; ‚während der sechzigstündigen Fahrt verließ ich meinen Schlafwagen nicht ein einziges Mal.‘ Ein Franzose bediente ihn auf seiner Reise dafür, dass er auf dem Kutschbock sitzen durfte. ‚Nur ein Franzose kann derartige Temperaturunterschiede aushalten; ein Russe würde in einer so leichten Kleidung wie mein Franzose in vierundzwanzig Stunden erfroren sein, trotz allem Kornbranntwein, den er trinken würde.‘ Lambert hingegen ‚war langweilig, denn er war dumm; aber dieser Eigenschaft verdankte er den Vorzug, sich selber niemals zu langweilen.‘ Nur einmal hielt die Kutsche an, nämlich in Narwa, als Casanova einen Pass zeigen musste, den er jedoch nicht besaß. Nachdem er erklärt hatte, Venedig liege mit niemandem im Krieg, ‚gab der Gouverneur mir einen Passierschein, den ich noch jetzt aufbewahre‘.
‚Ingermannland‘ fand er öde ‚und man spricht nicht einmal russisch‘. Die Sprache hatte mit keiner anderen etwas zu tun, wie Casanova festhielt, die Bevölkerung raubte die Wagen der Reisenden. Casanova kam in Petersburg genau zur Wintersonnenwende an, und so wusste er, dass dort der längste Tag des Jahres ‚achtzehn und dreiviertel Stunden‘ dauerte.
Ab dem 21. Dezember 1764[89] hielt sich Casanova für neun Monate in Sankt Petersburg auf. ‚Die Umgangssprache in St. Petersburg, ausgenommen in den Kreisen des niedrigsten Volkes, war die deutsche.‘ Auch registriert er, man müsse seine Abreise in der ‚Petersburger Zeitung‘ ankündigen, wie es in Russland Vorschrift war.[90] ‚Niemand bekam einen Paß früher als vierzehn Tage, nachdem seine Abreise öffentlich angekündigt war.‘ Beim Glücksspiel galt: ‚Es ist eine stillschweigende Bedingung, daß derjenige, der auf Wort verliert, nur bezahlt, wenn er will; der Gewinner würde sich lächerlich machen, wenn er ihn an seine Schuld erinnern würde‘.
Casanova machte die Bekanntschaft des englischen Gesandten Macartney, eines, wie er schreibt, ,schönen und geistvollen jungen Mannes, der ein großer Freund des Vergnügens war. Er hatte sich in ein Fräulein von Schitroff, eine Hofdame verliebt. Die Kaiserin hatte diese ‚englische Freiheit sehr unverschämt gefunden‘, zumal ein Kind daraus hervorgegangen war; ‚sie ließ den Verführer abberufen‘ (5, 20).
Nur einen einzigen Gelehrten lernte Casanova in Russland kennen, nämlich den Minister Alsuwieff. Über diesen lernte er den ‚Kabinettssekretär Teploff‘ kennen. Er hatte ‚das Verdienst‘, Peter III. ‚erdrosselt zu haben, als dieser durch den Genuß von Limonade die Wirkungen des Arseniks beseitigt hatte, das man ihn in einer Flasche Burgunder hatte trinken lassen‘ (5, 20). Über die ‚Tänzerin Mécour, der ich einen Brief von der Santina überbracht hatte‘, lernte er ihren Liebhaber kennen, ‚den dritten Kabinettssekretär Yelagin, der zwanzig Jahre in Sibirien verbracht hatte‘.
Auf einem Fest mit wohl 5000 Besuchern erschien neben Gregor Orloff auch Katharina. Nicht jeder erkannte sie, und so konnte sie hoffen ‚Wahrheiten‘ statt Schmeicheleien zu erfahren.
Wieder durch Empfehlungen und Einladungen lernte er Künstler kennen, ebenso wie Angehörige des Hofstaates und der Verwandtschaft der Zarin, aber auch Fürstin Daschkoff: Diese ‚ist jetzt Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften, und ohne Zweifel haben die Gelehrten in ihr eine zweite Minerva erkennen müssen, denn sonst würden sie wahrscheinlich darüber erröten, daß eine Frau an ihrer Spitze steht‘ (5, 20). Ganz im Gegensatz dazu stand eine Kindertaufe im Eiswasser der Newa. Als ein Kind ertrank, glaubten die Eltern es sei direkt in den Himmel aufgefahren: ‚Glückliche Unwissenheit!‘
Für 100 Rubel kaufte er eine schöne 14-jährige Bauerntochter als Leibeigene. Einer der Adligen bot ihm an, einen ganzen Harem zu kaufen, doch Casanova antwortete: ‚»Wenn ich verliebt bin, brauche ich nur eine«‘. Um sie nicht zu beleidigen musste er ihre Jungfräulichkeit feststellen. ‚Allerdings würde ich sie sicherlich nicht verraten haben, selbst wenn ich sie nicht als Jungfrau gefunden hätte.‘ Nun erst wurde der Vertrag unterzeichnet und Casanova gab ihr den Namen Zaïra (nach dem meistgespielten Bühnenwerk Voltaires). Binnen drei Monaten lernte sie Italienisch, es ‚dauerte nicht lange, so liebte sie mich‘ – sie erinnerte ihn an eine Psyche-Statue in der Villa Borghese. Er selbst sagte, er hätte sie nicht entlassen, wäre sie nicht so eifersüchtig gewesen, und hätte sie nicht so sehr an die Antworten der Karten geglaubt. Lambert entließ er nun aus seinem Dienst: ‚Er betrank sich jeden Tag, und dann war er ein unausstehlicher Flegel.‘
Mit Zaïra reiste er nach Moskau (die Erzählung springt nun immer wieder zwischen Petersburg und Moskau hin und her), ging mit ihr ins ‚Russische Bad‘, wohl eine Sauna. Dort sah man sich nicht gegenseitig an. Jedoch litt das Mädchen unter Eifersucht und Casanova rechtfertigte sein Verhalten ihr gegenüber – er hatte sie geschlagen – folgendermaßen: ‚Der Leser möge sich darüber nicht wundern: es war das beste Mittel, ihr zu beweisen, daß ich sie liebte. Die russischen Frauen sind nun einmal so. Wenn sie ihre Schläge bekommen hatte, wurde sie allmählich wieder zärtlich, und die Liebe vollendete die Versöhnung.‘
Noch heftiger wurde ihre Eifersucht, nachdem er auf ‚Lustknaben‘ getroffen war und an einer Orgie teilgenommen hatte: ‚Um zu wissen, ob ich bei dem Anblick seiner Schönheit kalt bleiben könnte, bemächtigte er sich meiner und nahm, in der festen Überzeugung, daß er mir gefalle, eine geeignete Stellung ein, um, wie er sagte, ihn und mich glücklich zu machen. Ich gestehe zu meiner Schande, daß es vielleicht dazu gekommen wäre, wenn die Rivière sich nicht geärgert hätte, daß in ihrer Gegenwart ein Lustknabe sich ihre Rechte anzumaßen wagte; sie nötigte ihn daher, seine Heldentaten noch aufzuschieben.‘ Schließlich kam es zu einer ‚Orgie‘, in deren Mittelpunkt die Rivière stand, bei der Casanova aber nur zusah, wie er betont.
Als er zu Zaïra zurückkehrte, hatte diese bereits aus den Karten gelesen, was er getrieben hatte. Sie versuchte, ihm eine Flasche an den Kopf zu werfen, schlug selbst ihren Kopf auf den Boden, so dass Casanova glaubte, sie sei wahnsinnig geworden. Wieder begründete Casanova: ‚In Rußland ist das Prügeln absolut notwendig; denn Worte haben keine Macht. Ein Bedienter, eine Geliebte, eine Frau von gewöhnlichem Stande kennen nur den Stock.‘ Die russischen Bedienten seien die Treuesten, doch würde man sie nicht prügeln, würde man selbst geprügelt. Ähnlich urteilte er über russische Soldaten: ‚Mit einer Anrufung des Ehrgefühls ist bei ihm nichts anzufangen; aber mit Schlägen und Branntwein kann man von ihm alles erlangen, was man will, nur keine Heldentaten‘ (5, 21). An letzterem, der Alkoholkrankheit, kranke das ganze Volk.
Casanova erkundete, wie immer, die Besonderheiten des Landes. So wusste er offenbar nichts von Erfrierungen, war aber an medizinischen Fragen interessiert: ‚Als ich eines Tages bei sehr starkem Frost im Schlitten nach Petersburg zurückfuhr, bemerkte ein Russe, daß ich in Gefahr war, ein Ohr zu verlieren. Sofort rieb er mich mit einer Handvoll Schnee, bis der ganze knorpelige Teil durch diese Reibung sich wieder belebt hatte. Als ich ihn fragte, woran er die Gefahr erkannt hätte, antwortete er mir, man sehe es leicht an der bläulich-weißen Farbe; diese sei ein untrügliches Kennzeichen, daß das Fleisch erfriere. Überraschend war für mich, und es scheint mir noch heute unglaublich, daß zuweilen der verlorene Körperteil wieder wächst.‘ Mehrere Zeugen, darunter Prinz Karl von Kurland, behaupteten selbst erlebt zu haben, dass ihre erfrorene Nase nachgewachsen wäre.
Die Zarin ließ durch ihren Baumeister Rinaldi ein riesiges hölzernes Amphitheater für 100.000 Besucher errichten. Dort sollte der gesamte Adel an einem Turnier teilnehmen, doch sollte dieses erst am ersten schönen Tag stattfinden. Doch das Petersburger Wetter ließ dies nicht zu, so dass nach Monaten das Bauwerk abgedeckt werden musste. Derweil hielten sich die Geladenen auf eigene Kosten in der Hauptstadt auf. Das Turnier sollte erst im folgenden Jahr stattfinden.
Ein weiteres Mal sah er die Zarin nach einer Aufführung von Metastasios ‚Olympias‘, als sie bemerkte, sie begreife nicht, wie man Musik, ohne Zweifel schön, leidenschaftlich lieben könne; ‚ich glaube, ich habe von Geburt an kein Gefühl dafür.‘ Bei dieser Gelegenheit sah er die Zarin zum ersten Mal in Petersburg. Dabei küsste sie den Ring des Bischofs, wobei er gleichzeitig, da sie das Kirchenoberhaupt war, ihre Hand küsste.
Mit Zaïra reiste er Ende Mai in sechs Tagen und sieben Nächten in einem Schlafwagen für 80 Rubel. Er meinte, um Mitternacht könne man einen Brief lesen (5, 21). ‚Dieser beständige Tag dauert acht Wochen.‘ In Nowgorod machten sie eine Pause von fünf Stunden. Als ein Pferd des Kutschers nicht fressen wollte, versuchte er es zunächst unter Tränen und Zärtlichkeiten zu überreden, doch als dies nicht fruchtete, verprügelte er das Tier, bis es wieder fraß: ‚Mir blutete das Herz bei dem Anblick.‘ Stockschläge galten als ‚Allheilmittel‘, konstatierte er. Dies habe sich aber, so sei ihm zugetragen worden, in letzter Zeit gebessert.
Alle Ämter entsprachen einem militärischen Rang, wie er erfuhr, notfalls nach dem geschätzten Jahreseinkommen. Als er vor einer Wache behauptete, er habe ein Jahreseinkommen von 3000 Rubel, wurde er als General angesprochen.
Über Petersburg wunderte sich Casanova, denn die Stadt sei unter ungeheuren Kosten auf Schlammboden errichtet worden, als ‚wenn alles zu dem kindischen Zweck erbaut wäre, viele Ruinen zu haben.‘ Doch seit Katharina habe sich Vieles geändert: ‚Damit Petersburg dauerhaft sei, werden stets eine beständige Sorgfalt und große Ausgaben notwendig sein; denn die Natur gibt niemals ihre Rechte auf und nimmt sie sich sofort wieder, sobald der Zwang aufhört. Ich prophezeie, daß früher oder später der lose Boden, auf welchem man diese Riesenmasse aufgeführt hat, unter einem Gewicht weichen wird, das in keinem Verhältnis zu seiner Widerstandskraft steht‘ (5, 21).
‚Wer Moskau nicht gesehen hat, kann nicht behaupten, daß er Rußland kennt; denn die Petersburger Russen sind nicht die eigentlichen Russen.‘ ‚In acht Tagen sah ich alles: Fabriken, Kirchen, alte Denkmäler, Kunstsammlungen und Bibliotheken‘, wobei letztere ihn nicht interessierten. ‚Ich fand die Frauen in Moskau schöner als in Petersburg, und ich glaube, das liegt an der Luft, die dort unendlich viel gesünder ist.‘ Der höchste Heilige, Nikolaus, stand zuoberst. ‚Wer eintritt, macht die erste Verbeugung dem Heiligenbilde, die zweite dem Hausherrn‘; ‚dem Klerus, der selber sehr unwissend ist, ist es angenehm, das Volk in Unwissenheit und Dunkelheit zu erhalten‘ (5, 21).
‚Wir kehrten in derselben Weise, wie wir gekommen waren, nach Petersburg zurück; aber Zaïra wäre es am liebsten gewesen, wenn ich Moskau niemals verlassen hätte. Da sie beständig bei mir war, war sie so verliebt geworden, daß ich nicht ohne Betrübnis an den Augenblick denken konnte, wo ich sie würde verlassen müssen.‘
Casanova ging es schlecht, auch wenn er Glück vortäuschte: ‚Seit meiner Gefangenschaft unter den Bleidächern litt ich an inneren Hämorrhoiden, die mich alljährlich drei- oder viermal belästigten. In Petersburg wurde dieses Leiden ernstlich; regelmäßig wiederkehrende unerträgliche Schmerzen machten mich traurig und unglücklich.‘ Schon fürchtete er, sich operieren lassen zu müssen, doch sollte eine strenge Diät helfen.
Bei einer Parade, zu der er mit Karl von Kurland fuhr, beobachtete er, wie ‚in einer Minute aus einem Geschütz zwanzig Schüsse‘ abgefeuert wurden. ‚Voltaire hatte der Kaiserin seine Philosophie der Geschichte gesandt, die er für sie geschrieben und ihr mit sechs Zeilen gewidmet hatte. Einen Monat darauf kam zu Schiff eine Auflage von dreitausend Exemplaren an; diese verschwand in acht Tagen, denn alle Russen, die ein bißchen französisch konnten, wollten das Buch in der Tasche haben.‘ Erneut fuhr er mit seiner Geliebten zu einer diesmal dreitägigen Parade mit Feuerwerk. ‚Da ich der einzige war, der einen Schlafwagen, ein richtiges fahrendes Haus besaß, so machte man mir in aller Form Besuche, und Zaïra strahlte vor Glück, die Honneurs machen zu dürfen.‘
Auch besuchte Casanova einige Städte, wie ‚Zarsko Selo, Peterhof und Kronstadt. ‚Ich schrieb über mehrere Gegenstände, um eine Anstellung im Zivildienst zu erhalten. Ich reichte meine Arbeiten ein, und sie wurden auch der Kaiserin vorgelegt. Aber ich hatte keinen Erfolg damit. Man legt in Rußland nur auf Leute Wert, die man gerufen hat; wer von selber kommt, macht dort selten sein Glück‘ (5, 21).
Katharina, die seit zwei Jahren Zarin war, konnte er eine Stunde lang bei einem Spaziergang im Garten sprechen, insgesamt sah er sie laut Mangini bei vier Gelegenheiten. Diesmal machte er, wie er selbst meint, eine Anspielung auf ihre geringe Musikliebe, wie ein ‚verschlagener Höfling‘ (6, 1). Graf Panin machte ihm Mut. Die Zarin habe Interesse an einem weiteren Gespräch, das Casanova genau schildert. Tatsächlich kam es dazu im Garten, dem acht oder zehn Tage später ein weiteres folgte. Sie sah keine Möglichkeit Casanova in ihre Dienste zu nehmen; seinen Vorschlag der Kalenderänderung lehnte sie zwar ab, doch in der internationalen Korrespondenz wurden nunmehr beide Datierungen vorgenommen. Sie wollte nicht zwei oder drei Millionen Russen den Namenstag rauben oder das Jahr um 11 Tage verkürzen. Offenbar hatte sich die Zarin auf das Gespräch vorbereitet, ‚um mich zu verblüffen‘. Er hielt ihr Genie für größer, als das des Preußenkönigs: ‚Prüft man Friedrichs Leben, so bewundert man seinen Mut, aber man sieht zugleich, daß er unterlegen wäre, wenn er nicht viel Glück gehabt hätte. Untersucht man dagegen das Leben Katharinas, so findet man, daß sie offenbar auf den Beistand der blinden Göttin sehr wenig gerechnet hat.‘ In einem nochmaligen Gespräch erläuterte ihm die Zarin die Folgen der Kalenderreformen, Casanova erklärt, warum es bei der Datierung more veneto keine Irrtümer geben könne, dann die Vorteile der 24-Stunden-Uhr. Das in Venedig wichtige Glücksspiel wollte sie nur ab einem Rubel Einsatz gestatten, um die Armen davon fernzuhalten. Zu Recht merkt Giulia Baselica die überraschende Tatsache an, dass Casanova nichts über die Eremitage berichte, die gerade erst im Jahr 1764 eröffnet worden war.[91]
Kurz vor seiner Abreise lernte er Valville kennen, eine französische Schauspielerin, die nur einmal als Zofe in den Folies amoureuses aufgetreten war. Da sie der Zarin nicht gefiel, wurde sie ein Jahr lang bezahlt, trat jedoch nicht mehr auf und sie musste das Land danach verlassen. Binnen zwei Stunden klärten sie und Casanova brieflich ihre Gefühle füreinander und bereiteten die Abreise vor. Er verfasste die Eingabe an die Zarin, damit sie das Land verlassen durfte. Später stellte sich heraus, dass die Zarin sogar die Reisekosten übernehmen wollte, das Gehalt für ein Jahr sowie den Pass.
Zunächst wollte Casanova sich aber von Zaira trennen, wenn möglich, sie dem 70-jährigen Baumeister Rinaldi überlassen, der sich in sie verliebt hatte, wie Casanova schrieb. ‚Sie entwickelte sich immer herrlicher, und bei ihrer Schönheit und ihrem Geist wäre ich ihr Sklave geworden.‘ ‚Sie sah meine Tränen fließen, so oft sie ihren Koffer verließ, um mir einen Kuß zu geben. Als ich sie bei ihrem Vater ließ und diesem ihren Paß gab, sah ich um mich herum ihre ganze Familie auf den Knien liegen. Ich schämte mich der menschlichen Natur, die durch die Sklaverei so tief erniedrigt wird.‘ Rinaldi ‚hat sie bis zu seinem Tode bei sich behalten und ihr viel Gutes getan.‘[92]
Casanova ‚nahm als Diener einen armenischen Kaufmann, der mir hundert Dukaten lieh und recht gut auf orientalische Art kochte‘. Seine ‚einzige Freundin‘ war nun Valville.[93] Er ‚hatte einen Empfehlungsbrief des polnischen Gesandten für den Fürsten August Sulkowski und einen anderen von einem anglikanischen Geistlichen für den Fürsten Adam Czartoryski.‘
So reiste er im Oktober 1765 nach Polen, um sich dort um eine Anstellung am Königshof zu bemühen. Erste Station war Koporje. Zwei Tage später begegneten sie dem venezianischen ‚Kapellmeister Galuppi‘, der auf dem Weg nach Petersburg war. Wegen aufgeweichter Straßen brauchten sie acht Tage bis Riga, von dort vier bis Königsberg. Ohne Traurigkeit trennten sich die Wege Casanovas und Valvilles, die nach Berlin wollte. Casanova verkaufte seinen Schlafwagen, fuhr in einem Mietswagen mit, deren übrige Fahrgäste nur Polnisch und Deutsch sprachen. Er lernte ‚die Langeweile in ihrer ganzen Häßlichkeit kennen‘ (6, 1).
Seine Empfehlungsschreiben öffneten in Warschau die wichtigsten Pforten. Dort traf er seinen ‚Freund Campioni‘, der eine Tanzschule führte. Es fanden sich viele Betrüger beim Glücksspiel, die Stadt war ‚voll von Griechen‘. Er nahm sich ‚einen Lohndiener und einen Mietswagen; ein solcher ist in Warschau unentbehrlich, denn es war dort, zu meiner Zeit wenigstens, völlig unmöglich, zu Fuß zu gehen. Es war Ende Oktober 1765.‘
Sein erster Besuch führte ihn zum ‚Fürsten Adam Czartoryski, General von Podolien.‘ Dieser meinte ‚in parfümiertem Französisch, er halte große Stücke auf die Person, die mich empfehle; da er aber für den Augenblick sehr beschäftigt sei, so bitte er mich, mit ihm zu Abend zu speisen, ›wenn ich nichts Besseres zu tun habe‹‘ Casanova stieg sogleich wieder in seinen Wagen und ließ sich ‚zum Fürsten Sulkowski fahren, der soeben zum Gesandten am Hofe Ludwigs des Fünfzehnten ernannt worden war‘. ‚Von dort fuhr ich zu einem Kaufmann namens Szempinski, der mir im Auftrage Papanelopulos jeden Monat fünfzig Dukaten auszahlen sollte.‘ Fürst Repnin fiel ihm auf, da er ‚in einem Ton sprach, wie wenn er der Herrscher von Polen wäre‘ (womit er Recht behalten sollte). ‚›Da ich nichts Besseres zu tun hatte‹ – eine Redensart, die alle polnischen großen Herren unaufhörlich im Munde führten.‘
Beim Fürsten Adam erschien auch der König selbst. ‚Ich trat zwei Schritt vor, und in dem Augenblick, wo ich das Knie beugen wollte, gab Seine Majestät mir mit der größten Anmut die Hand zum Kuß. Als er mich anreden wollte, gab Fürst Adam ihm den Brief des anglikanischen Geistlichen, der ihm ebenfalls sehr gut bekannt war. Der König begann diesen Brief zu lesen, ohne sich zu setzen; hierauf stellte er mir allerlei Fragen über die Zarin und über die hervorragendsten Persönlichkeiten der Hofgesellschaft‘. Doch nicht genug damit: ‚Als zu Tisch gerufen wurde, ging der König in fortwährendem Gespräch mit mir in den Speisesaal und ließ mich zu seiner Rechten Platz nehmen.‘ Casanova mochte nichts essen, so sehr schmeichelte ihm die Ehre, dass ‚die ganze Gesellschaft aufmerksam meinen Bemerkungen lauschte‘. Der König ‚sprach übrigens im elegantesten Stil, aber ganz ungesucht‘ (6, 1).
Sein Kontakt zum ‚prachtliebenden Wojwoden von Rußland, Fürsten August Czartoryski‘ öffnete ihm weitere Türen; seine Frau ‚entstammte der inzwischen erloschenen Familie d’Enoff, als deren letzte Erbin sie dem Wojwoden ein unermeßliches Vermögen zugebracht hatte‘ (6, 1). Sie litt unter einer Krankheit, der sie ‚ohne die Geschicklichkeit des Doktor Reimann [1690–1770],[94] eines Schülers des großen Boerhaave, erlegen sein würde‘. ‚Die Kinder aus dieser Ehe waren Fürst Adam und eine Prinzessin, die jetzt verwitwet und unter dein Namen Lubomirska bekannt ist‘. Maria Zofia Sieniawska (1699–1771) war eine der reichsten Frauen Europas. Ihr Mann und ihr Schwager versuchten, ihren Neffen Stanislaus Poniatowski auf den polnischen Thron zu bringen. Als jedoch der König am 5. Oktober 1763 starb, wurde am 6. September 1764 Stanislaus August zum König gewählt, der zur Zeit von Casanovas Ankunft seit zwei Jahren regierte. Nun war man auf die Ansprüche der russischen Zarin gespannt. ‚Fürst Adam sagte zu mir: »Herr Chevalier, an der Tafel meines Vaters wird stets ein Gedeck für Sie aufgelegt sein.«‘ Dies, so Casanova, habe ihm geschmeichelt.
Wenige Monate nach seiner Abreise sollten die russischen Umstürzler unter anderen den Bischof von Kiew, Zaluski, in dessen Bibliothek Casanova viel Zeit verbracht hatte, nach Sibirien schicken. ‚Das Leben, das ich führte, war also sehr eintönig, aber es war das Leben eines Ehrenmannes, und ich erinnere mich dieser Zeit stets mit Vergnügen.‘ Die Vormittage verbrachte er in der Bibliothek, die Nachmittage an der Tafel des Wojwoden. Immer noch erhielt Casanova aus Venedig jeden Monat 50 Dukaten, doch verschuldete er sich zunehmend. Des Königs ‚Hof war, wie alle Höfe es sein sollten, für alle Welt geöffnet, und wenn er Gäste mit fremden Gesichtern sah, so war er der erste, das Wort an sie zu richten.‘ Er ermöglichte es Casanova, seine Schulden zu begleichen, nachdem er Horaz zitiert hatte: „Coram rege sua de paupertate tacentes plus quam poscentes ferent“ (der besagte Bischof hatte mit ‚»Wer vor dem König nicht von seinen Bedürfnissen spricht, wird mehr erlangen, als andere, die davon sprechen.«‘ übersetzt).
Casanova, der vielfach einräumte, nicht ohne Aberglauben zu sein, hatte Ende Januar 1766 einen Traum, in dem er einen Mann erdolchte. Dieser hatte ihm, indem er ihm eine Flasche an den Kopf geworfen hatte, eine stark blutende Wunde beigebracht. Casanova stieg daraufhin in seinen Wagen, um zu fliehen. Prinz Karl von Kurland kam nach Warschau und besuchte mit Casanova ‚ein Diner bei dem Grafen Poninski‘, der beim König wenig beliebt war, so dass wiederum Casanova ihn nie aufgesucht hatte. ‚Während des Essens zersprang eine Flasche Champagner, ein Splitter traf mich über dem Auge und zerschnitt eine Ader.‘ Casanova war überrascht über das ‚Eintreffen‘ seines Traumes, wenn auch etwas abgewandelt.
‚Die Binetti, die ich zuletzt in London gesehen hatte, traf mit ihrem Gatten und dem Tänzer Pic in Warschau ein.‘ Für 1000 Dukaten sollte sie acht Tage auf Wunsch des Königs in Warschau tanzen. Casanova überbrachte den beiden als Erster die Nachricht. Damit geriet er in einen heftigen Konflikt zwischen Binetti und Caterina Gattai, die bei ihm „Catai“ heißt. ‚Die Binetti und ihr Freund gefielen so sehr, daß unter glänzenden Bedingungen mit ihnen ein Vertrag auf ein Jahr geschlossen wurde. Dies war aber der Catai sehr ärgerlich; denn die Binetti verdunkelte sie nicht nur durch ihre Talente, sondern beging noch das viel größere Unrecht, daß sie ihr ihre Anbeter wegnahm. Von ihr beeinflußt, bereitete Tomatis (der Direktor der Komischen Oper von 1765–1767) der Binetti solche Unannehmlichkeiten, daß die beiden Tänzerinnen unversöhnliche Feindinnen wurden.‘ Diese bekämpften sich in aller Öffentlichkeit, und Casanova schrieb dazu: ‚übrigens liebte ich sie noch und machte mir gar nichts aus der Catai, die zwar hübscher als die Binetti war, aber an Fallsucht litt‘. Bei einem Zwischenfall wurde Tomatis geohrfeigt, der jedoch nicht seinen Degen zog. Zuvor war Branicki in den Wagen des Direktors eingestiegen, dieser hatte ihn aufgefordert selbigen wieder zu verlassen. Diese Demütigung war sogleich ‚Stadtgespräch‘. Binetti bezeigte ‚mir mit spöttischen Worten ihr Beileid zu dem Unglück, das meinen Freund betroffen hätte. Sie langweilte mich, aber ich konnte nicht ahnen, daß Branicki nur von ihr aufgereizt gewesen war, als er sich so benommen hatte, und noch weniger konnte ich ahnen, daß sie mir feindlich gesinnt war‘ (6, 2).
‚Dieser Branicki galt für einen emporgekommenen Kosaken, der eigentlich Branecki hieß.‘ Der gleichnamige Marschall erkannte die erfundene Verwandtschaft nie an. ‚Branicki war die Seele der russischen Partei, die Hauptstütze der Nichtkatholiken und Feind aller derer, die sich nicht dem Einfluß der großen Katharina beugen wollten und sich dagegen sträubten, daß Rußland die alte Verfassung Polens vergewaltigte.‘ Casanova hoffte zu dieser Zeit, der Geheimschreiber des Königs zu werden. Er stand am 3. März 1766 hinter dem König in der Loge, und ‚die Casacci, eine Piemontesin, tanzte so sehr nach dem Geschmack des Königs, daß Seine Majestät in die Hände klatschte, was eine ganz außerordentliche Huld bedeutete.‘
Branicki folgte Casanova und beschimpfte ihn, da jener ein Duell vermeiden wollte, als ‚venetianische Memme‘. ‚Ich sah klar und deutlich, daß Branicki mir nur darum gefolgt war, weil die Binetti ihn aufgehetzt hatte.‘ Über die Polen äußerte Casanova, sie seien: ‚zwar heutzutage im allgemeinen ziemlich höflich‘, doch immer noch seien sie ‚Sarmaten oder Dazier bei Tisch, im Kriege und in der Raserei ihrer sogenannten Freundschaft, die oft nur eine abscheuliche Tyrannei ist. Sie wollen nicht begreifen, daß ein Mensch genügt, es mit einem anderen aufzunehmen, und daß es daher nicht erlaubt ist, rudelweise über einen Menschen, der allein ist und nur mit einem einzigen zu tun hat, herzufallen und ihn abzuschlachten.‘ Casanova entschloss sich, Branicki zum Duell zu fordern, was er ihm 5. März 1766 brieflich mitteilte; er hatte den Entwurf noch in Dux vor sich.
Sein Gegner bestand auf einem Pistolenduell. Noch am selben Tag duellierte er sich mit dem Grafen Franciszek Ksawery Branicki. Wegen des Standesunterschieds der Kontrahenten hätte im Vorfeld des Duells Unklarheit bestehen können, ob Branicki Casanovas Forderung überhaupt annehmen würde. Für sein Handeln im Falle einer Ablehnung hatte sich letzterer bereits bei Fürst Adam Kazimierz Czartoryski erkundigt. Branicki akzeptierte jedoch, da sich im polnischen Adel verbreitet hatte, dass Casanova trotz seiner bürgerlichen Herkunft an mehreren europäischen Höfen verkehrte.[95] Bei dem Pistolenduell wurden beide schwer verwundet, wie oft behauptet wird.
Casanova verbreitete das Ereignis 1780 in seiner Novelle Il duello ovvero Saggio della vita di G. C. veneziano (deutsch „Das Duell oder Versuch über das Leben des Venezianers G. C.“).[96] Doch aus einer Notiz, die sich im Archiv von Dux fand, und die nur acht Tage nach dem Duell entstanden war (Description de l’affaire arrivée à Varsovie le 5 mars 1766), geht hervor, dass tatsächlich sein polnischer Kontrahent am Bauch verletzt worden war. Er selbst hingegen hatte nur einen Schlag auf die linke Hand erlitten, was er auch in seinen Memoiren geschrieben hatte, der aber starke Schmerzen zur Folge hatte. In seinen Memoiren schrieb er zudem: ‚Die Kugel war oberhalb des Zeigefingers eingedrungen, hatte die Fingerwurzel zerschmettert und war in der Hand stecken geblieben.‘ Branicki war auf der rechten Seite unterhalb der 7. Rippe getroffen. Auch versuchte dieser, dem klar war, dass das Duell rechtswidrig innerhalb der Starostei Warschau stattgefunden hatte, Casanova zur Flucht zu überreden, um ihn vor dem Zorn seiner Landsleute in Sicherheit zu bringen. Casanova bedauerte das alles und küsste ihn zum Abschluss auf die Stirn.
In Warschau floh Casanova in ein Rekollektenkloster. Er musste das Land im Juli 1766 verlassen, wobei er sich gezwungen sah, zuerst seine Spielschulden zu begleichen. Bei all dem unterstützte ihn der König. Zunächst wurde das Kloster von 200 Mann geschützt. ‚Am nächsten Tage kamen Scharen von Besuchern und zugleich goldgefüllte Börsen von den Magnaten der dem Grafen Branicki feindlichen Partei.‘ Doch in seiner Eitelkeit, wie er später einsah, lehnte er alle Geschenke ab. Dann tauchten drei Ärzte auf, die zu dem Ergebnis kamen, die Hand müsse amputiert werden. Ein französischer Chirurg aus dem Hause des Fürsten Sulkowski heilte ihn stattdessen innerhalb von 25 Tagen, doch den linken Arm habe er erst 18 Monate später wieder richtig benutzen können.
Am Gründonnerstag erschien er bei Hof. ‚Der König reichte mir die Hand zum Kuß und ließ mich auf den Parkettboden niederknien. Er fragte mich, warum ich den Arm in der Binde trüge – (dies war vorher vereinbart worden) – und ich antwortete ihm, ich hätte Rheumatismus.‘ Branicki ‚hatte sich während meiner Krankheit regelmäßig jeden Tag nach meiner Gesundheit erkundigen lassen und mir meinen Degen zurückgeschickt‘, er bot ihm seine Freundschaft an. Er brauchte noch sechs Wochen zur Gesundung. Von seiner Liebhaberin Binetti wollte er nichts mehr hören. Casanova wurde begnadigt. Immer wieder musste er seine Geschichte erzählen, doch: ‚Die Geschichte hing mir zum Halse heraus, aber aus Gefälligkeit und auch aus Eitelkeit konnte ich solchen Wünschen nicht widerstehen.‘ Als der König ihn fragte, erklärte er, dass er innerhalb Venedigs keinen Patrizier zum Duell hätte fordern können, das wäre ‚lächerlich‘ gewesen, auch hätte dessen ‚Adelsstolz‘ dies nicht gestattet.
Casanova ‚reiste mit einem einzigen Bedienten und mit Campioni, der ein aufrichtiger und treuer Freund‘ war. Wie Casanova später, als er bereits in Wien war, berichtet: ‚Prinz Karl schrieb mir sehr dankbare Briefe; er erklärte, er habe niemals liebenswürdigere und zuvorkommendere Menschen getroffen als meine drei Freunde, und ich könne meinerseits bis zum Tode auf ihn rechnen.‘ Karl hatte sich einen Monat in Venedig aufgehalten (6, 3). Er deutete aber auch an, dass der König Verleumdungen sein Ohr geschenkt hatte, auch wenn Casanova diese später berichtigen konnte.
Nun reiste er nach Lemberg. Zuvor hatte er sich ‚bei dem jungen Grafen Zamoiski aufgehalten …, der vierzigtausend Dukaten Rente besaß, aber an der Fallsucht litt. »Ich würde«, sagte er zu mir, »mein ganzes Vermögen demjenigen geben, der mich wieder gesund machen könnte.«‘ (6, 2). Seine Frau ‚liebte ihn sehr, wagte ihm aber nichts zu gewähren, weil seine Krankheit ihn stets in der Erregung der Liebe befiel.‘ In Lemberg musste er bei ‚der berühmten Kasztellana Kaminska‘ nächtigen, doch sprach sie nur Deutsch und Polnisch. Dort blieb er acht Tage bei der Frau, die die politischen Konstellationen – sie war Gegnerin Branickis und des Königs – trotz ihres Reichtums ruinierten.
Vom Fürsten Lubomirski überbrachte er dem General Józef Rzewuski, der eine Garnison von 500 Mann führte, bei dem er drei Tage wohnte, einen Brief. Der General trug aus Trauer über die politischen Umwälzungen einen langen Bart. ‚Er war reich, gelehrt, abergläubischer Christ und über alle Maßen höflich.‘ Doch er war auch einer ‚von den vier Magnaten, die Repnin aufheben und nach Sibirien bringen ließ‘ (6, 2).
Nun reiste Casanova nach ‚Christianpol‘ (Schytomyr?), wo der Wojwode von Kiew lebte, Potocki, ‚einer der Liebhaber der russischen Kaiserin Anna Iwanowna‘. Dort blieb er 14 Tage. Sein Leibarzt ‚war der berühmte Styrneus, ein geschworener Feind des noch berühmteren van Swieten.‘ ‚Dieser Styrneus war zwar sehr gelehrt, aber etwas verrückt und ein Anhänger der empirischen Methode. Er befolgte das asklepiadische System, obgleich dieses seit dem großen Boerhave unhaltbar geworden war; trotzdem machte er erstaunliche Kuren.‘ Danach kehrte Casanova nach ‚Lemberg zurück, wo ich mich acht Tage lang mit einem sehr hübschen Mädchen amüsierte‘ – etwas, was er seit Monaten unterlassen hatte. Sie heiratete später den ‚Grafen Potocki, Starost von Sniatin‘.
Von Lemberg ging die Reise nach ‚Pulavy‘, in ein Schloss an der Weichsel, das ‚dem Fürsten Wojwoden von Rußland gehört‘. Ein Bauernmädchen lief davon, als Casanova, der sich langweilte, ihre Gunstbezeigungen kaufen wollte. Er stellte fest, dass der Vater sie wohl mit der Peitsche hatte zwingen wollen. Er wollte ihr Gesicht sehen, denn er fand: ‚»Für mich, mein guter Freund, ist das Gesicht das Wesentliche und alles übrige nur ein Anhängsel.«‘ Ihm gefiel keines der Mädchen und nach ‚acht Tagen des Überflusses und der Langeweile kehrte ich nach Warschau zurück‘.
So besuchte er ‚Podolien und Wolhynien, die wenige Jahre später Galizien und Lodomerien genannt wurden, denn sie konnten nicht österreichisches Gebiet werden, ohne den Namen zu ändern.‘ In Warschau wurde er ‚geradezu schlecht empfangen‘. ‚Nur die Fürstin Lubomirski, die Schwester des Fürsten Adam, lud mich in gütigem Ton ein, bei ihr zu Abend zu speisen. Voller Freuden begab ich mich hin und sah mich an einem runden Tische dem König gegenüber, der nicht ein einziges Mal das Wort an mich richtete. Das war mir noch nicht widerfahren.‘
Schließlich erhielt er königlichen Befehl, die Starostei Warschau binnen acht Tagen zu verlassen. ‚Kochend vor Zorn, ohne alle Rücksicht auf die etwaigen Folgen, schrieb ich an den König, meine Ehre erheische, daß ich seinem Befehl nicht gehorche. Ich schrieb: »Meine Gläubiger, Sire, werden mir verzeihen, daß ich Polen nur darum verlassen habe, ohne sie zu bezahlen, weil Eure Majestät mich mit Gewalt ausgetrieben haben.«‘ ‚Am nächsten Morgen brachte Graf Moszczynski mir tausend Dukaten. Er sagte mir, der König hätte nicht gewußt, daß ich Geld brauchte, und es wäre viel wichtiger, daß ich mein Leben behielte; aus diesem Grunde hätte Seine Majestät mir den Befehl gesandt, Warschau zu verlassen; denn wenn ich in Warschau bliebe und nachts ausführe, oder am Tage zu Fuß ginge, so wäre ich Gefahren ausgesetzt, denen ich auf die Dauer unmöglich entgehen könnte.‘
Nun beglich Casanova seine Schulden in Höhe von 200 Dukaten und sah vor, mit dem Grafen Clary nach Breslau zu reisen. Graf Clary fand keinerlei Vertrauen mehr, war zudem desertiert und konnte sich in Wien daher nicht mehr blicken lassen. ‚Er ist in Venedig in tiefstem Elend gestorben.‘ Campioni begleitete Casanova bis Wartenberg. Er traf erst sieben Monate später in Wien wieder mit Casanova zusammen, nachdem er nach Warschau zurückgekehrt war.
Während Clary bereits abreiste, blieb Casanova noch in Breslau,[98] da er noch die ‚Bekanntschaft des Abbés Bastiani (1714–1786) machen wollte. Dieser berühmte Venetianer hatte durch den König von Preußen sein Glück gemacht und war Domherr in Breslau.‘[99] Sein Lob dieses Sohnes eines Schneiders war überschwänglich. Er war bisexuell, liebte eine Frau im elften Stock seines Hauses, war vielleicht Vater ihrer Kinder; er war aus einem Franziskanerkloster entflohen, nach dem Haag gegangen, hatte dort den venetianischen Gesandten Tron aufgesucht. Mit diesen begab er sich zum Preußenkönig.
Einen Tag vor seiner Abreise warb Casanova eine 25-jährige ‚Gouvernante‘ an, die Maton hieß. ‚Ich lebte eben so dahin, ohne meine Gewohnheiten zu ändern und absichtlich nicht daran denkend, daß ich anfing, nicht mehr ein junger Mann zu sein, und daß ich auf Liebe auf den ersten Blick, die mir so oft zuteil geworden war, nicht mehr rechnen konnte‘ (6, 3). Seit Zaïra hatte er nur Genüsse der oberflächlichen Art gehabt.
In Dresden stiegen die beiden im Hotel de Saxe ab. Seine ‚Mutter war auf dem Lande; ich fuhr zu ihr hinaus, und die liebe gute Frau war überglücklich, mich zu sehen… Hierauf besuchte ich meinen Bruder Giovanni und dessen Frau, die Römerin Teresa Roland, die ich bereits vor ihm gekannt hatte, und die mich mit großer Freude empfing. Ferner besuchte ich meine Schwester, die Frau von Peter August. Hierauf ging ich mit meinem Bruder zum Starosten Grafen von Brühl, um ihm und seiner Gemahlin, der Tochter des Wojwoden von Kiew, meine Aufwartung zu machen.‘ Casanova besaß noch 800 Dukaten.
Nach ‚einer wollüstigen Nacht‘ waren Maton und Casanova ‚die besten Freunde von der Welt‘. Maton, die 14 Tage bei ihm blieb, wurde schon bald der Hof gemacht, vor allem durch den Schweizer Grafen Bellegarde. Casanova ‚war eifersüchtig, aber mit dem Verstande, nicht mit dem Herzen.‘ Ihm wurde ihre bevorstehende Untreue klar: ‚Und von diesem Augenblick an liebte ich sie nicht mehr.‘ Sie litt seit sechs Monaten unter einer Geschlechtskrankheit, hatte aber gehofft, Casanova nicht anzustecken. Er zwang sie, in ein anderes Gasthaus zu gehen, und überließ ihr 50 Heller. Er selbst mietete für ein halbes Jahr das möblierte erste Stockwerk des Hauses, in dem seine Mutter wohnte. Acht Tage später hörte er von seinem Bruder Giovanni, ‚der Graf von Bellegarde und fünf oder sechs von seinen Freunden befänden sich in ärztlicher Behandlung‘. Casanova unterwarf sich einer strengen Kur und war Mitte August wieder gesund.
Beim Glücksspiel gewann er einige hundert Dukaten, so dass er mit einem Kreditbrief von 3000 sächsischen Talern auf den Bankier Hofmann nach Leipzig abreiste. Die Prinzessin von Arenberg wohnte im selben Gasthof. Sie war ‚sehr hübsch‘, besaß ‚viel Geist‘ und sie hatte den verstorbenen Kaiser Franz I. Stephan ‚mit ihrer Huld beglückt‘. Als sich die Prinzessin inkognito unter das Volk mischte, bot er ihr an, er würde 100 Dukaten geben, um die Nacht mit ihr zu verbringen. Sie stellte sich als Caroline vor. Am nächsten Mittag traf er sie in Begleitung des Grafen von Zinzendorf, den er aus Paris kannte. Weitere Folgen, außer dass beide so taten, als würden sie sich nicht kennen, hatte das ‚Abenteuer‘ nicht.
Castelbajac, deren Graf Schwerin, mit dem sie seit drei Jahren lebte, wegen eines Wechsels über 300 Taler der Galgen drohte, und der drei Jahre zuvor versucht hatte ‚mich mit seinen falschen Banknoten an den Galgen zu bringen‘, tat ihm leid. Die etwa 26-Jährige – ‚eine der größten Schönheiten Frankreichs‘ – hatte nichts mehr und bat ihn auf Knien um Hilfe. ‚Sie war die Frau eines Apothekers in Montpellier und hatte das Unglück gehabt, sich von Castelbajac verführen zu lassen.‘ Ehrlicherweise zeigte sie Casanova, dass auch sie sich angesteckt hatte: ‚Die Handlungsweise der Frau fand ich edel und zartfühlend‘; sie bedauerte es, sich ihm unter diesen Umständen nicht dankbar erweisen zu können.
Er reiste mit ihr nach Dresden. ‚Sie hatte nicht, wie Maton, das Aussehen einer Dirne, sondern konnte sich in der Gesellschaft sehen lassen, beherrschte den guten Ton und hatte ein bescheidenes und doch imponierendes Auftreten.‘ Er stellte sie seiner Mutter als ‚Gräfin Blasin‘ vor. Ende November hatte er ihre Krankheit auskuriert. ‚Die Vermählung wurde in aller Heimlichkeit vollzogen und war sehr süß. Als Hochzeitsgeschenk erhielt ich am Tage darauf die Nachricht, der König von Preußen habe Schwerins Schuld bezahlt… Wenn er nicht gestorben ist, befindet er sich noch in Spandau.‘[100] Als die beiden Mitte Dezember Dresden verließen – er besaß nur noch 400 Dukaten – hatte er ihr bereits versprochen, ihr die Rückkehr nach Montpellier zu ermöglichen.
Nach kurzem Aufenthalt in Prag kamen sie in Wien am 25. Dezember an. Gräfin Blasin hatte sich bis Wien in eine Modistin verwandelt. Obwohl sie getrennte Zimmer hatten, wurde sie völlig überraschend von Bütteln aufgefordert, die Stadt binnen 24 Stunden zu verlassen. Dennoch verbrachten sie noch vier Tage und Nächte, bis sie abreiste. Sie schrieb von Straßburg aus und bei seiner Durchreise durch Montpellier würden sie sich wiedersehen.
Am Neujahrstag suchte er Casalbigi auf, der, von Beulen übersät, nur noch im Bett ‚unter dem Fürsten Kaunitz für das Ministerium arbeitete‘. Auch besuchte er Metastasio, ebenso wie sein Theater. ‚Am 7. oder 8. Januar sah ich die Kaiserin-Mutter ganz in Schwarz gekleidet ins Theater kommen. Sie wurde mit allgemeinem Händeklatschen empfangen, denn es war das erstemal, daß sie sich seit dem Tode ihres kaiserlichen Gemahls in der Öffentlichkeit zeigte‘ (6, 3).
Beim ‚Grafen de la Perouse‘ traf er den Venetianer Uccelli, mit dem ich im Kollegium San Cipriano auf Murano zusammen gewesen war; er war in Wien als Gesandtschaftssekretär bei dem Botschafter Polo Renieri.
Zu dieser Zeit ‚kam mein Freund Campioni in Wien an; er war von Warschau über Krakau gereist. … Er hatte ein Engagement in London, konnte jedoch ein paar Monate mit mir verbringen, worüber ich hocherfreut war.‘ Casanova lebte ruhig, wie er notiert, er ‚sah weder gute noch schlechte Gesellschaft, ging regelmäßig ins Theater und speiste oft bei Casalbigi, der sich mit seinem Atheismus brüstete und in unverschämter Weise auf Metastasio lästerte, der ihn verachtete.‘
Nun beging Casanova wieder, wie er meinte, von seinem bösen Geist getrieben, den Fehler, sich von einem lateinischen Verse aufsagenden Mädchen in eine Falle locken zu lassen. In ihrer Wohnung warteten der Dieb Pocchini, ‚seine angebliche Frau Catina‘ und ‚zwei slawonische Räuber‘. Unumwunden erklärte Pocchini, dass die Zeit der Rache für England gekommen sei. Die Männer zwangen ihn, seine Geldbörse herauszugeben und sogar, Pocchini als Versöhnung zu umarmen. Casanova sah schon sein Ende voraus, doch man ließ ihn überraschenderweise gehen (6, 3).
Doch nun wurde Casanova zum Grafen von Schrattenbach vorgeladen.[101] Er wurde wegen Glücksspiels aus der Stadt gewiesen: ‚Dies, lieber Leser, war einer der fürchterlichsten Augenblicke, die ich in meinem Leben gehabt habe; ich zittere noch jetzt, so oft ich daran denke‘ (6, 4). Er versuchte, den Grafen Kaunitz für sich zu gewinnen, der ihn jedoch an den Vertreter Venedigs verwies. Casanova antwortete: ‚»Ach, mein Fürst, ich habe kein Vaterland mehr, obgleich ich es immer noch liebe. Eine Gewaltmaßregel beraubt mich meiner Bürger- und Menschenrechte.«‘ Während Polo Renier, der Gesandte Venedigs, untätig blieb, stellte ihn Graf von Vitzthum unter seinen Schutz. Binnen zehn Minuten schrieb Casanova unter dem 21. Januar 1767 eine Eingabe an die Kaiserin, deren genauen Text er überliefert. Doch die Kaiserin stellte sich vor den ‚kaiserlichen Henker Schrattenbach‘, wie Casanova ihn nennt, der ein Amt – die Keuschheitskommission – führte, das niemand sonst ausüben wollte.
Inzwischen waren die Betrüger aus Wien geflohen. Casanova gab auf, zumal andere ähnlich mit Zwang überzogen, ihrer Freiheit beraubt wurden: ‚Es steht außer Frage, daß jede edle Seele stets an das unantastbare Recht glauben wird, »frei zu sein«. Und doch, wer ist wirklich frei in dieser Hölle, die man Welt nennt? Niemand. Nur der Philosoph vielleicht, aber er ist es durch Opfer, die für das mit dem geheiligten Namen »Freiheit« geschmückte Trugbild wahrscheinlich zu kostspielig sind.‘
Um seine Gesundheit zu retten, wie er schrieb, verfasste er einen scharf formulierten Brief an jenen Franz Ferdinand von Schrattenbach, den er in Linz zur Post brachte. In drei Tagen reiste er nach München. Dort besuchte er den Grafen Kajetan Zavoiski, dem er in Venedig nützlich gewesen war. Er gab Casanova 25 Louis – sehr viel weniger, als Casanova ihm einst hatte zukommen lassen – und einen ‚Brief für den Hofmarschall des Fürstbischofs von Augsburg, den Grafen Maximilian von Lamberg, dessen Bekanntschaft zu machen ich bereits die Ehre gehabt hatte‘ (6, 4).
Casanova entschloss sich, ‚vier Monate in einer freien Stadt wie Augsburg zu verbringen, wo die Fremden dieselben Vorrechte hatten wie die Domherren‘. Er spielte nun in einer Art Krieg gegen die ‚Griechen‘, von denen es immer mehr gab, ‚wie es ja auch bald mehr Ärzte als Kranke gibt.‘
Vergeblich suchte er Gertrud, denn ‚der Kupferstecher war gestorben, und kein Mensch konnte mir sagen, was aus seiner Tochter geworden war‘. Aber ‚Anna Midel, die kleine Magd bei Gertruds Vater‘, erkannte ihn wieder. Zu seiner Überraschung erklärte sie, er sei schuld an ihrem Unglück: ‚»Die vierhundert Gulden, die Sie mir gaben, veranlaßten den Kutscher des Grafen Fugger, mich zu heiraten. Er hat nicht nur das ganze Geld verzehrt und mich dann verlassen, sondern mir auch eine gräßliche Krankheit mitgeteilt, an der ich beinahe gestorben wäre. Ich bin mit dem Leben davongekommen. Aber wie sehe ich jetzt aus.«‘ ‚Gertrud freute sich, als sie mich wieder sah, stellte mich ihrem Mann als einen früheren Mieter ihres Vaters vor…‘ Seine Versuche, endlich wieder eine Geliebte zu finden, scheiterten auch hier.
‚Zu Beginn der Fastenzeit‘ kamen Campioni, dem er seine Wiener Wohnung überlassen hatte, und Binetti in Augsburg an. Letzterer, eigentlich Georges Binet (Binetti), reiste nach Paris, ‚um sich dort eine Stelle zu kaufen‘, nachdem er ‚seine Frau ausgeplündert‘ hatte. Campioni, der einen Monat später nach London reiste, sagte ihm, dass niemand an Casanovas Schilderung zweifle, und dass Pocchini und der Slawonier wenige Tage nach seiner Abreise verschwunden wären. ‚Alle Welt tadele den Statthalter.‘
Als Casanova drei Monate in Augsburg war, unternahm er mit Graf Lambergs[102] schwangerer Frau, einer geborenen Gräfin Dachsberg (Maria Josepha Freiin von Dachsberg), und ‚dem Domherrn Grafen Fugger eine Ausfahrt‘.[103] Eine Dreiviertelstunde von Augsburg entfernt, in einem Gasthof, setzten bei ihr überraschend früh die Wehen ein. Sie wandte sich um Hilfe an Casanova, dem sie ‚mehr Kenntnisse auf dem Gebiete zutraute‘. Er ‚trug sie sozusagen in den Wagen‘. Fünf Minuten nach ihrer Ankunft im Schloss – wieder trug Casanova die Gräfin – kam das Kind zur Welt. ‚Dem Domherrn war eine Zentnerlast vom Herzen gefallen, und er ging schnell nach Hause, um sich die Ader schlagen zu lassen.‘
Regelmäßig aß Casanova bei den Lambergs. Dabei waren der seinerzeitige Page des Fürstbischofs, Graf von Thurn und Vallesassina, der spätere Dekan des Regensburger Domkapitels, und der fürstbischöfliche Leibarzt Francesco Antonio Algardi aus Bologna, zugegen. Auch erschien dort oft der preußische Offizier Baron Sellentin, ‚der in Augsburg seinen ständigen Wohnsitz hatte, um für seinen königlichen Herrn Rekruten zu werben‘. Casanova besuchten mehrere Polen, ‚die ihr Vaterland wegen der ausgebrochcnen Unruhen verließen‘. Darunter war der Großnotar der Krone Rzewuski, ‚den ich in Petersburg als Liebhaber der armen Langlade gekannt hatte‘ (sie starb an der Pest).
Casanova ließ sich überreden, nach Spa zu reisen. Dazu verließ er Augsburg am 14. Juni 1767. Wie so oft knapp bei Kasse, ‚schrieb ich dem Prinzen Karl von Kurland, der in Venedig war, er möchte mir etwa hundert Dukaten schicken. Um ihn zu veranlassen, mir das Geld sofort zu senden, teilte ich ihm ein unfehlbares Mittel mit, um den Stein der Weisen zu gewinnen.‘ Dieser Brief war nicht chiffriert, und so riet Casanova dem Prinzen, ihn zu verbrennen.
Als man bei ‚der Zerstörung der Bastille‘ diesen Brief fand, ließ man ihn drucken und sogar ins Deutsche und Englische übersetzen. In Böhmen waren seine späten Feinde ‚so dumm, mir vorzuwerfen, daß ich der Verfasser des Briefes sei, und glaubten mich zu Boden zu schmettern, indem sie mir sagten, man habe den Brief zu meiner ewigen Schande ins Deutsche übersetzt. Die dummen, böhmischen Trottel, die mir diesen Vorwurf machten, waren ganz verblüfft, als ich ihnen ins Gesicht lachte und antwortete, gerade dieser Brief mache mir unsterbliche Ehre, und wenn sie etwas weniger lange Ohren hätten, so würden sie mich nicht tadeln, sondern bewundern.‘ Den gesamten Wortlaut des Briefes vom Mai 1767 übertrug er ausdrücklich am 1. Januar 1798 in seine Memoiren: ‚Ich weiß nicht, ob mein Brief verändert worden ist; da er aber nun einmal veröffentlicht wurde, so will ich ihn hier mitteilen, um der Wahrheit die Ehre zu geben; denn diese ist der einzige Gott, den ich anbete.‘ Seinerzeit in Riga hatte Casanova Karl zugesagt, ihm das Geheimnis der Verwandlung von Eisen in Kupfer zu verraten, was er jedoch unterließ. Nun wolle er ihm mitteilen, wie man Gold herstelle, doch betont er, der Vorgang müsse so überaus präzise vollzogen werden, dass er unbedingt abwarten solle, bis sie sich wiedersähen. Als Lohn erhoffte er sich die ‚Direktorstelle‘ über Karls Bergwerke. Im Anschluss an den vollständig zitierten Brief schloss Casanova: ‚Wenn dieser Brief – gleichviel in welcher Sprache er gedruckt sein mag – anders lautet, so ist er nicht von mir, das behaupte ich allen Mirabeaus der ganzen Welt ins Gesicht.‘ Zudem wehrte er sich gegen den Vorwurf, aus Frankreich verbannt worden zu sein, denn der König habe nur gleichsam von seinem Hausrecht Gebrauch gemacht. ‚Wirklich ausgewiesen werden kann man nur durch ein Urteil, das durch das Gesetzbuch begründet ist.‘
Ein Bote, der ihn in Augsburg nicht mehr angetroffen hatte, erreichte ihn in Ulm mit einem Brief Karls. Um den drei Offizieren, die in Ludwigsburg gegen ihn gestanden hatten, Angst einzujagen, behauptete er, er ‚trete als Geheimsekretär mit zwölfhundert Talern Gehalt‘ in den Dienst des Herzogs von Württemberg und werde nach Stuttgart kommen. ‚Außerdem freute ich mich auf den Empfang von Seiten der vielen Bekannten, die ich dort noch haben mußte: außer der Toscani, die des Herzogs Geliebte war, mußte ich Baletti und Vestri finden…‘, womit er Luigi Giuseppe, den jüngeren Bruder seines Pariser Freundes Antonio Stefano Balletti meinte. ‚Da die Rückkehr des Fürsten unmittelbar bevorstand, so würde man gar nicht auf den Gedanken kommen, daß ich eine Fabel aufgebracht hätte. Der Herzog würde mich bei seiner Ankunft nicht mehr finden, denn ich würde mich natürlich entfernen, sobald der Kurier, der ihm vorausritt, seine Ankunft meldete. Ich würde einfach allen Leuten sagen, ich reiste Seiner Hoheit entgegen, und alle Leute würden sich von mir anführen lassen.‘ Dieser Herzog hatte sicher ‚den beleidigenden Brief nicht vergessen, den ich ihm geschrieben hatte‘.
Die Toscani und ihr Mann, voller Freude, teilten ihm mit: ‚Sie können sich von der Bestürzung ihrer drei Feinde gar keine Vorstellung machen!‘ Nachdem er sich mit der jungen Toscani, der Liebhaberin des Fürsten, besprochen hatte, stellte er fest: ‚Arme Leute, diese Fürsten – sie werden niemals um ihrer selbst willen geliebt!‘ Sie hatte ihn wegen seiner unausgesetzten Affären verlassen, heiratete nun aber einen Mann, den sie verachtete. Und: ‚als ich mit Baletti nach seinem Hause ging, war ich ganz verliebt, besonders in die Vestri und in die junge Toscani.‘ Über Nacht änderte er den Text, den Vestri auf die Bühne bringen wollte, indem er die Stellen änderte, in denen ihr schnarrendes „r“ zu hören sein würde – für einen Kuss. Später verpflichtete der Herzog den Autor dazu, für Vestri ausschließlich Texte ohne „r“ zu verfassen. Die gut gelaunte Gesellschaft endete erst, als der Herzog durch einen Boten angekündigt wurde. Nur Baletti, bei dem er gewohnt und den er als einen „garçon rempli de talent et d’esprit que j’aimais à la folie“ erwähnt, durchschaute ihn, als Casanova seine Koffer packte.
Casanova wollte acht Tage in Mannheim bleiben, um dort Algardi wiederzusehen, ‚der in den Dienst des Kurfürsten von der Pfalz getreten war.‘ Algardi, der Prinz Friedrich von Zweibrücken behandelte, der mit dem Tod rang, meinte, nachdem Casanova ihn gefragt hatte, ob er dem Patienten die Wahrheit gesagt hätte: Ein ‚kluger Arzt hat die Pflicht, seinen Kranken niemals zur Verzweiflung zu bringen; denn die Verzweiflung kann den Tod nur beschleunigen‘ (6, 4). Casanova räumte ein, dass ‚Sie als sein Arzt sich nicht der Gefahr aussetzen konnten, sein Leben abzukürzen, indem Sie ihm die allerschrecklichste Wahrheit sagten. Und dies bringt mich zu dem Schluß, daß Sie einen unglücklichen Beruf haben.‘ Nach 14 Tagen verließ er das ‚köstliche Schwetzingen‘. Dem Dichter Veraci hinterließ er einen Teil seines Gepäcks, den er 1798 noch immer aufbewahrte.
Dann reiste er nach Mainz, von wo er mit einem Rheinkahn, auf den er seinen Wagen verfrachtet hatte, ‚in dem häßlichen Köln‘ Halt machen wollte, wo er Ende Juli 1767 ankam. Dort suchte er Herrn Jacquet von der Kölnischen Zeitung auf, der von seiner Verbannung aus Polen geschrieben hatte. Der Bürgermeister (Franz Jacob de Groote) und ‚seine schöne Mimi‘ nahmen ihn herzlich auf.[104] Doch konnte er sie, die unter schlechtem Gewissen gelitten hatte, nicht erneut gewinnen. So reiste er weiter nach Aachen. Doch zuvor wollte er noch Jacquet wegen des besagten Artikels verprügeln, den er für einen ‚Tintenklexer‘ hielt, doch genügte ihm am Ende ein Tritt, nachdem er ihn mit der Pistole bedroht hatte.
Abends in Aachen angekommen, fand er ‚die Fürstin Lubomirska, den General Roniker, mehrere andere vornehme Polen, Tomatis, dessen Frau und eine Menge Engländer, die ich kannte‘ (6, 4). Allerdings meinte er zu Spa: ‚Alle Welt ging dorthin, … mehrere waren nach Aachen zurückgekommen, weil sie in Spaa nicht einmal eine Dachkammer hatten finden können‘ (6, 5). Obwohl Casanova nur einen unterwegs verlorenen Hut ersetzen wollte, fand er bei jenen Hutmachern eine Kammer. Er musste nichts bezahlen, sie würden im Laden nächtigen, und – was Casanova stutzig machte – ihre Nichte würde ihm nicht zur Last fallen. Dabei war das Paar, das aus Lüttich stammte, von ‚musterhafter Häßlichkeit‘.
In der Stadt – ‚die Menge des Geldes, das in Spaa umläuft, ist erstaunlich: Speisewirte, Ladeninhaber, Gasthofsbesitzer und Freudenmädchen erhalten einen guten Teil davon; auch die Wucherer machen gute Geschäfte. Die Spielleidenschaft ist stärker als die Galanterie‘ – traf er auch den Marchese Caraccioli wieder, den er zuletzt in London gesehen hatte. Das Geld aus dem Spielbetrieb, geht in die Tasche des Fürstbischofs von Lüttich, ein Teil an die Gauner, ‚von denen es hier wimmelt und die im allgemeinen schlechte Geschäfte machen; denn man weicht ihnen aus…; den größten Teil endlich, den man jährlich auf eine halbe Million schätzt, erhalten zwölf gewerbsmäßige Spieler, die unter sich eine Gesellschaft bilden und vom Landesherrn autorisiert sind.‘ Casanova beteiligte sich und gewann 20 Louis. Bei seiner Rückkehr traf er auf die hübsche, 18- bis 19-jährige Nichte. Merci, so hieß die Nichte, sorgte unter anderem für ‚Strümpfe, aber von den großen, denn der Herr hat starke Waden‘. Sie galt als fromm und infolgedessen als ‚widerhaarig‘. Allerdings wollte er sich eine andere Unterkunft suchen, denn ‚eine Pamela … war mir ebenso verhaßt wie eine Charpillon.‘ Auf einen Annäherungsversuch reagierte sie mit einem einzigen Faustschlag, der eine blutige Nase und eine Beule zur Folge hatte. Er schämte sich, auf die Straße zu gehen. Doch bald klopfte Merci an seine Tür, aber er wies sie, wenn auch zurückhaltend, nun seinerseits zurück.
Der Zufall führte ‚Marchese Don Antonio de la Croce‘ in dasselbe Haus, wo Casanova wohnte. Croce und er erzählten sich die Erlebnisse seit Mailand vor sechs Jahren. Er hatte die im sechsten Monat schwangere Marchesa della Croce – 16 oder 17 Jahre alt –, die ihr Vater ins Kloster stecken wollte, entführt. Er besaß 50.000 Franken in Gold und wollte ‚Charlotte‘ heiraten, um dann nach Warschau zu gehen. Doch Casanova gab ihm keinerlei Empfehlungsschreiben mit, wollte sich aber immerhin ‚neutral‘ halten, denn Croce war Spieler. Wegen eines Diamanten, der so eingefasst war, dass er mehr wog, geriet Casanova in Streit mit einem französischen Betrüger, den er mit dem Degen, nachdem er angegriffen worden war, verletzte. Trotz zahlreicher Zeugen hatte dies keinerlei Folgen.
Unglücklicherweise verliebte er sich in Charlotte, während er ihren Zukünftigen eindringlich davor warnte, ihr Glück zu verspielen. Casanova blieb nur ihr zuliebe in Spa, musste zusehen, wie Croce nicht nur sein eigenes Vermögen, sondern schließlich auch ihren Schmuck verspielte, ‚weil er wie ein verzweifelter Narr das Glück gegen jeden Sinn und Verstand zwingen wollte‘. Schließlich legte er Casanova ‚Charlotte ans Herz‘. Er musste die Nachricht vom Unglücklichen, der mit fast nichts zu Fuß nach Warschau gehen wollte, der Hochschwangeren mitteilen. ‚Sie fand die Schicksalsfügung wunderbar, daß ich zum zweitenmal die Fürsorge für ein Mädchen übernehmen mußte, das der unglückselige Spieler in einer noch schlimmeren Lage verlassen hatte; denn sie war im achten Monat schwanger.‘ Casanova übernahm eine eher ungewohnte Rolle, denn ‚obwohl ich sie stundenlang in meinen Armen hielt, begnügte ich mich damit, ihre schönen Augen zu küssen und verlangte niemals etwas mehr für meine Zärtlichkeit.‘ ‚Unser Verhältnis hatte etwas von der Reinheit einer ersten Liebe.‘
Sie reisten über Lüttich, dann durch die Ardennen, um Brüssel zu vermeiden, ‚wo sie erkannt zu werden fürchtete‘. Über Luxemburg, wo sie einen Bedienten einstellten, der bis Paris bei ihnen blieb, ging es weiter über Metz und Verdun. ‚Wir stiegen in Paris im Hotel Montmorency in der Straße gleichen Namens ab.‘
Die beiden waren im Oktober 1767 in Paris eingetroffen. Doch ‚Frau von Urfé war tot … Arme waren reich, Reiche arm geworden; überall waren neue Gebäude, neue Straßen; ich fand mich nicht mehr zurecht‘ (6, 4). Das Theater hatte sich verändert, der Geschmack, alles war teuer, überall neue Gebäude, neue Promenaden, die Boulevards waren entstanden. ‚Die Reichen und die Armen waren gleichzeitig und gegenseitig Schauspiel und Zuschauer. Paris ist vielleicht die einzige Stadt auf der Welt, deren Aussehen sich in fünf oder sechs Jahren vollständig ändert.‘ Mit Freuden empfing ihn Gräfin du Rumain, bei der er seine Schulden begleichen konnte; auch sein Bruder und seine Schwägerin freuten sich.
Am 8. Oktober ging er mit Charlotte zur Hebamme Lamarre in der Rue du Faubourg St. Denis. Er erklärte, ‚eine gebärende Frau ist keine Kranke, und niemals ist eine Frau im Wochenbett gestorben, wenn nicht eine andere Krankheit hinzutrat‘. Er blieb jeden Tag von 9 bis 1 Uhr bei Charlotte. Sie hatte am 13. Oktober, wie er sich genau erinnerte, plötzlich anhaltendes, hohes Fieber, am 17. brachte sie einen Jungen zu Welt. Er sollte ‚Jacques (nach mir), Charles (nach ihr), Sohn von Antonio de la Croce und Charlotte ***‘ heißen. Wie immer in solchen Fällen verschwieg Casanova den Namen ihrer Familie, der La Motte lautete. Das Kind wurde getauft und danach gleich ins Findelhaus gebracht, in den Windeln der Taufschein, der Geburtsort, der Name der Mutter. Charlotte starb am 26. Dezember, morgens um 5 Uhr. ‚Ich verließ sie nicht eher, als bis das Grab sie verschlungen hatte‘ (6, 5).
Doch zu allem Unglück kam ein Brief des ‚Herrn Dandolo, der mir den Tod des Herrn von Bragadino meldete‘, der am 10. Oktober verstorben war. Casanova, der ihn tagelang hatte liegen lassen, ‚verlor einen Mann, der seit zweiundzwanzig Jahren Vaterstelle an mir vertrat, der um meinetwillen mit der größten Sparsamkeit lebte und sogar Schulden machte.‘ ‚Da sein Vermögen ein Fideikommiß war, so konnte er mir nichts hinterlassen. Seine Möbel und seine Bibliothek wurden die Beute seiner Gläubiger. Seine beiden Freunde, zugleich die meinigen, waren arm und konnten mir nur mit ihren Herzen helfen. Diese schreckliche Nachricht begleitete ein Wechsel von tausend Talern, die der Verstorbene, sein Ende voraussehend, vierundzwanzig Stunden vor seinem Tode mir noch gesandt hatte.‘ Drei Tage verließ Casanova nicht das Haus seines Bruders.
Fürstin Lubomirska konnte ihm mit Empfehlungsschreiben für Madrid behilflich sein, das er besuchen wollte, bevor er nach Portugal gehen würde. Sie gab ihm ein Empfehlungsschreiben für den ‚Grafen d’Aranda [mit], und der Marchese Caraccioli, der noch in Paris war, gab mir drei Empfehlungsbriefe, einen für den neapolitanischen Gesandten in Madrid, einen für den Herzog von Lossada, den Oberhoftruchseß und Günstling des Königs, und einen dritten für den Marques Mora-Pignatelli‘ († 1774).
Ein Erbe d’Urfés, ein Neffe, machte sich am 4. November in einem Konzert über Casanova lustig, behauptete, dieser hätte ihn mindestens eine Million gekostet. Doch hielten ihn seine älteren Begleiter von einem Duell ab, zu dem Casanova ihn gefordert hatte. Infolgedessen änderte sich seine Situation schlagartig, denn am 6. November erhielt der Venezianer ein Schreiben vom König, worin er aufgefordert wurde, Paris binnen 24 Stunden zu verlassen. Die knappe Begründung war: sein bon plaisir. Casanova hatte dem Erben wohl Fußtritte angedroht (6, 6). Dennoch verließ er Paris erst am 20. November. Am Tag vor seiner Abreise besuchte er zum letzten Mal Valville. Er gab ihr ‚Ratschläge, um im Alter eine unabhängige Stellung einzunehmen, wenn ihre Schönheit ihr nichts mehr einbringen würde‘. Sie sahen sich nie wieder.
Casanova klagte über die Veränderungen seit der Revolution und erwies zugleich sein Menschenbild und sogar seinen Blick für das Elend, aber auch seine Unfähigkeit, Ursache und Tragweite von Veränderungen zu begreifen: ‚Oh, mein schönes, liebes Frankreich, wo zu jener Zeit alles so gut ging, trotz den lettres de cachet, trotz den Fronden, dem Elend des Volkes, dem bon plaisir des Königs und der Minister! … Das Volk ist dein Herrscher, – das Volk, der brutalste, tyrannischste von allen Herrschern! Du hast allerdings nicht mehr das bon plaisir des Königs, aber du hast dafür die Laune der Volksmenge, und die Republik ist eine abscheuliche Regierungsform, die für moderne Völker nicht passen kann; denn diese sind zu reich, zu klug und vor allen Dingen zu verderbt für eine Regierungsform, deren Voraussetzungen Selbstverleugnung, Nüchternheit und alle Tugenden sind. Das wird nicht von Dauer sein‘ (6, 6).
Immer noch traurig, reiste er ‚mit hundert Louis in meiner Börse und einem Wechsel von achttausend Franken auf Bordeaux ab.‘ Außerdem ‚hatte ich alle meine Hilfsquellen verloren; der Tod hatte mich einsam gemacht; ich war bereits in meinen eigenen Augen ein Herr von einem gewissen Alter. Von diesem Alter will das Glück für gewöhnlich nichts wissen, und die Frauen noch weniger.‘
Nach einem letzten Besuch bei dem ehemaligen Tänzer Bodin, der ‚die Geoffroy geheiratet hatte, eine von meinen tausend Geliebten, die ich vor zweiundzwanzig Jahren zuerst gekannt hatte.‘ Er ‚hatte sie später in Turin, Wien und Paris getroffen‘, sie ‚war mehr häßlich als alt geworden‘, und nun waren beide fromm. Sie befürworteten seinen spöttischen Vorschlag, Kapuziner zu werden.
Danach fuhr er die ganze Nacht durch bis Chanteloup, bald erreichte er Poitiers. Obwohl ihn die beiden Töchter seines Wirtes unterhielten, war seine ‚Seele … noch zu betrübt über Charlottens Tod, um die Reize der Wollust empfinden zu können‘, nur aus Eitelkeit, wie er einräumt, umarmte er sie unter Vortäuschung von Leidenschaft. ‚In Angoulême, wo ich den Hofkoch des Königs von Preußen, Noël, zu sehen hoffte, fand ich nur dessen Vater…‘. Er war in der Lage, Pasteten in alle Städte Europas, nach eigener Aussage auch Amerikas, zu verschicken, selbst nach Konstantinopel. Casanova, der diese Dienstleistung nutzte, nennt Danksagungen aus Venedig, Warschau und Turin.
Nach zwei weiteren Tagen erreichte er Bordeaux, ‚eine herrliche Stadt, nach Paris die erste Frankreichs‘. ‚Ich verbrachte dort acht Tage, um gut zu essen‘; von da ging seine Reise, nachdem er seine ‚achttausend Franken auf Madrid hatte überschreiben lassen, … durch die Landes über Mont-de-Marsan und Bayonne nach Saint-Jean-de-Luz‘.
Die Pyrenäen überquerte er auf einem Maultier, ein zweites trug seine Koffer. So viel sei gewiss, dass ‚die Pyrenäen angenehmer, abwechslungsreicher, malerischer und fruchtbarer sind als die Alpen‘, sie erschienen ihm gar ‚gewaltiger‘. Die ersten 20 Meilen der Straße von Pamplona Richtung Madrid hatte ‚Herr von Gages‘ (1682–1753) ausbauen lassen, der Gouverneur von Navarra gewesen war.[105] ‚Als großer General … war er nur Zerstörer gewesen; aber indem er diese schöne Straße bauen ließ, wurde er zu einem Wohltäter des Volkes und erwarb sich dauernden und unzerstörbaren Ruhm.‘
Danach endete die Straße praktisch im Nirgendwo, die Herbergen waren primitiv. ‚Elendes Spanien!‘ Sein Urteil über die Kastilier fällt vernichtend aus: ‚Sein Stolz ist, sagen zu können, wenn er einen von ihm beherbergten Fremden abreisen sieht: ich habe mir durchaus keine Mühe gegeben, um ihn zu bedienen. Diese Denkungsweise beruht auf großer Faulheit, die mit viel Stolz gemischt ist: man ist ja Kastilianer; man darf sich nicht so weit herablassen, einen gavacho zu bedienen. Mit diesem Namen bezeichnet man in ganz Spanien die Franzosen und dann die Fremden überhaupt‘.
Die nächste Nacht verbrachte er in einer hässlichen und traurigen Stadt namens „Algrada“: ‚Dort wurde die Nonne Maria von Algrada wahnsinnig und schrieb das Leben der heiligen Jungfrau nach dem Diktat der Mutter unseres Heilandes. Man hatte mir ihr Werk zu lesen gegeben, als ich unter den Bleidächern war‘.
Nun versuchte er über Madrid, wo er am 19. November 1767 anlangte, nach Portugal zu gelangen. Auf dem Weg lernte er, dass ein Empfehlungsschreiben, wie etwa vom (nach Venedig geflohenen) Minister Squillace, Prügel durch die Stadtwache einbringen konnte. Der Minister war als harter Steuereintreiber verhasst.
In den Herbergen konnte man die Zimmer nur von außen abschließen, damit die Schergen der Heiligen Inquisition jederzeit den Lebenswandel überprüfen konnten. ‚Wenn wir unglücklicherweise einem Priester begegneten, der irgendeinem Sterbenden die Wegzehrung brachte, hielt Señor Andrea an und befahl mir in gebieterischem Ton auszusteigen und niederzuknien; ich mußte gehorchen, selbst wenn der Weg kotig war.‘ ‚Der Hauptgegenstand religiösen Verfolgungseifers waren damals die Hosen mit einem Schlitz. Wer sich erlaubte, solche zu tragen, anstatt nach alter Väter Sitte den anzuknöpfenden Hosenlatz, wurde ins Gefängnis geworfen‘. Erst nachdem man die Schlitzhosen zur Kleidung der Henker gemacht hatte, verschwand diese Mode schlagartig (Madrider Hutaufstand).
Über Guadalaxara, dann Alcala, kam Casanova nach Madrid. Wegen des klangvollen „As“ hielt er das Arabische für eine sehr alte Sprache, das Kastilische machte dies ‚zur reichsten aller modernen Sprachen‘, in seinen Ohren war sie eine der ‚schönsten, klangreichsten, kräftigsten und majestätischsten der Welt‘. Nur die ‚Gutturallaute‘ bewirkten, dass sie dem Italienischen nicht gleichkam ‚an musikalischem Wohllaut‘.
Am Alcala-Tor durchsuchte man seine Sachen, ‚und die Aufmerksamkeit der Beamten richtete sich hauptsächlich auf Bücher‘, doch hatte er nur einen Horaz und eine Ilias bei sich. Doch seinen Tabak, ‚Pariser Rape‘, warf man auf die Straße, weil er ‚in Spanien verflucht‘ wäre. ‚Wie alle Menschen von Natur die Neigung haben, die verbotene Frucht der erlaubten vorzuziehen, so legen die Spanier großen Wert auf den fremden Tabak und machen sich sehr wenig aus ihrem eigenen; die Folge davon ist ein riesiges Schmuggelwesen.‘
Die kalte Luft Madrids, der höchstgelegenen Stadt Europas, sei nur für die Spanier zuträglich, die im allgemeinen mager und dürr seien. ‚Sie sind außerdem so frostig, daß sie sogar in den Hundstagen niemals ohne Hülle ausgehen; diese besteht für wohlhabende Leute in einem großen schwarzen Mantel und für die niedrigen Klassen, besonders die Landbevölkerung, in einem richtigen arabischen Burnus.‘ ‚Das Blut, das in ihren Adern kocht, macht sie glühend in der Liebe und stets dazu aufgelegt, ihre Hand zu jeder Intrige zu bieten, um die Menschen zu betrügen, die sie umgeben, um jeden ihrer Schritte auszuspionieren. … Auf den Spaziergängen, in der Kirche, im Theater sprechen sie mit den Augen zu den Männern, nach denen sie begehren; sie beherrschen diese verführerische Sprache in höchster Vollendung.‘
Casanova überbrachte zunächst den Brief der Fürstin Lubomirska an den Grafen von Aranda, ‚der an einem Tage Spanien von allen Jesuiten gesäubert hatte‘ (6, 6). ‚Selbstverständlich war er der bestgehaßte Mann in ganz Spanien, aber er schien sich wenig daraus zu machen.‘ Er war ‚ziemlich häßlich und schielte unangenehm‘, wenn er auch ein großer Denker war. Er riet Casanova dazu, da sich der venezianische Gesandte nicht für ihn verwenden konnte, sich nur zu unterhalten. So schrieb Casanova an ‚Herrn Dandolo‘. Dann lud ihn ein Graf Manucci ein – er behauptete, ihm sei ein Adelsbrief vom Kurfürsten von der Pfalz ausgestellt worden –, ‚privatim‘ Dandolo aufzusuchen. Dieser Graf war der Sohn jenes ‚Giambatista Manucci …, der die Staatsinquisitoren als Spion bedient hatte, um mich unter die Bleidächer zu bringen.‘
‚Mocenigo[106] ist derselbe, der in Paris durch seinen unglückseligen Hang zur Päderastie eine so traurige Berühmtheit erlangte, denn dieses Laster oder dieser Geschmack ist den Franzosen ein Greuel. Später wurde er vom Rat der Zehn zu siebenjähriger Haft in der Zitadelle von Brescia verurteilt, weil er von Venedig auf seinen Botschafterposten in Wien abreisen wollte, ohne dazu vorher die Erlaubnis des Staatskabinetts erhalten zu haben. Maria Theresia hatte der venetianischen Regierung mitgeteilt, sie werde niemals einwilligen, an ihrem Hofe einen Mann zu empfangen, dessen verruchter Geschmack ihrer ganzen Hauptstadt ein Ärgernis sein werde.‘ Sein Nachfolger war ebenfalls Päderast, doch hielt er sich an Mädchen, worüber man hinwegsah.
Beim Maler Mengs, der seit sechs Jahren in königlichen Diensten war, lernte er den Baumeister Sabattini kennen; vor dessen Ankunft war ‚Madrid die schmutzigste und stinkigste Stadt der Welt gewesen. Sabattini ließ unterirdische Abzugsröhren und Abtritte in vierzehntausend Häusern herstellen und war dadurch reich geworden. Er hatte durch Prokuration die Tochter eines anderen Baumeisters, Vanvitelli, geheiratet‘. Die achtzehnjährige Schönheit war zur selben Zeit angekommen, wie Casanova. Sabattini war ein reicher, zärtlicher und gefälliger Mann, der ihr keinen Wunsch versagte. Casanova ‚glühte für sie, aber ich seufzte in aller Stille und betete sie schweigend an; denn abgesehen davon, daß mein Herz noch um Charlotte blutete, begann es mich zu entmutigen, wenn ich sehen mußte, daß die Frauen mir nicht mehr den Empfang bereiteten wie früher‘.
Die Logen im Theater waren so gebaut, dass man sie gut einsehen konnte, die Inquisition saß mit im Theater. ‚Meine Augen betrachteten gerade diese ehrwürdigen Heuchlergesichter, als plötzlich die Schildwache, die am Eingang zum Parkett stand, mit lauter Stimme ausrief: »Dios«. Auf diesen Ruf warfen alle Zuschauer, Männer wie Frauen, und alle Schauspieler …, sich auf die Knie und verharrten in dieser Stellung bis man nicht mehr das Glöckchen auf der Straße klingen hörte. Dieses Glöckchen verkündete, daß ein Priester vorbeikam, um irgendeinem Kranken die heilige Wegzehrung zu bringen. Ich hatte die größte Lust, laut herauszulachen, aber ich kannte die spanischen Sitten bereits zu gut‘.
Da Frauen nicht allein zum Tanz gehen durften, und ihr Partner der einzige Tänzer bleiben musste, hofften viele Frauen, zum Tanz eingeladen zu werden. Er beobachtete zum ersten Mal den Fandango, doch er kannte den Tanz nur ohne die dazugehörigen Bewegungen, ‚durch die der Fandango der verführerischste und wollüstigste Tanz der Welt wird‘. Die Pichona, seine Gastgeberin, meinte, ‚der Tanz wäre streng verboten, und man würde ihn nicht zu tanzen wagen, wenn nicht der Graf von Aranda ihn erlaubt hätte.‘ Casanova ließ sich drei Tage lang im Fandango unterrichten. Er wunderte sich im Übrigen, dass in Madrid sowohl Dirnen als auch ‚anständige Mädchen‘ in die Messe gingen (was ersteren in Venedig verboten war, es sei denn, zu unterschiedlichen Zeiten). Er folgte einem der Mädchen und bat dann den Vater um die Erlaubnis, seine Tochter zum Tanz auszuführen. Dieser war ‚Schuhflicker‘, nicht Schuhmacher, weil es ihm als hidalgo gegen die Ehre ging, jemandes Fuß zu berühren. Casanova war erstaunt: ‚Ein Schuhflicker, der die Schuhmacher verachtet, weil sie die Füße ihrer Kunden anrühren! Jedenfalls verachteten sie ihrerseits ihn, weil er nur altes Leder berührte.‘ Erst nachdem sie die Mutter im Wagen zurückgelassen hatten, die warten wollte, gingen sie zum Tanz und Doña Ignazia stellte sich mit Namen vor. Er fühlte beim Tanz ihr ‚unwillkürliches Zittern‘. Beim Fandango verliebte sich Casanova wieder einmal (5, 7).
Wie sich herausstellte, hatte sie in dem 22-jährigen, aber hässlichen Don Francisco de Ramos bereits einen Liebhaber. Dieser glaubte, Casanova würde sie lieben, wie seine eigene Tochter. Casanova ‚lachte über das Abenteuer, denn ich hatte für Ignazia nur eine flüchtige Neigung empfunden und ging aus, um der Pichona meine Aufwartung zu machen‘, die erste Frau, die er in Madrid kennen gelernt hatte. Sie war Schauspielerin und verdankte dem Herzog von Medina-Celi, Luis Antonio Fernández de Córdoba y de la Cerda (1704–1768), ihr Vermögen. Er hatte ihr umgerechnet rund 500.000 Francs geschenkt, da er sah, dass sie es sich nicht einmal leisten konnte, zu heizen, als er sie besuchte. Dieser großzügige Mann starb just an dem Tag, als Casanova den Fandango tanzte.
Gegen Ende des Karnevals ging er zu jenem adligen Schuhflicker, über dessen Standesdünkel er lachte. ‚Doña Ignazia stand höflich von der Erde auf, auf der sie mit gekreuzten Beinen saß wie eine Afrikanerin. Dieser Brauch stammt noch von den Mauren.‘ ‚Die Spanierinnen sitzen auf ihren Beinen in der Kirche, wo es weder Bänke noch Stühle gibt‘. Einen ersten Versuch wehrte sie mit Kraft ab, ihr Gesicht wurde ‚scharlachrot‘, ‚ihre Pflicht nötige sie, ihrem eigenen Wunsche zum Trotz sich meiner Kühnheit zu widersetzen.‘ Casanova hoffte, sie zum Denken zu bringen und dadurch ihre eigenartigen Pflichtvorstellungen zu zerstören. ‚Doña Ignazia war eine vollkommene Schönheit und im höchsten Grade verführerisch, sobald sie ihre fromme Miene ablegte‘ und ‚sie gab sich mir mit jener Miene hin, die zu sagen scheint: »Ich ergebe mich dir, weil ich nicht länger widerstehen kann.«‘ Doch der Karneval war zu Ende: ‚Um elf Uhr neunundfünfzig Minuten sind die Sinne vor Erregung in einer Weißgluthitze; mit dem Schlage Mitternacht, in einer Minute, sollen die Sinne ruhig, die Leidenschaften abgestorben, die Herzen von Reue und Liebe durchdrungen sein.‘
Als er auf dem Weg zu ihr war, sprach ihn ein Unbekannter an, der ihn vor Alcalde Messa warnte, der von Casanovas verbotenen Waffen wusste, und er wusste auch, wo der Venezianer diese Waffen versteckt hatte. Das Haus Mengs’ bot ihm Sicherheit, da es dem König gehörte. Während er dort war, wurde von 30 ‚Sbirren‘ seine Wohnung durchsucht. Casanova war sicher, dass ihn sein Page angezeigt hatte.
Am nächsten Tag wurde Casanova verhaftet und ‚nach dem königlichen Palast Buen Retiro‘ gebracht, längst ein Gefängnis. Dort saßen bereits Graf Mazzarini und sein Page ein. Manucci gestattete Casanova, Briefe zu schreiben; von Mocenigo verlangte er darin Schutz. ‚An den gelehrten Don Emanuel de Roda, Minister der Gnade und der Justiz, schrieb ich, ich wende mich an ihn, nicht um eine Gnade zu erlangen, sondern um Gerechtigkeit zu erhalten‘, dem ‚Herzog von Lossada schrieb ich, er möge seinem Königlichen Herrn mitteilen, man ermorde ohne sein Wissen, aber in seinem Namen einen Venetianer, der kein Verbrechen begangen und kein Gesetz übertreten habe.‘ In steter Furcht beraubt zu werden, ständig verhöhnt, ohne ein brauchbares Bett, stand er in Urin und so verbrachte er eine der schlimmsten Nächte seines Lebens. Doña Ignazia und ihr Vater ‚traten mit dem wackeren Hauptmann ein, der mir so viele Freude gemacht hatte … es lagen darin von Seiten des braven Mannes Seelengröße, Tugend und Menschlichkeit und von Seiten der schönen Frommen eine wirkliche Liebe und Ergebenheit.‘ Er drückte ihm sogar heimlich eine Rolle mit 1000 Francs in die Hand, doch musste er sie wieder einstecken, da die Diebe schon darauf lauerten. Mengs ließ ihm Essen bringen.
Der Alcalde ließ ihn zu sich bringen, doch weigerte sich Casanova, dessen Spanisch zu schlecht war, in dieser Sprache zu reden. Aranda erkannte sein Anliegen an, doch ärgerte er sich über Casanovas anmaßenden Schreibstil. Er fuhr persönlich vor, der Page wurde verhaftet – Casanova hörte nie wieder von ihm – und er durfte das Gefängnis nach zwei entsetzlichen Nächten verlassen. Mit dreißig Mann wurde er zu seiner Wohnung geleitet. Wenn er nicht hätte schreiben dürfen, so wäre er wohl auf den Galeeren gelandet.
Der Schuhflicker freute sich, dass er Casanovas Unschuld früh erkannt hatte, ‚Doña Ignazia war halb toll vor Freude‘, vielleicht weil sie nicht so sicher gewesen war, wie ihr Vater. Mengs hatte inzwischen vergebens versucht, sich für ihn bei ‚Don Emanuel de Roda‘ zu verwenden. Nun war ein Brief von Herrn Dandolo eingetroffen. Er ‚enthielt einen anderen Brief für Herrn von Mocenigo. Herr Dandolo schrieb mir: »Wenn der Herr Gesandte diesen Brief gelesen hat, wird er nicht mehr den Staatsinquisitoren zu mißfallen fürchten, indem er Sie in aller Form vorstellt; denn der Briefschreiber empfiehlt Sie ihm von Seiten der drei Staatsinquisitoren.«‘ Nun wurde er vom Gesandten eingeladen (6, 7–8).
Schließlich lernte er Campomanes und Olavides kennen: ‚Campomanes hatte dem Grafen Aranda das ganze Material gegen die Jesuiten geliefert‘ (6, 8). Statt die Schriften des Venezianers Fra Paolo Sarpi zu lesen, überzeugte sich Morosini erst durch die Worte Campomanes’. Doch auch dieser war zeitweise im Gefängnis. ‚Das Krebsgeschwür, das Spanien verzehrt, ist immer noch vorhanden. Sein Freund Olavides wurde noch härter behandelt, und Aranda selber hätte dem blutdürstigen Ungeheuer nicht entgehen können, wenn er nicht als vernünftiger Mann von durchdringendem Verstande den Pariser Botschafterposten für sich erbeten hätte. Diesen bewilligte der König ihm von Herzen gern, weil ihm dadurch die Notwendigkeit erspart blieb, den Grafen der Wut der Mönche auszuliefern.‘ Im Gegensatz dazu sei Karl III. ‚der Sklave seines Beichtvaters‘.
Casanova berichtet von einem Projekt der Ansiedlung von Schweizern in der Sierra Morena. Olavides zog den Hass der Mönche auf sich, denn er wollte sie aus der Kolonie fernhalten. Casanova war sich sicher, dass die Schweizer ein Volk wären, ‚das allgemein in hohem Grade dem Heimweh unterworfen ist‘. Auch müsse man ihnen in Gewissensfragen freie Hand lassen. Durch Vermischung mit einer benachbarten spanischen Kolonie könnte das Projekt gerettet werden. Olavides forderte Casanova auf, eine Denkschrift zu verfassen.
Casanova stellte sich nun auch ‚Don Emanuel de Roda‘ vor, jenem Minister, dem er geschrieben hatte. Der Herzog von Lossada beglückwünschte Casanova, dass der venezianische Gesandte ihn überall loben würde. Er bot ihm sogar an, ihm beim Bemühen um eine Staatsstellung behilflich zu sein. ‚Da Pauline mir nicht mehr schrieb, gab es für mich kein Mittel, zu erfahren, was aus ihr geworden war.‘
Sein Plan jedoch scheiterte, sich von Mocenigo bei Hof empfehlen zu lassen, denn der König war 14 Tage vor Ostern nach Aranjuez gegangen, und da er sich ein 48 Stunden anhaltendes, heftiges Fieber einhandelte, wobei er acht Tage brauchte, um sich zu erholen. Danach folgte ein Geschwür, das bis auf die Größe einer Melone anschwoll. Ein französischer Arzt öffnete es. Danach lag er fünf Tage im Bett. Inzwischen hatte der Pfarrer Mengs vorgeworfen, er beherberge einen Ketzer, der seine christlichen Pflichten vernachlässige – eine Namensliste wurde an der Tür der Pfarrkirche angeschlagen. Um nicht in schlechten Ruf zu geraten, kündigte er Casanova die Wohnung brieflich. Der wütende Casanova ließ sich bescheinigen, dass er das Abendmahl empfangen habe, ein Franziskaner nahm ihm die Beichte ab. ‚Mein Beichtvater war so gefällig, mir eine Bescheinigung zu schreiben, daß ich vom Augenblick meiner Ankunft an hätte das Bett hüten müssen und daß ich trotz meiner großen Schwäche mich in die Kirche hätte tragen lassen‘ (6, 8).
Mit Manucci reiste Casanova nun nach Toledo. Die beiden gingen ‚mit einem Fremdenführer aus, der uns in den Alcazar führte.‘ Als ihm im Dom ein Priester die 30 Silberlinge nannte, die Judas für den Verrat an Jesus erhalten hatte, wollte Casanova diese sehen, was den Priester erzürnte. Casanova schrieb: ‚In Spanien sind die Priester Betrüger, auf die man noch mehr Rücksicht nehmen muß als in anderen Ländern.‘ Nach seiner Rückkehr nach Aranjuez konnte er endlich allen Ministern seine Aufwartung machen. Dem Marchese Grimaldi konnte er seine Denkschrift überreichen. ‚Marques Grimaldi versicherte mir: wenn der Plan angenommen würde, sollte ich zum Gouverneur der Kolonie ernannt werden.‘
Casanova nutzte die Gelegenheit, es war im Mai, um für den Hof ‚auf der Stelle ein Drama zu dichten‘, das als Oper aufgeführt wurde. Der ‚Kapellmeister‘ erhielt Geschenke, er den Beifall. Er gewann die Freundschaft einer der Sängerinnen, einer Römerin namens Pelliccia. ‚Der Operndirektor, namens Marescalchi (1745–1812), hatte mit dem Gouverneur von Valencia die Abmachung getroffen, daß er den ganzen September mit seiner Truppe dort zubringen solle, um auf einem eigens dazu erbauten kleinen Theater komische Opern aufzuführen.‘ Er konnte der Sängerin einen guten Kontakt vermitteln. Auch verkehrte er mit dem Kammerdiener des Königs, mit Don Domingo Varnier. ‚Der König war sehr häßlich, aber alles ist verhältnismäßig; denn er war schön im Vergleich zu seinem Bruder, der eine wahre Vogelscheuche war.‘
Sicherheitshalber suchte er den Großinquisitor auf, der sich als gebildet und verständig zeigte. Er teilte ihm mit, dass der Pfarrer ‚»der Sie auf die Liste der Exkommunizierten gesetzt hat, einen derben Verweis erhalten hat; denn er hätte Sie vorher väterlich warnen und vor allen Dingen sich erkundigen müssen, ob Sie krank wären; wir wissen, daß dies wirklich der Fall war.«‘
‚Ich verabschiedete mich von Herrn von Mocenigo drei Tage, bevor er selber abreiste, und umarmte voll Zärtlichkeit Manucci, der mir während meines ganzen Aufenthaltes unaufhörlich Beweise seiner Freundschaft gab. Ich gestehe dies zu meiner eigenen Schande und hoffe, man wird dieses Geständnis als mildernden Umstand für das Unrecht ansehen, das ich gegen ihn begangen habe.‘ Er kehrte nach Madrid zu seinem Schuhflicker zurück, dort hatte Don Diego eigens ein Haus für Casanova gemietet.
Doña Ignazia war ganz stolz auf das, was ihr Vater für mich getan hatte (6, 9). Dieser fertigte inzwischen Schuhe an, doch nur an einem Leisten, nicht am Fuß. Seine fromme Tochter versuchte sich mit den Pocken anzustecken, um so hässlich zu werden, dass sie sich nicht mehr gegen die Liebe wehren müsse. Casanova kam zu dem Schluss, dass die Freude der Frau in der Liebe allein schon deshalb größer sein müsse, weil sie auch das größere Risiko und die Schmerzen der Geburt ertrage. ‚Nichtsdestoweniger würde ich, wenn ich den Vorzug haben könnte, noch einmal wiedergeboren zu werden, mich gern einverstanden erklären, nicht nur als Weib, sondern sogar als Tier irgendwelcher Art wiedergeboren zu werden; selbstverständlich mit meinem Gedächtnis; denn sonst wäre ich ja nicht mehr ich.‘
Von den Stierkämpfen schrieb Casanova, dass ‚sie eine Barbarei‘ wären, ‚denn die Arena ist zuweilen ganz überströmt von dem Blute der Stiere, der Pferde, denen sie den Bauch aufgeschlitzt haben, und oft sogar der unglücklichen Picadores, deren Geschäft und Vergnügen es ist, die wütenden Stiere noch mehr zu reizen.‘ Dennoch besuchte er mit seiner Geliebten die Arena. Ihr Beichtvater verweigerte ihr die Absolution, doch immerhin war sie nun reinen Gewissens. Casanova schreibt nur lakonisch, nicht wie früher unter Angabe der Stunden: ‚Am Morgen verließ sie mich, ermüdet, aber verliebter denn je.‘
Doch nun beging er ‚eine verhängnisvolle Indiskretion…, die ich mir niemals habe verzeihen können; denn nach so vielen Jahren, nach so vielen Wechselfällen des Lebens zerreißt sie mir noch heute das Herz‘ (6, 10). Er machte einen angeblichen Grafen Fraiture, den er als Betrüger und Falschspieler bereits aus Spa kannte, und der Casanova nachgereist war, mit dem Grafen Manucci bekannt. Manucci gab Casanova 100 Pistolen, um sie Fraiture zu leihen, der damit gedroht hatte, sich zu erschießen. Inzwischen wurde Mocenigo von Herrn Querini als Gesandter Venedigs abgelöst, der sehr gebildet war, und der einen freundlichen Umgang mit Casanova pflegte. Doch nach der Übergabe des Geldes an Fraiture ließen ihn die Wachen nicht mehr vor. Stattdessen erhielt er einen Brief, in dem Manucci ihm vorhielt, er habe Fraiture verraten, dass Manucci ‚nicht den Rang besitze, den er sich beilege usw.‘.
Casanova fühlte sich schuldig und schämte sich auch, doch der Aufforderung Madrid binnen acht Tagen zu verlassen, wollte er keineswegs Folge leisten. Er versuchte mittels eines Briefes den einstigen Freund umzustimmen. Doch nun wurde er auch von anderen Angehörigen der Gesellschaft nicht mehr vorgelassen. Manucci, der seine Macht über Mocenigo nutzen wollte, war offenbar entschlossen, sich an Casanova für die Indiskretion zu rächen. Nur der Genueser Buchhändler Corrado lieh ihm noch Geld, wofür Casanova außer Dankbarkeit nichts mehr anbieten konnte.
Casanova musste nun doch Madrid verlassen, auch wenn ihn Aranda noch davon überzeugen konnte, er müsse nicht weichen, denn wieder ging ihm das Geld aus: ‚Nichts ist für einen Mann süßer, als mit einer Frau zusammen zu leben, die er anbetet und von der er geliebt wird; aber es gibt auch nichts, das bitterer wäre, als die Trennung, wenn die Liebe noch in voller Kraft steht‘. ‚Filippo, ein tüchtiger Junge, der hoch über seiner Herkunft stand, gab mir bis in die Mitte des nächsten Jahres Nachrichten von Doña Ignazia. Sie wurde die Gattin eines reichen Schuhmachers‘, auch wenn ihr Vater damit einer nicht standesgemäßen Verheiratung zustimmen musste.
Anfang September kam Casanova in Saragossa an. ‚Arandas Gesetze hatten bei diesem Volke keine Kraft; denn bei Tage wie bei Nacht sah man auf den Straßen Männer mit langen Mänteln und Schlapphüten.‘ Unter anderen hatte er dort ‚Gelegenheit, den Domherrn Pignatelli, einen gebürtigen Italiener, kennen zu lernen, den ehrwürdigen Präsidenten der Inquisition‘. Dieser ließ sich jeden Abend ein Mädchen kommen, bestrafte dann dieses und die Kupplerin, um dann zu beichten. Dies wiederholte sich jeden Tag, so Casanova. Sarkastisch merkte der Venezianer an: ‚Die Stierkämpfe waren in der Hauptstadt Aragoniens schöner als in Madrid; denn sie waren mörderischer, und solche barbarischen Schauspiele sind um so schöner, je mehr Blut dabei fließt.‘
Er reiste weiter Richtung Valencia. ‚Unterwegs sah ich auf einer Anhöhe das alte Sagunt liegen. ‚Oben auf der Anhöhe sah ich Mauern, die zum großen Teil noch im guten Stande waren, und deutlich erkennbare Zinnen, und doch stammt dieses Denkmal aus der Zeit des zweiten Punischen Krieges. An zwei Toren, die noch aufrecht standen, bemerkte ich Inschriften, die für mich und für viele andere stumm sind, die aber La Condamine oder Séguier, der frühere Freund des Marchese Maffei, sicherlich entziffert hätten.‘ Casanova bedauerte, dass selbst der Name der Stadt vergessen sei, und dass dieser nunmehr Murviedro lautete, ‚wenngleich dieser ebenfalls auch dem Lateinischen entstammt und von muri veteres hergeleitet ist‘ (6, 10). ‚Vergeblich bemühte ich mich, Hannibals Kopf und die Inschrift zu Ehren des Cäsar und Claudius, des Nachfolgers des Kaisers Gallienus, aufzufinden; dagegen sah ich die Spuren des Amphitheaters. Am anderen Morgen besah ich den Mosaikboden, den man zwanzig Jahre vor jener Zeit bloßgelegt hatte.‘
In Valencia fand Casanova kein Café, sondern ‚nur Schenken niedrigster Ordnung, in denen der Wein untrinkbar war‘. Nicht einen einzigen Gelehrten fand er dort. Alle Sehenswürdigkeiten konnten ihn ‚nicht dazu hinreißen, eine Stadt zu bewundern, deren Straßen nicht gepflastert sind, und wo man nur außerhalb der Mauern spazieren gehen kann.‘ Immerhin: ‚die Umgebung von Valencia ist ein wahres Paradies‘. Insgesamt glaubte er, Spanien brauche ‚eine starke Revolution, eine völlige Umwälzung, einen furchtbaren Anstoß, eine Eroberung, die neues Leben weckt.‘ ‚Solange Spanien eine Inquisition hat, wird dieses Ungeheuer der Stein des Anstoßes für Fortschritt und Glück sein.‘
Der Herzog von Arcos wollte der Sängerin Pelliccia 250.000 Francs zukommen lassen, eine Verschwendung, die selbst den König zum Eingreifen veranlasste. Dieser befahl der Pelliccia, Madrid umgehend zu verlassen. Der Brief des Herzogs enthielt eine Anweisung über 400.000 Francs auf Rom, wo die Frau, als Casanova seine Erinnerungen abfasste, seit 29 Jahren lebte (der Cellist Luigi Boccherini heiratete die Sängerin 1769).
Beim Stierkampf erblickte Casanova eine 23-jährige Frau namens Nina. Sie ‚sei eine Tänzerin, die der Generalkapitän des Fürstentums Barcelona, Graf von Ricla, seit einigen Wochen in Valencia unterhält, bis er sie wieder nach Barcelona zurückkehren lassen könne, wo der Bischof sie wegen des von ihr erregten Ärgernisses nicht länger habe dulden wollen.‘ Sie führte sich in für Casanova vollkommen ungewohnter Art auf, ohrfeigte den Spitzel ihres Liebhabers, der sie mit Geld überhäufte. Anfang Oktober besuchte Casanova sie in ihrem Haus, ‚in Valencia waren zwanzig Grad Réaumur im Schatten‘. Nina begann mit einer Orgie, doch war Casanova jener Spitzel Molinari zuwider, den sie vor seinen Augen benutzte. Casanova bezweifelte, dass sie Ricla liebe, aber sie antwortete: ‚»Doch! Aber nur, um ihn zugrunde zu richten. Leider ist er so reich, daß es mir nicht gelingen wird.«‘ Casanova hoffte ausdrücklich, sich daraus Vorteile verschaffen zu können: ‚Wir aßen gut zu Abend und begingen hierauf alle Tollheiten, die sie von mir verlangte und die ich noch leisten konnte; denn ich war nicht mehr in dem Alter, wo man Wunder vollbringt.‘
Casanova reiste ihr, nachdem Nina briefliche Erlaubnis erhalten hatte, wieder zurückzukehren, nach Barcelona voraus. Sie nächtigten auf dem Weg dorthin in Tarragona. Vermittels eines Empfehlungsschreibens ‚vom Marques de Mora für Don Miguel de Cevallos‘ wurde er von letzterem dem allmächtigen Ricla vorgestellt (6, 10–11). Dieser empfing ihn freundlich, warnte ihn jedoch vor Ausschweifungen, was Casanova ernst nahm. Doch beging er den Fehler, zu Nina zu gehen, als sie ihn brieflich dazu aufforderte. Trotz Warnung durch einen ‚Offizier von der Wallonischen Garde‘ besuchte er Nina jeden Abend, auch wenn nichts weiter geschah, nachdem Ricla gegangen war. Dies war bereits Thema in den Cafés der Stadt. ‚Am 14. November ging ich um die gewöhnliche Stunde zu ihr. Ich fand bei ihr einen Mann, der ihr Miniaturen zeigte. Ich sah ihn an und erkannte den niederträchtigen Schurken Passano oder Pogomas’, jenen Genuesen. Am nächsten Abend, als er gegen Mitternacht auf dem Heimweg war, wurde Casanova von zwei Männern angegriffen. Einen stach er nieder (der Stich war wohl tödlich), von den Schüssen des anderen wurde er nur knapp verfehlt. Obwohl ihn sein Schweizer Gastgeber dringend bat, die Stadt zu verlassen, wollte er nicht für schuldig gehalten werden und blieb.
Am nächsten Tag wurde er auf der Zitadelle gefangengesetzt, fühlte sich jedoch besser behandelt, als in Madrid. Er ‚machte, um die Zeit totzuschlagen, geometrische Berechnungen.‘ Am 4. Tag wurde er in den unterirdischen Teil der Festung verlegt. In diesem ‚Loch‘ verbrachte er 42 Tage. In dieser Zeit schrieb er, womit er einen Hinweis auf seine Arbeitsweise gibt, ‚mit Bleistift und ohne ein anderes Hilfsmittel als mein Gedächtnis die ganze Widerlegung der Geschichte der Regierung von Venedig von Amelot de la Houssaye; die Stellen für die Zitate ließ ich frei, um sie einzufügen, wenn ich wieder in Freiheit wäre und das Werk selber vor Augen hätte‘ (6, 11).
Nun berichtet Casanova von einem Tadini, einem Okulisten, den er bereits aus Warschau kannte. Er stritt sich seit 20 Jahren mit einem Augenarzt, der den Star operiere. Man lud bei einer Patientin die beiden verfeindeten Professoren zum Disput. ‚Der Alte war ein Deutscher, sprach aber gut französisch. Er griff jedoch Tadini in lateinischer Sprache an‘, das Tadini nicht verstand, der eine Schachtel mit Kristallinsen hervorzog. Er behauptete, er ‚besitze die Kunst, diese Kügelchen anstatt der Kristallinsen in die Hornhaut einzusetzen‘. Er wurde vor die Fakultät geladen, um seine Kenntnisse vom Aufbau des Auges nachzuweisen, woraufhin er später den Professor mit dem Degen attackierte. Nun musste er aus Warschau fliehen. Dieser Tadini erschien nun als unfreiwillige Schildwache in Barcelona. Casanova hörte nie wieder von dem Mann, der immer noch an seine Linsen glaubte, obwohl er sie nie erproben konnte.
Casanova, dem nun alles zurückerstattet wurde, erhielt von Emanuel Badillo, Sekretär der Regierung, der ihn auch verhaftet hatte, den Befehl, Barcelona binnen drei Tagen zu verlassen. Sein Wirt erklärte, der offizielle Grund der Verhaftung seien gefälschte Papiere, der inoffizielle seine Nächte bei Nina. Zu seiner Freude erhielt er ‚Wechsel, die ich in Genua dem Marchese Augustino Grimaldi de la Pietra gegeben hatte‘ – wie er ausdrücklich vermerkte, ‚der vierte Genuese, der sich gegen mich wie ein wirklicher Held betrug‘. Passano konnte er allerdings nicht verzeihen. Er starb wenige Jahre später elend in seiner Heimatstadt Genua. Er hieß in Wirklichkeit Ascanio Pogomas[107] und war gegen Ende November aus dem Gefängnis entlassen worden. Die gefälschten Papiere waren allerdings echt, wenn auch Casanova zu diesem Zweck Mocenigo damit erpresst hatte, er würde seine Liebschaft öffentlich machen. Dieser venezianische Pass war wiederum die Voraussetzung für den Pass, den Aranda ihm ausgestellt hatte.
Casanova wollte Spanien am letzten Tag des Jahres verlassen, um am 3. Januar 1769 in Perpignan zu sein. Doch sein Piemonteser Fuhrmann machte ihn darauf aufmerksam, dass er verfolgt werde, nämlich von drei gedungenen Mördern. Auf Schleichwegen gelangten sie nach Perpignan, wo Casanova seinem Fuhrmann dankbar war, sein ‚Leben gerettet zu haben‘. Er entließ seine Gehilfen und eilte am nächsten Tag nach Narbonne, dann weiter nach Béziers. ‚Keine Stadt eignet sich so sehr zur Alterszuflucht für einen Philosophen, der auf alle Eitelkeiten der Erde verzichtet hat, oder für einen wollüstigen Epikuräer, der alle Freuden der Sinne genießen möchte, ohne reich zu sein.‘ ‚… alle Welt hat Geist; das weibliche Geschlecht ist schön, und man ißt ausgezeichnet für einen bescheidenen Preis. Wie man weiß, sind die Weine köstlich und billig.‘ ‚Hoffentlich wird die Gegend nicht durch zu großen Fremdenzustrom verdorben‘ (6, 11). Über Pézénas ging es weiter nach Montpellier.
‚Nirgendwo in Frankreich, selbst in Béziers nicht, ißt man besser als in Montpellier. Es ist ein wahres Schlaraffenland.‘ Er wollte Professoren kennen lernen, über die er notierte: ‚Der wahre Gelehrte muß der Freund aller sein, die die Wissenschaft lieben, und er ist es in Frankreich noch mehr als in Italien. In Deutschland ist der Gelehrte geheimtuerisch und zurückhaltend. Er glaubt sich zu sehr verpflichtet, als ganz anspruchslos zu erscheinen, während für ein schwaches Auge der Dünkel überall hervorsieht; dieses Vorurteil verhindert ihn, sich die Freundschaft der Fremden zu erwerben, die ihn aufsuchen, um ihn in der Nähe zu bewundern und die Milch seiner Weisheit zu saugen‘ (6, 11).
Auch zog ihn die dortige Schauspielertruppe an. Doch hatten die hübschen Schauspielerinnen ‚keinerlei Wunsch in mir erregt, und das war mir angenehm.‘ Er suchte Castelbajac (dazu besuchte er alle Apotheken der 30.000 Einwohner zählenden Stadt[108]), die davon hörte und Kontakt zu ihm aufnahm. Ihr Mann selbst lud ihn ein: ‚Mir klopfte das Herz, aber es gelang mir, mich zu beherrschen.‘ Casanova ‚verbrachte diese vier Tage in der süßen Zufriedenheit einer aufrichtigen und reinen Freundschaft, ohne daß die Erinnerung an unsere früheren Liebesfreuden in uns den Wunsch erregte, sie zu erneuern. Wir brauchten unsere Gedanken nicht auszusprechen, um sie gegenseitig zu kennen.‘
‚Einen Tag nach meinem Abschied von dieser Frau, die mir ihr Glück verdankte, übernachtete ich in Nîmes, wo ich drei Tage in der Gesellschaft eines sehr gelehrten Naturforschers verbrachte, des Herrn de Séguier (er war Botaniker), eines vertrauten Freundes des Marchese Maffei in Verona.‘ ‚Ich wurde zu einem Ball eingeladen, bei dem ich in meiner Eigenschaft als Fremder die erste Rolle spielte. Ein solches Vorrecht genießt der Fremde nur in Frankreich, während in England und besonders in Spanien das Wort Ausländer eine Beleidigung ist.‘
Den Karneval wollte er in Aix verbringen. Dort traf er den spanischen Kardinal de la Cerda, der sich zur Wahl eines Nachfolgers für den Papst Rezzonico nach dem Konklave begab. Er konnte dessen Gespräche aus dem Nachbarzimmer hören (6, 12). Scharf urteilte er: ‚Er war nicht nur klein, braun von Farbe, schlecht gewachsen, sondern es war auch ein Gesicht so häßlich, der Ausdruck seiner Züge so gemein, daß neben Seiner Eminenz Äsop wie ein Liebesgott hätte aussehen müssen. Nun begriff ich, warum er das Bedürfnis hatte, sich durch Verschwendung Achtung zu verschaffen und sich durch äußeren Prunk auszuzeichnen; denn sonst hätte man ihn für einen Stallknecht halten können. Sollte jemals das Konklave die sonderbare Laune haben, ihn zum Papst zu machen, so würde Gottes Sohn niemals einen häßlicheren Statthalter auf Erden gehabt haben.‘
Von Aix reiste er nach Schloss Mon Repos in Éguilles zum Marquis d’Argens. In dieser Gesellschaft störten ihn die Rücksichten auf die Meinungen eines Jesuiten. Dies galt auch für einen Berliner, dessen Namen Casanova nicht nennt, der Flöte spielte, während die anderen zur Messe gingen. Mit diesem besuchte er eine 14-jährige, doch gelang es ihm nicht, diese zu entjungern; ‚ich hätte sie vor allen Dingen durchprügeln sollen, wie ich es fünfundzwanzig Jahre früher in Venedig getan hatte; aber törichterweise wollte ich durch Anwendung von Kraft siegen, denn ich glaubte, ich könnte sie vergewaltigen. Die Zeit der Wundertaten war jedoch vorbei.‘
Nach einer Kutschfahrt ohne Mantel musste er mit einer schweren Rippenfellentzündung – er diagnostizierte ‚Lungenentzündung‘ – während des Karnevals 1769 in Aix bleiben. Er hustete heftig, spuckte Blut und nach knapp einer Woche beichtete er. Danach lag er drei Tage bewusstlos. Erst nach 18 Tagen hörte er auf Blut zu spucken. Ohne dass er sie erkannte, wurde er von Henriette gepflegt, die während der ganzen Zeit in seinem Zimmer schlief.
Durch einen Brief seines Bruders erfuhr er, dass Manucci derjenige gewesen war, der das Attentat auf ihn hatte ausführen lassen. Erst durch Casanovas Brief aus Perpignan hatten sie erfahren, dass er doch noch lebte.
Ein Pilgerpaar auf der Rückreise von Santiago de Compostela erschien in Aix. Sie war die, Casanovas Angaben zufolge, 18-jährige Serafina (Lorenza) Feliciani (1754–1794), er ein 24- bis 25-jähriger Mann, der später als Cagliostro auftrat. In Turin wollten sie ‚zum heiligen Schweißtuch beten‘. Es sei ‚das Tuch, dessen die heilige Veronika sich bediente, um unserem Erlöser den Schweiß abzutrocknen, wodurch das göttliche Gesicht dem Tuche sein Bild eindrückte‘ – wohingegen Casanova einwandte, es gebe mehrere solcher Schweißtücher in Europa. Cagliostro zeigte Casanova ‚eine von ihm kopierte Rembrandt-Zeichnung, die beinahe noch schöner war als das Original.‘ Serafina konnte offenbar nicht schreiben, während er selbst einen Brief Casanovas perfekt kopierte, so vollkommen, dass er selbst die Kopie als seinen Brief identifizierte. Das Paar reiste drei Tage später ab, Casanova sollte die beiden zehn Jahre später wiedersehen. Als Casanova an seinen Memoiren schrieb, saß er im Gefängnis, sie ‚in einem Kloster und ist, vielleicht, glücklich‘.
Der Marquis d’Argens warnte ihn, seine ehrlichen Lebenserinnerungen zu schreiben, denn das Schlechte würde aufgebauscht werden, das Gute als Eitelkeit ausgelegt. Casanova versprach ihm, ‚niemals eine solche Torheit zu begehen; trotzdem tue ich seit sieben Jahren nichts anderes, und es ist für mich allmählich eine Notwendigkeit geworden, die Sache zu Ende zu bringen, obwohl ich sehr bereue, sie angefangen zu haben.‘ ‚Indem ich täglich zehn oder zwölf Stunden schrieb, habe ich verhindert, daß der düstere Kummer mein Leben verzehrte oder mir die Vernunft raubte.‘
Bei Croix d’Or befand sich Henriettes Schloss, wo er einen Brief hinterlassen wollte, denn sie war angeblich in Aix. Anwesend war nur die Frau, die ihn gepflegt hatte. Er hinterließ ihr einen Brief für Henriette und reiste weiter nach Marseille. Dort erreichte ihn ein Brief Henriettes, die ihr Leben in vierzig weiteren Briefen beschrieb. Sie hatte ihn nicht sehen wollen, da sie sich als dick und alt empfand. Im Gegenzug schrieb er ihr, wie es ihm ergangen war.
In Marseille traf er auf ‚Donna Schizza‘, Ninas Schwester. Diese versuchte immer noch Ricla zu vernichten. ‚Sie hat nur darum den Grafen gezwungen, hundert Ungerechtigkeiten zu begehen, weil ganz Spanien von ihr sprechen und weil alle Welt wissen soll, daß sie Herrin über seinen Leib, sein Hab und Gut, seine Seele und seinen Willen ist.‘ Sie hatte den Grafen eifersüchtig auf Casanova gemacht, versucht, den Grafen durch das Attentat ins Gefängnis zu bringen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass Nina die Tochter ihres Vaters war, also zugleich ihre Schwester. Zu dieser Zeit war sie 16 gewesen. Nina erfuhr die Wahrheit mit 12 und ‚er würde schließlich auch sie zur Mutter gemacht haben, wenn er nicht in demselben Jahre gestorben und dadurch vielleicht dem Galgen entgangen wäre‘. Als das Publikum von Nina verlangte, nochmals zu tanzen, weigerte sie sich. Sie wurde fast unbekleidet vor den Grafen geführt, beharrte aber: ‚standhaft werde ich die härteste Behandlung erdulden und Ihnen beweisen, daß ich Venetianerin und ein freies Weib bin!‘
Casanova besuchte Frau Audibert, aber auch Frau „N. N.“, die inzwischen Mutter von drei Kindern war. Sie war glücklich. ‚Ich brachte ihr gute Nachrichten von Marcolina und erzählte ihr Croces Abenteuer und Charlottens Tod, der ihr sehr zu Herzen ging.‘ Sie ihrerseits berichtete über Rosalie, die durch ihren Mann sehr reich geworden war. Seine ‚liebe frühere Nichte‘ fand ihn ‚gealtert‘, was ihn betrübte. Er besaß nur noch fünfzig Louis, doch da er nach Turin gehen wollte, konnte er auf Hilfsquellen vertrauen. Auch traf er den ‚Herzog von Villars, den Tronchin künstlich am Leben erhielt‘, bei dem er auch ‚den angeblichen Marquis d’Arragon‘ traf. Dort lieh er sich 50 Louis.
Er ‚reiste allein von Marseille über Antibes, Nizza und den Col di Tenda, die höchste Alpenstraße, nach Turin. Auf diesem Wege hatte ich das Vergnügen, das sogenannte Piemont zu sehen, ein Land von großer Schönheit.‘ ‚In Turin empfingen der Chevalier Raiberti und Graf de la Pérouse mich auf das freundlichste.‘ Auch sie fanden, er sei alt geworden. ‚Da ich aber nur im Verhältnis zu den vierundvierzig Jahren alt sein konnte, die ich damals zählte, so tröstete ich mich leicht.‘ Zum englischen Gesandten, ‚Ritter R.‘ schloss er eine enge Freundschaft, ,einem liebenswürdigen, wissenschaftlich gebildeten, reichen, geschmackvollen Mann, der eine ausgezeichnete Tafel führte und den alle Welt liebte‘. Unter ihnen war auch Campioni, ‚ein Weib von entzückender Schönheit.‘
Immerhin nutzte er nach seiner Gesundung die Gelegenheit, an seinem historischen Werk mehrere Monate am Stück zu arbeiten, nämlich der Confutazione della storia del Governo Veneto d’Amelot de la Houssaie. Zwecks Veröffentlichung reiste er nach Lugano, wo das Werk in drei Bänden noch im selben Jahr erschien.[109] Dieses Werk, das er im Gefängnis in Barcelona angefangen hatte, richtete sich gegen die anti-venezianische Geschichte Venedigs aus der Feder des Abraham Nicolas Amelot de la Houssaye (1634–1706), der 1669 bis 1671 Sekretär des französischen Gesandten in Venedig gewesen war. Gegen dieses inzwischen fast bedeutungslos gewordene Werk, die Histoire du gouvernement de Venise von 1676,[110] zu schreiben, hatte wissenschaftlich keinen Wert, doch Casanova wollte mit seiner Verteidigungsschrift die Inquisitoren in Venedig versöhnlich stimmen. Nebenbei versuchte er erneut, Angriffe gegen Voltaire einzustreuen. Tatsächlich wandte sich Casanova in dieser Zeit anderen Lebenszielen zu, Liebe und Abenteuer verloren an Bedeutung.
Er zog von Turin nach Lugano, um sein Werk dort drucken zu lassen. Auf den Hinweis seines Wirtes meldete sich Casanova, nachdem er um eine Art Schutzgeld erpresst werden sollte, beim Landvogt an. Dort traf er völlig überraschend auf den englischen Botschafter und seine ‚reizende Gemahlin‘, die einen etwa fünf- bis sechsjähriges Jungen bei sich trug (6, 12). Er war nach Lugano versetzt worden, auf zwei Jahre.
Frau ‚R.‘, jene Frau Roll, die er in Solothurn vor neun Jahren zurückgelassen hatte, war noch viel schöner geworden. Sie liebte ihren vier Jahre nach Casanovas Abreise geborenen Sohn sehr. ‚Es sah auch ganz darnach aus, wie wenn der Knabe etwas verzogen wäre, ich habe jedoch vor kurzer Zeit gehört, daß dieses Kind jetzt ein ebenso liebenswürdiger wie wohlunterrichteter Mann ist‘ (6, 13). Casanova nutzte solche Gelegenheiten immer, um sich nach dem Wohlergehen seiner Verflossenen zu erkundigen. Sie erzählte, ‚Lebel habe sich in Besançon niedergelassen und lebe dort mit seiner Frau in sehr angenehmen Vehältnissen.‘ Auch sie merkte an, sie fände ihn ‚nicht mehr so jugendfrisch aussehend wie in Solothurn‘.
Infolgedessen hielt er Abstand, auch weil er nun viel Zeit für sein Werk brauchte: ‚Ich verbrachte den ganzen ersten Monat, emsig arbeitend, in meinem Zimmer.‘ ‚In den letzten Tagen des Oktobers lieferte der Drucker mir das vollständige dreibändige Werk ab, und in weniger als einem Jahre verkaufte ich die ganze Auflage.‘
Casanova hatte inzwischen Heimweh: ‚Indem ich dieses Werk schrieb, beabsichtigte ich weniger, mir Geld zu verschaffen, als die Gnade der Inquisitoren von Venedig zu erlangen; denn nachdem ich ganz Europa durchstreift hatte, wurde das Bedürfnis, meine Heimat wiederzusehen, so heftig, daß mir zumute war, wie wenn ich ohne dieses Glück überhaupt nicht mehr leben konnte.‘ Er fand zahlreiche Subskribenten, in Venedig allein durch Dandolo und Barbaro ‚im geheimen‘ allein fünfzig (6, 13).
Der Neffe des gebildeten Abbate Riva, ‚Giambattista Riva, war nicht nur ein Freund der Musen, sondern er liebte auch den Gott vom Ganges und die Göttin von Cythera; er war mein Freund … Er lieh mir die jungen Nymphen, die er in die großen Mysterien eingeweiht hatte, und sie hatten ihn darum nur um so lieber, denn ich machte ihnen kleine Geschenke. Ich machte mit ihm und seinen sehr hübschen Schwestern eine Reise nach den Borromeischen Inseln. Ich wußte, daß Graf Federigo Borromeo, der mich im Juni mit seiner Freundschaft beehrt hatte, anwesend war‘. Dieser ‚war zwar ruiniert, lebte aber auf seinen Inseln wie ein Fürst‘, Inseln auf denen ‚ein ewiger Frühling‘ herrschte.
Nach vier Tagen, auf der Rückfahrt, ‚wollte ich auf einem ziemlich engen Wege einem Wagen ausweichen; mein Pferd glitt über den Wegrand und stürzte zehn Fuß tief hinab. Ich stieß mit dem Kopf gegen einen großen Stein und glaubte, es sei um mich geschehen‘. Doch ‚in einigen Tagen war ich wieder hergestellt. Dies war das letzte Mal, daß ich ein Pferd bestieg.‘
Den Winter wollte Casanova in Turin verbringen. Vor seiner Abreise erhielt er ‚vom Fürsten Lubomirski einen sehr freundschaftlichen Brief mit einem Wechsel über hundert Dukaten‘ für seine historische Arbeit, von der er auch diesem 50 Exemplare zugeschickt hatte. Er war inzwischen Großmarschall geworden.
In Turin fand er ‚einen Brief des edlen Venetianers Girolamo Zulian, desselben, der mich mit Erlaubnis der Staatsinquisitoren an den Botschafter Mocenigo in Madrid empfohlen hatte.‘ Der Vertreter Venedigs, Berlendis, war eine Marionette der Inquisitoren: ‚Unter Kollegium versteht man in Venedig den Rat der Staatsinquisitoren. Berlendis lief keine Gefahr, zu mißfallen, denn von Geist war bei ihm keine Rede.‘ Die Inquisitoren warnten ihn vor Casanova. In Turin hatte Casanova ‚keine Liebschaft‘. Doch während seines Aufenthaltes verschluckte ‚die Geliebte des Grafen de la Pérouse … bei der letzten Kommunion das Bildnis ihres Geliebten anstatt der Hostie. Ich machte auf diesen Vorfall zwei Sonette‘.
Casanova reiste nun nach Livorno, wo sich ‚das russische Geschwader unter dem Oberbefehl des Grafen Alexis Orloff‘ aufhielt. Casanova, ‚mit sehr wenig Geld in der Tasche und ohne einen Kreditbrief für einen Bankier‘, hoffte, Orloff bei der Eroberung Konstantinopels unentbehrlich zu sein. Dabei reiste er in Begleitung seines Landsmanns Angelo Bentivoglio, der gleichfalls vor der Inquisition hatte fliehen müssen, und der in der Not Schauspieler geworden war. Ihm würde er in Venedig vier Jahre später wieder begegnen, nachdem sie sich in Parma verabschiedet hatten. Dort traf er nach 24 Jahren, seinerzeit verliebt in Henriette, wieder auf Dubois-Châteleroux, den Münzdirektor des Infanten von Parma, der jedoch ohne Beschäftigung war. Casanova lieh sich bei ihm 50 Zechinen, die er gleichfalls nie zurückzahlen konnte.
Über Bologna reiste er nach Florenz weiter, um Orlov in Livorno noch zu erreichen. Dieser ließ ihn lange warten, konnte ihm aber nur anbieten, als Freund mitzureisen, ohne ein Amt. Doch Casanova fürchtete, dort nur als ‚Lustigmacher‘ aufzutreten – er fürchtete vor allem, bei der leisesten Ehrverletzung zur Waffe greifen zu müssen –, während er anbot: ‚Ich kenne das Land, wohin Sie gehen, spreche die Umgangssprache, bin gesund, und es fehlt mir nicht an Mut.‘ Casanova sagte ihm voraus, er werde die Dardanellen nicht erreichen (6, 13).
Da er ‚nichts Besseres zu tun hatte‘ setzte er die Reise von Pisa nach Siena ohne dem Umweg über Florenz fort. ‚Je älter ich wurde, desto mehr zog mich der Geist bei Frauen an, ganz unabhängig von anderen Vorzügen; Geist war das beste Reizmittel für meine abgestumpften Sinne.‘ Abbate Chiaccheri zeigte ihm alle ‚die interessanten Kunstschätze der Stadt und führte mich zu allen Gelehrten von einiger Bedeutung‘. Ein Mitglied der arkadischen Akademie, die ‚berühmte‘ Maria Fortuna, überraschte ihn durch ihre Reimkunst.[111] Sie hatte Stanzen zum Lobe Metastasios veröffentlicht, dessen Dankesschreiben sie Casanova zeigte. ‚Von Bewunderung hingerissen, hatte ich nur noch für sie Worte, und alle ihre Häßlichkeit verschwand.‘
Ein Franzose bat Casanova, seine Frau, eine Engländerin namens ‚Betty‘, in seiner Kutsche mitzunehmen. ‚Es war das vierte Abenteuer dieser Art, das mir in meinem Leben begegnete … Dieses vierte Abenteuer hatte aber etwas Romantischeres an sich als die früheren‘ (6, 14). Wie er notierte, ‚da ich mehr wie ein Papa als wie ein Jüngling aussah, so billigte ich mir selber nur noch wenig Rechte zu und machte geringe Ansprüche‘. Dabei war es anders als in Frankreich: ‚Die Fuhrleute fahren in Italien stets nur im Schritt; man geht schneller zu Fuß‘. Zufällig sah Casanova den Namen Comte de l’Etoile. Er kam zu dem Schluss, dass die Engländerin entführt worden war. Wohl aus Mangel an Geld wollte diese in seiner Gegenwart nichts essen, doch überredete er sie und besorgte ‚Beefsteaks und einen Plumpudding … Diese Speisen hatte ich bestellt, nachdem ich den Wirtsleuten die Zubereitung angegeben hatte.‘ Wie sich herausstellte, hatte sie in derselben Londoner Pension gelebt, wie seine Tochter Sophie, die inzwischen 17 Jahre zählen musste, genau wie Betty. Casanova ‚glaubte, vor Freude zu sterben‘. Er fragte auch nach der damals 12-jährigen Nancy Stein. Erst in San Quirico empfing sie der angebliche Graf de l’Etoile.
Casanova störte nun, dass er teils ignoriert, vielleicht für einen Dummkopf, in jedem Falle für eine untergeordnete Person gehalten wurde. Wie schon einmal, versuchte der Graf, Betty ‚an Orgien zu gewöhnen‘. In Viterbo versuchte er sie, getarnt als Wette, zu verschachern. Casanova griff zum Degen, der Graf schloss sich ein: ‚Ihre gepreßten Atemzüge drohten sie zu ersticken, ihre stieren Augen traten aus ihren Höhlen hervor, ihre bleichen Lippen zitterten, ihre Zähne knirschten.‘ Er überzeugte sie davon, dass ihr jener Engländer, den sie hatte heiraten wollen, bevor sie sich in den Possenreißer verliebt hatte, verzeihen würde. Dazu musste sie zurück nach London. Sie und Casanova verbrachten eine gemeinsame ‚Schäferstunde‘. Wenig später tauchte wutentbrannt der mit Pistolen bewaffnete Engländer auf, nämlich ‚Sir B.M.‘ Doch der Brief, den Casanova für Betty bereits an ihn geschrieben hatte, überzeugte ihn davon, dass Casanova ihr Retter gewesen war (6, 14). Wie sich herausstellte, war der etwa 40-jährige Engländer entschlossen, den Verführer zu töten. Casanova, der Rom kannte, verlangte, dass er nichts unternehmen würde, ohne ihn zu konsultieren. ‚In Acquapendente beschlossen wir die Post zu nehmen und so in zwölf Stunden einen Weg zu machen, wozu wir sonst drei Tage gebraucht haben würden.‘
Inzwischen hatte der Entführer alles gestanden, so der römische Bargello. Dann erschien Lord Baltimore in der Stadt, den sowohl B.M. als auch Casanova kannten. Dieser überredete sie, nach Neapel zu fahren. Casanova kannte sich bestens aus und führte die beiden Paare durch die Stadt. Doch traf er auch auf Goudar, dessen Frau die Irin Sara war. Doch diese hatte sich völlig verändert, ‚die Verwandlung war geradezu wunderbar‘, und sie ging von Goudar aus, der nur vom Glücksspiel lebte. Sie hatte ihrem ‚Ketzerglauben abgeschworen‘, um in der Neapolitaner Gesellschaft Erfolg zu haben: ‚Das Scherzhafte bei dieser Komödie war, daß die Irländerin Sara von Geburt an katholisch war und niemals aufgehört hatte, es zu sein.‘ Regelmäßig kam der Adel zu ihren Banketten, doch wurde sie nie eingeladen. ‚Das war die echte adelige Schmarotzerei, die man in allen Ländern trifft.‘ Casanova, wieder einmal fast bankrott, beteiligte sich an Goudars Glücksspiel.
‚Zwei Monate nach ihrer Abreise erfuhr ich in Rom vom Bargello, daß l’Etoile auf Fürsprache des Kardinals Bernis aus dem Gefängnis befreit worden war und Rom verlassen hatte. Im folgenden Jahre hörte ich in Florenz, daß Sir B. M. nach England zurückgekehrt war; dort wird er ohne Zweifel sofort nach dem Tode seiner Frau seine Betty geheiratet haben.‘ Lord Baltimore starb, nachdem er leichtsinnig ‚im Monat August durch die Pontinischen Sümpfe‘ gereist war – wie man damals glaubte, an der schlechten Luft in diesen ‚vergifteten Gegenden‘.
Durch Abbate Gama, den er ‚sehr gealtert, aber fröhlich und gesund‘ fand, sah er Agata, die einen Anwalt geheiratet, mit dem sie vier Kinder hatte. ‚Obgleich Agata sehr schön war und in der Blüte ihrer Jahre stand, entzündete sie doch nicht wieder das Feuer, womit ich einst für sie geglüht hatte; so war nun einmal mein Charakter, außerdem war ich zehn Jahre älter. Ich freute mich meiner Kühle, denn es wäre mir unlieb gewesen, den Frieden einer glücklichen Ehe zu stören.‘
Nun war Casanova entschlossen, sich von der ‚Spielhölle loszusagen‘. Als Medini ihn am nächsten Tag aufforderte, einen Wechsel zu akzeptieren, warf Casanova ihn mit vorgehaltener Pistole aus dem Haus. Dabei bürgte ‚die schöne Sara‘ für Goudar. Von Agatas Mann erhielt er sogleich sein Geld. Sie bot ihm an, er könne all die Geschenke, die er ihr früher gemacht hatte, an sich nehmen.
Callimene, deren Pate Agatas Ehemann war, zählte 14 Jahre, sah aber aus wie 18. Ihre Schwester war ‚Madame Slopis …, die mit dem Ritter Acton reist‘. Sie studierte Musik, da sie arm war, doch ihr ‚Talent war mittelmäßig, aber die Liebe ließ es mich hervorragend finden.‘ ‚Ich befand mich in dem Alter, wo ein Mann sich leicht entschließt, geduldig vorzugehen.‘ Die Züge ihrer etwa 50-jährigen Tante ‚zeigten die Spuren einer Schönheit, die der Rost der Jahre angefressen hatte‘. Sie war in Gesellschaft zweier Kapuziner. Dabei ‚war die Gegenwart der beiden Bocksbärte, die in ihren Kutten schwitzten und infolgedessen ekelhafte Gerüche ausströmten, mir im höchsten Grade unbequem.‘ ‚Nachdem ich ganz Europa durchzogen habe, kann ich sagen, daß ich nur in Frankreich eine anständige Geistlichkeit gefunden habe, die sich in den Grenzen ihres Standes zu halten weiß.‘ Ihr statt Callimene drückte er ‚zwanzig Dukaten (ungefähr achtzig Franken)‘ in die Hand, die sie brauchte, um ihre Miete zu bezahlen.
Auch traf er Albergoni wieder, aber der einst ‚schön wie Antinous‘ gewesene Mann war hässlich geworden. Er nahm sich das Leben. Doch hinterließ er fünf Lotterienummern, und, wie Casanova feststellt, bestehe das Vorurteil, dass ‚die Nummern, die jemand unmittelbar vor seinem Selbstmord aufschreibt, unfehlbar seien‘. So konnte die Bank hohe Preise erzielen. In einem Kaffeehaus sprach ein ‚Klugsprecher‘ über den Selbstmord, der ‚behauptete, der Tod durch Erhängen müsse köstlich sein, denn jeder Mann, der sich aufhänge, habe im Augenblick des Todes eine Erektion. Er hatte vielleicht recht, andererseits könnte die Erektion auch von einer schmerzhaften Erregung erzeugt sein, und ich dachte daher damals, wie ich noch heute denke: um diese Frage entscheiden zu können, müßte man alles selber durchgemacht haben.‘
Schließlich traf er auch Bartoldi wieder, ebenso ‚Miß Chudleigh‘, ‚inzwischen Herzogin von Kingston‘. Bei dieser Gelegenheit räsonierte er über die Ehe: ‚Sich zu verheiraten, ist immer eine Dummheit; aber wenn ein Mann sie zu einer Zeit begeht, wo seine körperlichen Kräfte abnehmen, so wird sie unverzeihlich; denn die Frau, die er heiratet, kann … nur Gefälligkeiten für ihn haben, die er stets teuer bezahlen muß; wenn aber zufällig die Frau in ihn verliebt ist, so tötet sie ihn. Vor sieben Jahren war ich dicht daran, diese Dummheit zu begehen; ich danke Gott, daß ich meine Absicht nicht ausführte.‘ Man speiste beim Fürsten von Francavilla, ‚der in der Liebe Ganymed der Hebe vorzog.‘ Der spanische König hatte ihn in Neapel gelassen, ‚weil er fürchtete, daß er seine perversen Neigungen dem Prinzen von Asturien, seinem Bruder und vielleicht dem ganzen Hofadel mitteilen könnte‘ (6, 16).
Um sich Callimene zu nähern, verabredete man ein Picknick: ‚Um vier Uhr morgens fuhren wir in einer Feluke mit zwölf Ruderern von Neapel ab, und um neun Uhr kamen wir in Sorrent an.‘ Die Gesellschaft reiste zum ‚Herzog von Serra Capriola‘, der wegen Überschreitung der Luxusgesetze – er war in zu prächtiger Equipage gereist – verbannt war. Dies hatte der Minister Tanucci beim König erreicht. Auch ein Abbate Bettoni aus Brescia erschien, den Casanova vor neun Jahren kennen gelernt hatte. Aber auch Medini war dort, ‚mein Feind‘. So saßen 22 Personen bei Tisch. Beim Glücksspiel verlor er von seinen 400 Unzen gleich 350, doch als er die englischen Banknoten zählte, die er achtlos eingesteckt hatte, kamen dabei 450 Pfund Sterling zusammen, mehr als das Doppelte seines Verlustes.
Nach der Rückkehr nach Neapel traf er wieder jemanden aus seiner Vergangenheit: ‚Es war die älteste von den fünf Hannoveranerinnen, die ich in London geliebt hatte – jene, die mit dem Marchese della Petina geflohen war.‘ Ihr Mann saß seit sieben Jahren wegen Fälschungen im Gefängnis. Casanova setzte sich bei der Herzogin von Kingston für sie ein, die sie an Stelle einer Römerin in ihre Dienste nahm und mit ihr nach England reiste. Casanova hörte nie wieder von ihr. Auch traf er im Gefängnis wieder auf ‚Gaëtano, der vor zwölf Jahren in Paris unter meiner Gevatterschaft die hübsche Frau geheiratet hatte, die ich später wieder aus seinen Klauen befreit hatte.‘ Er saß ebenfalls wegen Fälschungen ein. Gaëtano behauptete, Casanova sei ihm 100 Taler schuldig, nämlich für Waren, die er angeblich in Paris erworben hatte. Agatas Mann sagte zu, Casanova vor Gericht zu vertreten, denn: ‚Die in Neapel sehr zahlreichen Paglietti leben, abgesehen von einigen ehrenvollen Ausnahmen, nur von Gaunereien, besonders auf Kosten von Fremden.‘
Zu seiner Überraschung tauchte auch ‚Joseph, der Sohn der Cornelis und Bruder meiner geliebten Sophie‘ auf, der inzwischen 23 Jahre alt war und äußerst sparsam und misstrauisch reiste, demzufolge auch die Einladung Casanovas ablehnte. Er wollte mit 500 Guineen ein halbes Jahr durch Europa reisen, was Casanova für unmöglich hielt. Seine Mutter war inzwischen noch mehr verschuldet. Immer wieder saß sie in Haft, doch gelang es ihr, die unverzichtbaren Bälle weiterhin zu veranstalten. Nach acht Tagen, in denen ihm Casanovas Bedienter Neapel zeigte, reiste Joseph nach Rom ab. Casanova urteilte: ‚Er war ein Windhund mit leerem Kopf; aber mit drei oder vier Grundsätzen sehr gewöhnlicher Art versehen, durchzog er halb Europa, ohne daß ihm ein Unglück zustieß.‘
Der folgende ‚Ausflug nach Sorrent war für mich der letzte Tag wirklichen Glückes‘, schrieb Casanova. ‚Der Advokat führte uns in ein Haus… Wir hatten vier Zimmer: eines für Agata und ihren Mann, das zweite für Callimene und die frühere Freundin des Advokaten, eine sehr liebenswürdige, obwohl schon etwas ältliche Dame, das dritte für Pasquale Latilla und das vierte für mich.‘ Dort machte ihn Callimene glücklich. ‚Am vierten Tage kehrten wir in drei Kaleschen nach Neapel zurück … Callimene überredete mich, ihrer Tante zu sagen, was zwischen uns vorgefallen war, damit wir uns in voller Freiheit sehen könnten.‘ ‚Ich gewann vollends ihr Herz durch meine Liebe und indem ich ihr die Sachen kaufte, deren sie dringend bedurfte …, wennschon meine Börse recht schmal geworden war. Agata, die ich in mein Glück einweihte, war hocherfreut, es mir verschafft zu haben.‘
Ein paar Tage später luden sich die ‚Engländerin mit dem Grafen Medini‘ selbst bei Casanova ein. Ein reicher Russe namens ‚Buturlin verliebte sich augenblicklich in Sara, und einige Monate nach meiner Abreise besaß er sie für fünfhundert Louis, die der Kuppler Goudar brauchte‘, denn dieser war aus Neapel nach dem Willen der Königin ausgewiesen worden. Sie hatte ihren Gemahl zudem gezwungen, ihr einen ihrer Briefe zu geben, in dem sie ihn aufforderte, sich am gewohnten Ort zu treffen, wo sie ihn erwarte, ausdrücklich ‚coll’ impazienza medesima che ha una vaca che desidera l’avvicinamento del toro‘ – Casanova weigerte sich (zum einzigen Mal), diesen Satz zu übersetzen, der etwa bedeutet, sie erwarte ihn mit der Ungeduld einer Kuh, die die Annäherung des Stieres wünschte. Für keusche Ohren sei das nicht zu ertragen. Wieder verlor Casanova beim Glücksspiel, und so sah er sich gezwungen, auf den Vorschlag Agatas zurückzukommen, ihren Schmuck zu verkaufen. So kam er wieder zu etwa 15.000 Francs.
Nach 27 Jahren fand er sich auf Einladung des Advokaten in jenem Casino wieder, wo er sehr viel Geld erworben hatte, indem er den Griechen mit seiner Quecksilbervermehrung genarrt hatte. Der 19-jährige König war gleichfalls anwesend. Er wollte sich auf eine Decke gelegt, in die Luft werfen lassen, kurz: prellen. ‚Was ein König will, wird schnell von der Rotte der Schmeichler und Speichellecker ausgeführt, und Seine sizilianische Majestät wurde nach Wunsch geprellt.‘ Nun suchte er weitere Opfer für diesen Spaß, fand aber nur unter den Jungen Teilnehmer, die ihre Kleider dazu ablegten, um sich in die Luft werfen zu lassen. Die Damen lachten aus vollem Halse, ‚denn in Neapel lacht man nicht verstohlen in sich hinein wie in Madrid, man lächelt nicht mit den Mundwinkeln wie in Versailles, noch weniger lacht man wie an den nordischen Höfen, wo das Lachen ein unterdrücktes Niesen ist, wo man sich auf die Lippen beißt, um nicht vor Langeweile zu gähnen.‘ Mit Mendini kreuzte er die Degen, wobei jener am Arm verletzt wurde. Revanche sagte er ihm in Rom zu.
Seine Callimene sah er ‚erst sechs Jahre später, strahlend von Schönheit und Talent, in Venedig im Theater San Benedetto wieder‘. Nach einer ‚köstlichen Nacht‘ reiste er von Neapel, ohne sich zu verabschieden, Richtung Salerno. Dort nahm er Kontakt zu Lucrezia Castelli auf. ‚Sie stieß einen Freudenruf aus und warf sich in meine Arme, da sie in Worten ihre Freude über dieses Wiedersehen nicht ausdrücken konnte.‘ Sie war in seinem Alter, sah jedoch 15 Jahre jünger aus. Leonilda, seine Tochter und inzwischen 25, war verheiratet und besaß ein Witwengeld von 100.000 Dukaten. Ihr alter Mann litt unter Gicht, die beiden begrüßten sich als Freimaurer. Sein Haus wies ein Kühlungssystem auf, denn es hatte einen Treppenzugang zu einer sehr kalten Grotte.
Er und seine Tochter ‚überließen [sich] dem Vergnügen, uns mit den zärtlichen Namen Papa und Tochter anzureden. Diese Namen erlaubten uns Freiheiten, die zwar unvollkommen, aber nichtsdestoweniger eigentlich verbrecherisch waren.‘ Ihre Mutter ermahnte sie, ‚den Spaß nicht zu weit zu treiben‘. Doch ließen sie sich nicht aufhalten: ‚Unbeweglich blieben wir liegen und sahen einander an, ohne die Stellung zu ändern. Ernst und stumm überließen wir uns unseren Gedanken und waren erstaunt, uns weder schuldig zu finden noch Reue zu verspüren.‘ Ihr Mann, der sich Nachwuchs erhofft hatte, sollte sich freuen.
Um abzulenken flirtete er mit Anastasia. Im Schutz dieser Täuschung erneuerte er mit Leonilda seine ‚Liebestaten, die sie mit unbeschreiblicher Glut erwiderte‘. Nach langer Zeit erwähnt er wieder die Dauer des Beisammenseins, nämlich zwei Stunden. Allerdings konnte er bald Anastasia nicht mehr widerstehen. ‚Als ich meiner Leonilda das Abenteuer erzählte, lachte sie laut auf.‘ Vom Marchese erhielt er die 5000 Dukaten, die er einst Leonilda geschenkt hatte. ‚Donna Lucrezia wußte nicht, daß der Herzog von Matalone ihm enthüllt hatte, wessen Tochter Leonilda war.‘
In Neapel besuchte er ein letztes Mal Agata und Callimene. Er ließ es sich nicht entgehen, ‚Montecasino‘ zu besuchen, wo er ‚den Prinzen Xaver von Sachsen, der unter dem Namen eines Grafen von der Lausitz mit der Signora [Clara Maria] Spinucci reiste.‘ Er wartete auf päpstlichen Dispens, um sie heiraten zu dürfen.
Casanova reiste nun nach Rom, wo er gedachte, sich sechs Monate dem Studium der Stadt zu widmen. Die 16- bis 17-jährige Tochter seines Wirtes, Margherita, wäre trotz ihrer ‚etwas dunklen Hautfarbe sehr hübsch gewesen …, wenn nicht die Pocken sie eines Auges beraubt hätten.‘ Man hatte ihr ein Auge eingesetzt, dessen Farbe und Größe nicht zu dem anderen Auge passten. ‚Ein englischer Augenarzt, Ritter Taylor genannt befand sich damals in Rom; durch ihn ließ ich ihr ein Emailleauge machen, das ihrem echten Auge täuschend ähnlich war.‘ Margherita glaubte, Casanova habe sich binnen ‚vierundzwanzig Stunden in sie verliebt‘, doch ‚ihre Mutter, die sehr fromm war, schwebte in großer Angst, ihr Gewissen zu belasten, indem sie ein voreiliges Urteil über meine Absichten fällte‘ (6, 17).
Der Bankvorsteher Belloni[112], der Casanova ‚seit langer Zeit‘ kannte, war von seinen Wechseln bereits in Kenntnis gesetzt. Dandolo, ‚stets mein getreuer Freund‘, schickte ihm zwei Empfehlungsbriefe. Einer davon ging an den Gesandten Erizzo, den Bruder des früheren Gesandten in Paris. Wie Casanova wusste, brauchte man in Rom keinen Wagen nebst Bedientem, denn diese standen jederzeit zur Verfügung.
Der Fürst von Santa-Croce, ein Jesuit, erbot sich, nachdem Casanova darüber geklagt hatte, dass ‚einem Gelehrten so viele lästige Schwierigkeiten gemacht würden, wenn er in der römischen Bibliothek arbeiten wollte‘, ihn dem Superior des Hauses der Gesellschaft Jesu vorzustellen. Von da an konnte er ‚nicht nur auf die Bibliothek gehen, so oft ich wollte, sondern auch die Bücher, die ich brauchte, in meine Wohnung schaffen lassen‘. Er erhielt Kerzen zum Lesen, und sogar ‚die Schlüssel zu einer kleinen Seitentür …, durch die ich zu allen Stunden eintreten konnte, oft sogar ohne gesehen zu werden.‘ Der Orden stand unter hohem Druck, denn der spanische König, der dessen Aufhebung betrieb, drohte dem Papst, alle Briefe mit ihren Versprechungen, die dieser ihm als Kardinal gegeben hatte, zu veröffentlichen. Ganganelli, selbst Franziskaner, wurde vergiftet oder starb an den Gegengiften, die er einnahm. Casanova glaubte Ersteres, da eine Frau aus Viterbo (die verhaftet worden war), während er in Rom weilte, das Ende des Papstes und des Ordens präzise vorhergesagt hatte. Seiner Ansicht nach hätten die Jesuiten sich so sicher gefühlt, dass der Papst ihren Orden niemals aufheben würde, dass sie ihn erst vergifteten, als es zu spät war. ‚Hätte der Papst nicht den Jesuitenorden aufgehoben, so wäre er auch nicht vergiftet worden, und dann hätte die Weissagung auch nicht gelogen.‘ Zudem wurde die Prophetin freigelassen, wenn auch für wahnsinnig erklärt. Um den Mord zu kaschieren wurde die Behauptung lanciert, Clemens XIV. sei an den besagten Gegengiften gestorben.
Schließlich besuchte er den inzwischen 55-jährigen Bernis, der, dick geworden, nur noch Gemüse essen durfte, woraufhin Casanova entsprechend dem Kenntnisstand seiner Zeit fragte: ‚»Geschieht dies, um die Neigung zu den Freuden der Venus zu töten?«‘ Bernis stand noch immer mit der Nonne ‚M. M.‘ in brieflichem Kontakt. Auch bahnte er den Kontakt zum venezianischen Gesandten Nicolò detto Marcantonio Erizzo an. Dieser war ‚der Bruder des noch lebenden Prokurators, … ein geistvoller Mann, ein guter Bürger, ein ausgezeichneter Redner und ein großer Politiker‘. Er glaubte allerdings, er erfreue sich der ‚Protektion der Staatsinquisitoren‘.
Mit Margherita war er nur zu ausgelassenen Scherzen aufgelegt, doch beschwerte sich der nebenan wohnende ‚Bäffchenträger‘ Abbate, woraufhin ihre Mutter sich beklagte. Doch als sie Casanova ‚mit Margheritas Haube auf dem Kopf und das Mädchen mit einem großen Schnurrbart verziert, den ich ihr mit Tinte angemalt hatte‘ vorfand, ermahnte sie Casanova: ‚In Zukunft aber fürchten Sie für Ihre Tochter, wenn sie mit einem Mann allein ist, ohne zu lachen und zu sprechen.‘ Nun erst verbrachte er zum ersten Mal ‚mit ihr eine Stunde …, ohne zu lachen‘.
Von einem 15- bis 16-jährigen Knaben namens Menicuccio berichtet er: ‚Die Natur hatte ihm ein ungeheures männliches Glied gegeben‘, doch liebte er die Insassin eines Klosters. Casanova sorgte für einen Besuch dieses Klosters, in dem etwa 100 Frauen lebten. Doch das Sprechzimmer war unbeleuchtet, die Aufseherin fürchtete entdeckt und exkommuniziert zu werden, denn dies forderten die Statuten. Meist von armen und frommen Eltern ins Kloster gezwungen, die um die Ehre ihrer Töchter fürchteten, häuften sich unbeabsichtigt gerade besonders hübsche Frauen in dem ‚Gefängnis‘. Er verfasste eine Eingabe an den Papst. ‚Sobald die Fürstin Santa-Croce die Eingabe mit den Unterschriften hatte, wandte sie sich an den Kardinal-Protektor Orsini; dieser versprach ihr, mit dem von Bernis vorbereiteten Papst darüber zu sprechen. Dieser ließ ein Breve ausfertigen, wodurch die Exkommunikation aufgehoben wurde. Die Frauen lebten ‚in einer Art von klösterlicher Wohltätigkeitsanstalt, die sie nur verlassen konnten, um sich mit der Erlaubnis des Kardinals, dem die Verwaltung und Beaufsichtigung des Hauses unterstand, zu verheiraten.‘ Der Papst ‚setzte die Zahl der Zöglinge von hundert auf fünfzig herab und verdoppelte die Mitgift. Er befahl außerdem, daß jedes Mädchen, das fünfundzwanzig Jahre alt geworden wäre, ohne einen Mann zu finden, mit der Mitgift von vierhundert Talern entlassen werden sollte (6, 17).
Bald konnte sich Casanova mit Mengs versöhnen, mit dem er seit Madrid im Zwist lag. Sein ‚Bruder verließ Rom einige Zeit nachher mit dem russischen Gesandten in Dresden, Fürsten Beloselski, mit dem er gekommen war‘. Sein anderer Bruder hingegen, der ‚Abbate‘, verlangte wieder dreist Hilfe von ihm. Nachdem er ihm diese verweigert hatte, diskreditierte er Casanova bei jeder Gelegenheit in seinem Bekanntenkreis. Cerruti bot ihm an, ihn gegen wenig Geld an ein Franziskanerinnenkloster zu vermitteln – er kehrte erst nach Casanovas Abreise nach Rom zurück, wo er nach ‚dreizehn oder vierzehn Jahren eines plötzlichen Todes starb‘. Medini, ebenfalls in Rom, lebte weiterhin von Betrug, doch begegneten sich die beiden nie.
Graf Manucci hingegen hatte sich bei seinen Freunden eingeschmeichelt, obwohl er das besagte Attentat auf Casanova veranlasst hatte. In dessen Haus sah er zu seinem Erstaunen den Grafen Medini und dessen Geliebte. Als Medini zum Glücksspiel lud, hielt sich Casanova heraus. Doch lieh er Manucci 100 Zechinen, die er gleich verlor. ‚Manucci wohnte bei … meiner Schwägerin‘, er benahm sich, als wollte er die Freundschaft wiederherstellen, brachte ihm das Geld zurück: ‚Ich erinnerte mich, daß ich vor ihm im Unrecht gewesen war, wenn auch nicht so sehr wie er, und ich fühlte mein Herz beruhigt und meine Ehre befriedigt.‘ Medini wurde verhaftet, weil er zu hohe Schulden hatte. Casanova griff kaum zu seinen Gunsten ein, doch nun ‚kam der deutsche Kaiser mit seinem Bruder, dem Großherzog von Toskana, nach Rom. Einer von den Herren seines Gefolges machte die Bekanntschaft der jungen Schönheit [Medinis Geliebter] und setzte Medini instand, seine Gläubiger zu befriedigen.‘
In selbst für Casanova ungewohnter Ausführlichkeit schildert er seine Beziehung zu Armellina (6, 18–19). Die 16-jährige Schwester Menicuccios, der als Schneidergeselle arbeitete, reizte ihn. Er behauptete jedoch, verheiratet zu sein. Emilia war bereits 27. Inzwischen berichtete die Oberin, die von den Veränderungen angetan war, Casanova regelmäßig. ‚Am Neujahrstage 1771 schenkte ich jedem der beiden Mädchen ein gutes Winterkleid und sandte der Oberin eine größere Menge Schokolade, Zucker und Kaffee.‘
Anfang Januar 1771 erschien überraschend Mariuccia, die er ‚vor zehn Jahren mit einem braven jungen Menschen verheiratet hatte, der einen Barbierladen aufgemacht hatte‘. Sie war seit acht Jahren verheiratet, lebte in Frascati und hatte vier Kinder, von denen das älteste, ein Mädchen, Casanova sehr ähnlich sah. Costa, der ihn einst bestohlen hatte, war drei Jahre nach Casanovas Abreise nach Rom zurückgekehrt und hatte Momolos Tochter geheiratet, in die er sich verliebt hatte, als er in Casanovas Dienst stand. Doch zwei Jahre später war er verschwunden. Ihn traf er als Kammerdiener des Grafen Hardegg erst 1785 in Wien wieder; seine Frau lebte im Elend.
Kardinal Bernis und die Fürstin Santa-Croce wollten Casanova im Falle Armellina unterstützen, indem sie einen Theaterbesuch ermöglichten. Die Herzogin von Fiano schloss sich ihnen an – Bernis sorgte dafür, dass Menicuccio seine Geliebte bereits zum Ende des Karnevals heiraten konnte. Die Fürstin ‚fuhr mit ihnen nach ihrem Palazzo am Campo di Fiore, wo der Kardinal, der Fürst, ihr Gemahl, die Herzogin von Fiano und ich auf sie warteten.‘ Doch die Mädchen waren vollkommen verunsichert, ‚Erziehung verdirbt die Natur, wenn sie sie nicht vervollkommnet.‘ Sie fuhren ins Theater von Torre di Nona. ‚Emilia legte ihre Traurigkeit ab, und Armellina gab endlich der Fürstin richtige schöne Küsse. Wir klatschten Beifall, und dies bewies ihr, daß sie nicht unrecht getan hatte.‘ Doch wieder einmal scheiterte Casanova, der zornig wurde, an ihrem Widerstand. So hielt er sich an Margherita, die nun glaubte, er sei ihr treu geblieben. Casanova bedauerte, sich für einen verheirateten Mann ausgegeben zu haben, ‚denn in meinem damaligen Gemütszustand würde ich ihr auch versprochen haben, sie zu heiraten, und ich würde durchaus nicht die Absicht gehabt haben, sie mit diesem Versprechen zu täuschen.‘
Er begab sich zum Kapitol zur Versammlung der Akademie, wo die Marquise d’Août, die er ‚genial‘ nannte („elle avait même du génie“, 6, 18), ihr Aufnahmegedicht vortragen sollte. Dann ging er nach acht Tagen zum ersten Mal wieder zur Oberin, die ihm riet, aus Liebe eine Freundschaft entstehen zu lassen. Doch antwortete er: ‚um zur Freundschaft werden zu können, darf die Liebe nicht beleidigt werden. Wenn der geliebte Gegenstand sie nicht schont, gerät sie in Verzweiflung und wird dann zur Verachtung oder Gleichgültigkeit.‘ Casanova lud Armellina zum Essen ein, bestellte Austern, von denen der Wirt sagte: ‚»Sie kommen aus dem Arsenal von Venedig, und wir können sie nicht billiger geben als zu fünfzig Paoli das Hundert.«‘ Wieder benutzte er Margherita um seine Glut zu löschen, die sich inzwischen auf beide Mädchen bezog. Für Emilia sorgte er, indem er mit seinen Kontakten veranlasste, dass sie einen Mann aus Civitavecchia heiraten durfte, hinzu kam ein Stipendium. Mit demonstrativer Zuneigung zu Emilia machte er Armellina eifersüchtig, scheute auch nicht vor Erpressung zurück, obwohl er sich dabei als ‚grausam und hart‘ empfand. Im Theater mit den beiden Mädchen, traf er auf die Marquise d’Août und einen Florentiner, der ihm einen Brief von der ‚Marchesa C.‘ gab, und berichtete von Anastasia; Casanova verschob die Lektüre, da es in der Loge zum Lesen zu dunkel war. Als der Überbringer Armellina ein Kompliment machte, fühlte sich Casanova beleidigt: ‚Das Schweigen, das in unserem Kreise herrschte, machte ihn darauf aufmerksam, daß er mich verletzt hatte‘. Casanova fühlte eine ‚jämmerliche Eifersucht‘, Armellina verstärkte diese noch unbewusst, als sie den Florentiner damit entschuldigte, er habe Casanova wohl für ihren Vater gehalten. Doch beruhigte er sich bald: ‚An Armellinas sanftem Wesen erkannte ich die Unschuld ihres Herzens, und ich haderte mit mir selber, daß ich mich durch ein häßliches Gefühl hatte aufregen lassen, weil ihr ein Mann gefallen hatte, der darauf viel mehr Anspruch hatte als ich.‘
Leonilda schrieb ihm: ‚sie sei glücklich, denn sie sei guter Hoffnung, Mutter zu werden, und sie würde auf dem Gipfel der Seligkeit sein, wenn sie einen Sohn zur Welt brächte. Sie bat mich, dem Marchese meinen Glückwunsch zu schreiben‘ – Casanova ‚schauderte‘. ‚Im Mai brachte Leonilda einen Knaben zur Welt. Ich sah diesen in Prag, als Leopold der Zweite gekrönt wurde, im Hause des Fürsten Rosenberg. Er nennt sich Marchese E., wie sein Vater, vielmehr wie der Gatte seiner Mutter, der ein Alter von achtzig Jahren erreicht hat.‘ Zu Casanovas Erleichterung wollte es der Zufall, dass der inzwischen 20-jährige gebildete Mann, sein Sohn und Enkel, ihm nicht ähnlich sah, sondern seinem „Schwiegersohn“. 1792 lud Leonilda ihren Vater zur Hochzeit ihres Sohnes ein, und Casanova machte sich offenbar noch Hoffnung, dass er ihrer Einladung, bei ihr zu wohnen, würde eines Tages noch folgen können.
Teils bereitwillig, teils unfreiwillig geriet Casanova in die Rolle des Heiratsvermittlers für die Insassinnen des Klosters. Nicht nur Emilia heiratete (sie reiste nach Civitavecchia ab), sondern auch Menicuccio. Armellina hingegen erhielt eine neue Aufseherin namens Scolastica, die allerdings höchstens drei Jahre älter war als sie selbst. Als Männer verkleidet gingen sie mit Casanova ins Theater Aliberti. Allerdings musste er einsehen, dass Armellina ihn nicht liebte, und dass ‚die andere mir nur darum keinen Widerstand leistete, weil sie ihrer Freundin die Verlegenheit benehmen und sie überzeugen wollte, daß sie ihr ganz und gar vertrauen könnte.‘ Völlig unerwartet fanden sich auf einem Ball auch ‚die Marquise d’ Août, ihr Gatte und ihr unzertrennlicher Abbé‘ ein. Als Mädchen verkleidet lud der Florentiner nun Armellina zum Tanz und nahm auch sonst ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch; Casanova war ‚eifersüchtig wie ein Tiger und brüllte innerlich vor Wut‘, noch mehr, als Scolastica ihm ihren Zukünftigen vorstellte. Zur Wahrung der Etikette musste Casanova sich vier Stunden lang verstellen, wie er selbst schrieb, die ‚Hölle‘. Erst als er erkannte, dass sich Armelina verliebt hatte, überkam ihn Mitleid. Er machte die beiden betrunken und ‚Von Wollust überwältigt, sank Scolastica in Ohnmacht; sicherlich war sie überzeugt, daß ich nur aus Zartgefühl ihren geheimen Wünschen nicht ganz nachgegeben hatte.‘ Armellina wünschte den beiden Glück. ‚Ich fühlte mich beschämt, und Scolastica bat sie um Verzeihung‘ (6, 19) Immerhin: ‚Am Faschingssonntag nach der Oper ergab Armellina, von Scolasticas Beispiel fortgerissen, sich meiner Zärtlichkeit; am letzten Tage des Karnevals erfreute ich mich ihrer Gesellschaft noch einmal, und zwar zum letzten Male‘ (6, 20). Nicht nur Scolastica heiratete mit seiner Unterstützung. Der Florentiner bat Casanova um sein Einverständnis, Armellina zu heiraten. Dieser ‚setzte ihr eine Mitgift von zehntausend Scudi aus, die er auf der Bank des Heiligen Geistes hinterlegte. Nach Ostern heiratete er sie und reiste mit ihr nach Florenz und von dort nach England, wo sie noch jetzt glücklich lebt.‘
Als er Mariuccia in Frascati besuchte, um für die Akademie der Unfruchtbaren, deren Princeps Orsini ihm die Möglichkeit gegeben hatte, Mitglied zu werden, eine Ode zu schreiben, begegnete er zuerst ihrem Mann, der ihm ein Zimmer anbot. Dieser lebte vom Kornhandel, betätigte sich zu seinem Vergnügen aber auch als Friseur. Zu seiner Überraschung trug dessen Tochter nicht nur den Namen Giacomina, sondern das 8- bis 9-jährige Mädchen sah Casanova auch sehr ähnlich. Dieser notierte, sie wäre ‚viel schöner als meine Sophie‘. Ihre Mutter Mariuccia hatte ihr nicht mitgeteilt, dass Casanova ihr Vater war, obwohl es jeder wusste, doch: ‚Solche Geheimnisse vertraut man doch keinem Kinde an‘. Das begabte Mädchen lernte bei der 13-jährigen Veronica zeichnen. Casanovas Bruder wiederum, der die Frau nicht geheiratet hatte, hatte ein Kind namens Guglielmina mit Victorias Tante, doch da er sie nicht geheiratet hatte, war Casanova auch nicht ihr Schwager. Das Mädchen war aber dementsprechend seine Nichte. Doch er fühlte eher die Nähe des Todes, ‚dem wie ein Stoiker ins Auge zu sehen ich nicht die Kraft hatte‘. ‚Diese Schwachheit hat mich niemals feige gemacht, trotzdem aber habe ich ihre Ursache verabscheut und habe niemals begreifen können, wie ein denkender Mensch gleichgültig gegen den Tod sein kann‘ (6, 20 und 21). Doch beruhigte er sich damit, dass er, außer der Corticelli, alle Mädchen glücklich gemacht habe.
Er ‚sah, dass ,Manuccia mir zur Verfügung stand, aber mich verlangte nur nach Guglielmina.‘ Seine Tochter und seine Nichte schliefen in einem Bett, und Manuccia und er suchten die Schlafenden auf. Der Älteren ‚Mittelfinger war noch etwas mehr gekrümmt als die anderen und ruhte unbeweglich auf einer kaum wahrnehmbaren Rundung rosigen Fleisches‘. Bei ihrem Anblick empfand Casanova ‚ein köstliches Grauen … Dieses neue Gefühl zwang mich mit meinen eigenen zitternden Händen die beiden nackten Leiber wieder zuzudecken.‘ Mariuccia ‚hatte, ohne sich etwas Böses dabei zu denken, das größte Geheimnis zweier unschuldiger Seelen gerade in dem Augenblick verraten, wo sie sich vollkommen sicher glaubten. Wären sie in dem Augenblick aufgewacht, wo ich mich an ihrer schönen Stellung weidete, sie hätten vor Schmerz sterben können.‘ Trotz dieser Erkenntnis erregt, ließ sich Casanova noch einmal auf Mariuccia ein. ‚Guglielmina mit ihren dreizehn Jahren würde mich gehaßt haben, wenn sie erfahren hätte, daß meine Augen sich bereits ohne ihren Willen in ihren Besitz gesetzt hatten. Meine Tochter, die erst neun Jahre alt war, konnte noch nicht so reife Ideen haben.‘ Tatsächlich schlief Casanova wenige Tage später in Gegenwart seiner Tochter mit Guglielmina, und nur die Aufklärung darüber, dass er ihr Vater war, schreckte sie davon ab, desgleichen zu tun. Doch sie wollte alles ganz genau sehen. ‚Guglielmina war mein Engel geworden. In dieser zweiten Nacht fand ich sie so verliebt, daß ich meinem Bruder alle seine Dummheiten verzieh.‘ Er versprach ihr sogar die Ehe, obwohl dies rechtlich unmöglich war, da sie ja die Tochter seines Bruders war.
Nun war ihm auch beim Glücksspiel wieder das Glück hold. Dank eines seiner Einfälle sah sich Veronica ‚im Besitz von hundertundfünfzig Scudi, während auf Clemente und seine Familie zweihundertfünfundzwanzig entfielen. Ich selber hatte achtzehnhundertfünfundsiebzig Scudi gewonnen, und diese Summe konnte mir nicht gleichgültig sein: denn nach den Ausgaben des Karnevals näherte sich mein Schatz seinem Ende‘ (ein römischer Scudo entsprach einer halben Zechine). Auch Clemente, der heimlich auf die 27 gesetzt hatte, hatte 750 Scudo gewonnen.
Mariuccia, Giacomina, Guglielmina und Casanova reisten nun an einem Sonntag gemeinsam nach Rom. Er ‚verbrachte acht sehr glückliche, aber auch sehr kostspielige Tage, denn ich gab für Kleiderstoffe, Wäsche und Schmucksachen aller Art mehr als vierhundert Zechinen aus. Ich vergaß auch die Signora Veronica nicht; die Geschenke, die ich für diese gekauft hatte, nahm Guglielmina mit.‘
‚In der Nacht des Gründonnerstags verfaßte ich die Ode, die ich am nächsten Tage in der Versammlung der Unfruchtbaren vortrug. Ich sah dort den Kardinal Bernis und den Kardinal Giambattista Rezzonico, der mich um eine Abschrift meiner Ode bat. Ich trug diese aus dem Gedächtnis vor und vergoß dabei einen Strom von Tränen. Alle Akademiker weinten.‘ Wenn er Verse sprach, nahm sein Gesicht den Charakter an, ‚der dem behandelten Gegenstande angemessen war‘, und, wie er Bernis, der ebenfalls anwesend gewesen war, erklärte, fühle er dies auch so. ‚Am zweiten Ostertag führte ich Mariuccia und die beiden Mädchen nach Frascati zurück. Guglielminas Verzweiflung schnitt mir in die Seele.‘ Veronica schwor er, Guglielminas Traurigkeit rühre von seiner Freigebigkeit, doch sei nichts ‚Ernstliches‘ vorgefallen. Guglielmina ‚wurde ein Jahr darauf die Frau eines Malers … Clemente berichtete mir über sie, so oft ich neugierig war und an ihn schrieb. Er wurde reich und kehrte sieben oder acht Jahre später nach Rom zurück, wo er sich mit einem Kornhändler zusammen tat, der Giacomina heiratete. Diese Ehe war jedoch nicht glücklich. Sie wurde schon mit zwanzig Jahren Witwe und verließ Rom mit einem Grafen aus Palermo, der sie nach dem Tode seiner Frau heiratete.‘ Casanova blieb noch sechs Wochen in Rom. 1783, so meinte er, hätte er von Venedig wieder nach Süditalien gehen sollen, wo er wohl glücklich geworden wäre.
Pater Stratico, der spätere Bischof von Lesina, kam um diese Zeit nach Rom, um seine Magisterprüfung abzulegen, ‚das Doktorat der Dominikaner-Mönche‘. Casanova durfte dabei zugegen sein. Neben dem Ordensgeneral waren vier Theologen anwesend. Er ‚war sehr neugierig auf diese lächerliche Doktorprüfung, über welche Stratico selber sich im geheimen lustig machte‘. Dessen Bruder war Professor der Mathematik an der Universität Padua. ‚Als sie abgereist waren, verließ ich ebenfalls Rom, wo ich, mein Leben genossen, aber zuviel Geld ausgegeben hatte. Ich ging nach Florenz, nachdem ich mich von allen meinen Bekannten verabschiedet hatte, besonders von dem Kardinal, der immer noch hoffte, daß Ludwig der Fünfzehnte ihn nach Versailles zurückrufen würde.‘
Casanovas Lage bei seiner Abreise Anfang Juni 1771 war verzweifelt: ‚Alle meine Freunde, deren Börsen mir offen gestanden hatten, waren gestorben.‘ Barbaro, der 1771 gestorben war, hatte ihm eine ‚jämmerliche Rente‘ von 6 Zechinen pro Monat vermacht. Dandolo fügte weitere 6 Zechinen hinzu. Er besaß noch 600 bis 700 Taler, dazu ‚Uhren, Tabaksdosen, hübsche Ringe von kleinem Wert‘. Er fühlte sich mit 46 Jahren alt, ‚seit acht Jahren hatte meine Potenz ganz allmählich abgenommen‘, er dachte ‚an einen anständigen Rückzug‘. Er war entschlossen, sich ‚gänzlich dem Studium zu widmen‘. ‚Homers Ilias, die ich seit meiner Abreise von London mit dem größten Entzücken täglich ein oder zwei Stunden in der Ursprache las, hatte mir Lust gemacht, sie in italienische Stanzen zu übertragen.‘
Um sich selbst davon abzuhalten, den großen Herrn zu geben, nahm er sich vor, in Florenz, das er nach zwei Tagen erreichte, einfache Kleidung zu tragen und ohne Luxus zu leben. Er glaubte: ‚Meine Laster haben stets nur mich selber betroffen, ausgenommen allerdings die Fälle, wo ich Unschuldige verführt habe, aber ich war niemals ein Verführer von Beruf, denn wenn ich verführte, wußte ich gar nichts davon, sondern war selber verführt.‘
Vom Großherzog persönlich erhielt er die Erlaubnis, sich in Florenz aufzuhalten. Seine Wohnung bei Giambattista Allegranti gab er fluchtartig auf, denn ‚Maddalena, die Nichte meines Wirtes, beinahe noch ein Kind, war so schön, so anmutig, so klug und reizvoll, daß sie mich fortwährend von meinen Studien ablenkte‘ (6, 22). Sie wurde später eine berühnmte Sängerin: Maddalena Allegranti.
Unbehelligt lebte er drei Wochen in der neuen Wohnung, als Stratico mit seinem Zögling, dem 18-jährigen Cavaliere Morosini, nach Florenz kam. An den Ausschweifungen dieses jungen ‚Wüstlings‘, wie er vermerkte, sah er sich aus Gefälligkeit gezwungen, teilzunehmen.
Als die beiden Männer endlich abreisten, kehrte Casanova zu seinem ruhigen Leben zurück, soupierte allerdings bei der Tänzerin Denis[113], die Berlin verlassen und sich nach Florenz zurückgezogen hatte. Casanova behauptete, sie, die in seinem Alter war, sehe noch aus wie eine Dreißigjährige. Sie setzten ihre Beziehung von 1764 fort. Doch nun verliebte er sich unglücklich in eine noch junge Witwe, die zeitweise in Paris gelebt hatte. Es war eine Qual, wie er notiert (später merkt er an, er wollte die Geschichte nicht seinen Lesern erzählen, denn: ‚sie verachtete mich und machte sich mit dem Stolz eines jungen Weibes ein Vergnügen daraus, mir dies zu zeigen‘ (6, 22)).
Nun erschien abermals jener Falschspieler ‚Medini, der mich zu verfolgen schien‘. Inzwischen hatte seine „Familie“ Schulden in Höhe von 240 Talern angehäuft. Medini hatte begonnen die Henriade Voltaires in italienische Stanzen zu übersetzen. Was er nicht wusste war jedoch, dass der Großfürst nur so tat, als liebte er die Literatur, und so hatte er bei Hof keinerlei Aussichten (6, 22). Medini griff in seiner Not, obwohl kleiner, Casanova an, der ihm nicht helfen konnte. Dann verprügelte er die vier Sbirren, was Casanova wiederum Respekt einflößte. Medini hingegen, immer in Geldnot, starb 1788 in einem Londoner Gefängnis, um die 70 Jahre alt. Casanova hatte ihn vor England gewarnt, ähnlich wie Cagliostro vor Rom, der dort auch im Gefängnis endete. Casanova selbst, seinerzeit vor Spanien gewarnt, hatte diese Warnung ja auch in den Wind geschlagen. Für dieses Mal aber löste ihn der 25-jährige Premislav Zanowitsch aus, ‚der später ebenfalls berühmt wurde, wie sein Bruder [Steffano], der die Amsterdamer Kaufleute betrog und sich den Namen und Rang eines Fürsten Skanderbeg beilegte.‘ Diese beiden ‚Falschspieler großen Stils‘ stammten aus Budva (Stefano hielt sich 1776–1778 auch in Berlin auf, seine Amsterdamer Schulden trieben die Niederlande und Venedig beinahe in den Krieg[114]) Premislav gab sich als Graf aus. Als Casanova auf seine Geliebte traf, erkannte er Ippolita. Im Umkreis der Falschspieler fand er zudem Aloisio Zen, der, von den Pocken gezeichnet, sich als ‚der Sohn des Hauptmanns … im Fort Sant' Andrea‘ ausgab – dies lag inzwischen 28 Jahre zurück. Als das Glücksspiel begann, zog sich Casanova diesmal zurück. So lebte er sieben Monate recht ruhig in Florenz.
Im Dezember machte sich Zanowitsch an die venezianische Tänzerin Lamberti heran, um mit ihrer Hilfe den englischen Lord Lincoln auszunehmen. Dieser betrank sich ‚nach der echten Gewohnheit der Engländer …, daß er nicht mehr seine rechte Hand von seiner linken unterscheiden konnte, so war er ganz erstaunt, beim Erwachen am anderen Morgen sich vom Glück ebensogut behandelt zu sehen wie von der Liebe. Der arme Junge sollte sein Lehrgeld bezahlen, er fand den Köder lecker und biß an.‘ Der 18-Jährige wurde um 12.000 Pfund Sterling oder 300.000 Francs betrogen.
Obwohl in keiner Weise daran beteiligt, wurde Casanova nun aus dem Großherzogtum Toskana ausgewiesen. Dem Auditore, demselben, wie vor elf Jahren, sagte er, er wolle in den Kirchenstaat gehen, um abzuwarten, was der Großherzog sagen würde. Der Auditore meinte, es wäre nicht eilg, doch Casanova antwortete: ‚»Ich habe es im Gegenteil außerordentlich eilig, denn ich finde keine Ruhe in einem von Despotismus und Gewalt regierten Lande, dessen Herrscher mir sein Wort bricht, und wo das Völkerrecht verletzt wird. Dies alles werde ich Ihrem Herrn schreiben.«‘ Er schrieb, vielleicht zum ersten Mal davon: ‚»Gnädiger Herr! Jupiter hat Ihnen den Blitz nur anvertraut, um ihn gegen die Schuldigen zu schleudern, und Sie sind ungehorsam gegen den Gott, indem Sie ihn auf mein Haupt schleudern. Vor sieben Monaten haben Sie mir versprochen, ich könnte bei Ihnen in vollem Frieden leben, vorausgesetzt, daß ich niemals die gute Ordnung der Gesellschaft störte und daß ich die Gesetze achtete; diese gerechte Bedingung habe ich gewissenhaft erfüllt; Sie aber, Kaiserliche Hoheit, haben Ihr Wort gebrochen. Ich schreibe Ihnen, gnädiger Herr, nur zu dem Zwecke, um Ihnen mitzuteilen, daß ich Ihnen verzeihe. Infolgedessen werde ich mich keinem Menschen gegenüber beklagen und werde Sie von Bologna, wo ich übermorgen sein werde, weder schriftlich noch mündlich der Ungerechtigkeit beschuldigen. Ich wünsche sogar, ich könnte diese Wunde, die Ihre Willkür meiner Ehre geschlagen hat, vergessen, aber ich möchte sie im Gedächtnis behalten, damit ich niemals wieder meinen Fuß auf den Boden setze, zu dessen Herrn Gott Sie gemacht hat. Der Auditore, der an der Spitze Ihrer Polizei steht, hat mir gesagt, ich könnte in Pisa mit Eurer Kaiserlichen Hoheit sprechen; aber ich habe gefürchtet, ein solcher Schritt von meiner Seite könne einem Fürsten allzu kühn erscheinen, der nach dem allgemein geltenden Rechte nicht nach ihrer Verurteilung mit den Menschen sprechen muß, sondern vor derselben«‘ (6, 22). Die gleichfalls erzürnte Denis war der Ansicht, ‚Der Großherzog hatte offenbar mit allen Venetianern aufgeräumt, die sich damals in Florenz befanden.‘
Am 30. Dezember 1771 erreichte Casanova Bologna (6, 22), sein dritter Aufenthalt in der Stadt, nach denen von 1744 und 1761.[115] Am 1. Januar stellte er sich ‚dem päpstlichen Legaten, Kardinal Brancaforte‘ vor (1711–1786), den er zwanzig Jahre zuvor in Paris als päpstlichen Gesandten kennengelernt hatte, und der ebenfalls Freimaurer war. ‚Wir hatten auch in Gesellschaft des Don Francesco Sensale und des Grafen Ranucci mit hübschen Sünderinnen feine Soupers veranstaltet und hatten uns diesen gegenüber als Sünder benommen. ‚Es gibt in ganz Italien keine Stadt, wo man freier leben könnte als in Bologna: die Lebensmittel sind gut und billig, und man kann sich mit geringen Kosten alle Freuden des Lebens verschaffen. Außerdem ist die Stadt schön, und fast alle Straßen sind mit Säulengängen eingefaßt – eine große Annehmlichkeit in einem Klima, wo die Hitze sich zuweilen mit großer Kraft fühlbar macht. Um die Gesellschaft kümmerte ich mich nicht. Ich kannte die Bolognesen: der Adel ist stolz, und seine Angehörigen sind schlau, unhöflich und gewalttätig; das niedere Volk, die sogenannten Birichini, taugt noch weniger als die Lazzaroni von Neapel, während die bürgerlichen Klassen, der Mittelstand, im allgemeinen sehr nette Leute sind. Es ist bemerkenswert, daß in Bologna und Neapel die beiden äußersten Schichten der Bevölkerung verdorben sind, während die mittleren Klassen in jeder Beziehung Achtung verdienen. In diesen Klassen finden sich denn auch, abgesehen von wenigen Ausnahmen, alle Tugenden, alles Können und Wissen.‘ Dort habe alles einen ‚literarischen Anstrich‘.
1772 publizierte er zum bloßen Broterwerb ein kleines Opus unter dem Titel Lana caprina. Darin polemisierte er, nicht ohne medizinische Kenntnisse, gegen Schriften, die das Verhalten der Frauen auf bloße Veränderungen in der Gebärmutter zurückführen wollten. Für ihn waren die Autoren dieser Schriften Esel, die sich sinnloserweise um „Ziegenwolle“ stritten, wie es sprichwörtlich hieß. Der Verfasser einer Gegenschrift gegen L’utero pensante, (etwa: der denkende Uterus)[116] die unter dem Titel La force vitale erschienen war, hatte eingeräumt, dass ‚allerdings der Uterus ein Tier für sich sei; aber er behauptete er übe keinen Einfluß auf die Vernunft des Weibes aus, denn die berühmtesten Anatomen hätten niemals auch nur die geringste Verbindung zwischen dem Behältnis des Fötus und dem Gehirn entdeckt‘ (6, 22). Casanova behauptete, seine Schrift binnen drei Tagen verfasst zu haben; das Werk brachte ihm binnen kaum zwei Wochen 100 Zechinen ein.
Doch bald wurde er von seiner Ilias durch gesellschaftliche Kontakte abgelenkt. Abbate Severini verschaffte ihm zwei günstige Zimmer bei einer früheren Virtuosa, der Witwe des Tenors Carlani (1716–1776), die sich von der Bühne zurückgezogen hatte.[117]
Casanova lernte alle ‚hübschen Tänzerinnen und Sängerinnen von Bologna‘ kennen. Die Stadt sei ‚die Pflanzschule dieses Gezüchtes‘, ‚sehr vernünftig und sehr billig zu haben, solange sie sich in ihrer Heimat befinden.‘ Jede Woche stellte ihm sein Abbate eine der Frauen vor.
In der Stadt machte der Marchese (Francesco) Albergati Capacelli (1728–1804[118]) von sich reden, der der Stadt ein Theater geschenkt hatte. Er hatte mit einer Geliebten zwei Kinder, behauptete aber, er sei impotent, um seine Ehe lösen zu können. Zur Beweiserhebung wurde ein Congresso veranstaltet, wie er in ganz Italien in solchen Fällen üblich sei. ‚Vier erfahrene, gerechte und unbestochene Richter nahmen mit dem völlig entkleideten Marchese alle Handlungen vor, die sie für geeignet hielten, um eine Erektion bei ihm hervorzubringen.‘ Da sie ohne Erfolg blieben, wurde die Ehe für nichtig erklärt, allerdings wurde nur eine ‚relative Impotenz‘ konstatiert, denn er hatte ja Kinder.
Casanova wollte Capacelli kennenlernen. Er besuchte ihn mit einem Empfehlungsschreiben Dandolos auf seinem Landsitz. Dort wurde er allerdings trotz seines Empfehlungsschreibens so brüskierend behandelt, dass er eine Burleske auf den angeblichen General verfasste, um ihn lächerlich zu machen. Sein Buchhändler, dem er die Auflage schenkte, verkaufte diese binnen 3, 4 Tagen zu einem Bajocco das Stück. Jahre zuvor hatte Casanova seine Geringschätzung gegenüber dem Theatermann geäußert, was Casanova an dieser Stelle nicht wiederholt.
Als bedeutender stellte sich für Casanova sein Dankschreiben an Pietro Zaguri (1733–1805) in Venedig heraus. Überraschenderweise erbot sich dieser, sich für seine Begnadigung einzusetzen (dies sollte aber noch zweieinhalb Jahre dauern).
Casanova berichtet über den Kastraten Farinello, ‚genannt Ritter Don Carlo Broschi‘, der sich aus Madrid wegen Intrigen der Königin Elisabeth von Parma, der zweiten Ehefrau Philipps V., nach Bologna zurückgezogen habe. Dort besuchte ihn 1772 die verwitwete Kurfürstin von Sachsen. Nachdem Farinello ihr eine Arie am Cembalo vorgesungen habe, sei sie in seine Arme gefallen und habe ausgerufen: ‚Nun kann ich glücklich sterben!‘[119] Der Sänger war ‚unglücklich, da er nichts zu tun hatte und sich stets unter Tränen nach seinem geliebten Spanien sehnte‘ (6, 23). Nach Casanova hatte der 70-jährige Kastrat das Unglück, sich in seine Nichte verliebt zu haben, doch ‚war er dem Gegenstand seiner Wünsche ekelhaft‘, denn sie ‚konnte nicht begreifen, wie ein altes Tier seiner Art hoffen konnte, einem Gatten vorgezogen zu werden, den sie liebte, und der doch ein wirklicher Mann war.‘ Nun habe er die Nichte tyrannisiert.
Lord Lincoln, der ebenfalls nach Bologna kam, konnte Casanova nachweisen, dass er zu Unrecht aus Florenz verwiesen worden war. Ohne, typisch Engländer, eingestehen zu können, dass er betrogen worden war, gab er freiwillig das Glücksspiel auf. ‚Der junge Lord starb drei oder vier Jahre später in London an den Folgen seiner Ausschweifungen.‘ Er sah auch ‚den Engländer Acton mit der schönen Slopitz, der Schwester der reizenden Callimene. Sie hatte von Acton zwei Kinder, die so schön waren wie Raffaelsche Engel.‘ Callimene sollte er erst 1776 in Venedig wiedersehen.
Die ‚verhängnisvolle Nina Bergonci‘ behauptete ‚vom Generalkapitän Kataloniens schwanger zu sein. Dem Kardinal erzählte Casanova, dass ‚sie die Tochter ihrer Schwester und ihres Großvaters sei.‘ Für Casanova war klar, dass sie nur eine Schwangerschaft vortäuschte. Nachdem sie angeblich ein totes Kind zur Welt gebracht hatte, wurde die Hebamme öffentlich bestraft, wie Casanova berichtet, habe er ‚eine bis zum Gürtel herunter nackte Frau‘ gesehen, ‚die auf einem Esel festgebunden war und vom Henker mit Ruten gepeitscht wurde‘. Bergonci tat weiterhin so, als wäre sie tatsächlich schwanger gewesen. ‚Der Kardinal-Legat schämte sich, daß er eine solche schamlose Vettel hatte begünstigen können, und ergriff im geheimen alle erforderlichen Maßnahmen, um sie zur Abreise zu zwingen.‘ Gut zwei Jahre später soll sie ‚an den Folgen ihrer Ausschweifungen im tiefsten Elend‘ gestorben sein. Die Einzelheiten ihres Ablebens wollte selbst Casanova seinen Lesern nicht mitteilen.
Schließlich verliebte sich Casanova in Viscioletta – ital. Kleine Wildkirsche.[120] Sie war ‚nur eine gewerbsmäßige Kurtisane, wenn sie sich auch Künstlerin nannte‘. Er wollte den Genuss erkaufen, da er ‚nicht lange schmachten wollte‘. Er bedauerte diese Tat später. Wie er wusste, war es so: ‚Erfahrung gewinnt man für gewöhnlich nur dadurch, daß man im sogenannten Leben schmerzhafte Stöße und Püffe davonträgt. Weil dies nun einmal so sein muß, wird die Menschheit stets in Unordnung und Unwissenheit dahinleben; denn die Weisen bilden eine unendlich kleine Minderheit.‘ Die Viscioletta wies ihn drei Wochen lang lachend zurück. Doch als ihr Liebhaber Casanovas Wagen kaufen wollte, um ihn ihr zu schenken, verlangte Casanova 350 statt der gebotenen 300 Taler. Sie erwies Casanova, unter der Bedingung, den Wagen an ihren Liebhaber für 300 zu verkaufen, alle Dienste, womit sich Casanova für dessen dummen Stolz gerächt hatte. Winkelmann erwähnt sie in einem Brief von 1767.[121]
Casanova nahm den Rat seiner adligen Freunde Marco Dandolo und Pietro Zaguri an und zog im Oktober 1772 nach Triest – er sollte nahe bei Venedig wohnen, damit die Staatsinquisitoren sein Verhalten besser prüfen konnten –; doch die Inquisitoren ließen ihn weiterhin warten. Dort konnte er immerhin auf die Protektion durch den venezianischen Konsul Marco de’ Monti hoffen. Um das venezianische Territorium nicht zu berühren, schiffte er sich in Ancona ein, ‚von wo jeden Tag Schiffe nach Triest segeln‘ (6, 23).
Casanova reiste zwei Tage lang Richtung Pesaro, wo er ‚den ausgezeichneten Gelehrten Marchese Mosca … kennen lernen wollte.‘ Er hatte eine Abhandlung über das Almosen veröffentlicht,[122] die auf den Index gesetzt worden war‘: Er ‚huldigte der Lehrmeinung des heiligen Augustinus, die, auf ihre äußersten Konsequenzen getrieben, die der sogenannten Jansenisten ist.‘ Er ‚hatte das Vergnügen, eine ungeheure Sammlung von Scholiasten zu sehen, die bis ins zwölfte Jahrhundert Erläuterungen zu allen lateinischen Dichtern, selbst zu solchen vor der Zeit des Ennius geschrieben hatten. Er hatte alle Erzeugnisse in seinem Hause und auf seine Kosten in vier großen Foliobänden drucken lassen. Die Ausgabe war genau und richtig, aber sie war nicht schön. Ich wagte ihm dies zu sagen, und er gab es zu.‘ Der etwa 50-jährige Gelehrte schenkte ihm ein Exemplar, dazu die Marmora Pesaurentina, die er jedoch nicht Zeit fand, zu lesen. Er und seine Frau führten nach außen eine mustergültige Ehe, doch er lebte in der Literatur, sie war eine weltgewandte Frau. Frau Mosca-Barzi widmete sich während der fünf Tage, die Casanova in Pesaro verbrachte, nur ihm. ‚Sie fuhr mit mir in ihrer Kutsche nach allen ihren Landhäusern und stellte mich abends in den Gesellschaften dem ganzen Adel der Stadt vor.‘ Ihren Mann hielt er für übertrieben religiös (6, 23). Erst nach seiner Rückkehr nach Ancona studierte er dessen Werke. Er vermisste dabei ‚kritische Anmerkungen, Glossen, erklärende Bemerkungen …, denn dies sind eben die Dinge, die einer derartigen Sammlung Wert verleihen, aber von alledem fand ich nichts‘ (6, 24). Die ‚Kompilation‘ war zwar Ausdruck seiner Liebe zur Literatur, aber nicht von Gelehrsamkeit. In Rom wurde er bekämpft, da er etwa leugnete, dass ‚man durch das Almosen die Strafe seiner Sünden abwenden könnte‘. Almosen müsse man im Stillen geben, nicht um seine Eitelkeit damit zu befriedigen.
Wieder begegnete er starken Motiven in seinem Leben, dem Aberglauben und - bis dahin - der Judenfeindlichkeit. ‚So oft eine geheime Stimme mir sagte, ich sollte mich eines Schrittes enthalten, wozu ich mich geneigt fühlte, tat ich, was mein Genius wollte, ohne ihn nach dem Grunde zu fragen.‘ In ‚Sinigaglia‘ ließ er sich von seinem Fuhrmann überreden, einen Juden ‚in der Kalesche mitzunehmen‘. Zunächst lehnte er ab, hörte dann jedoch wieder auf seine innere Stimme. Als er vernahm, er müsse dann aber früher abreisen, da ein Jude freitags nur bis Sonnenuntergang reisen dürfe, antwortete Casanova: ‚»Ich werde nicht eine Minute früher abfahren als sonst, denn ich will mir um einen Menschen von dieser Rasse keine Unbequemlichkeiten machen…«‘ Der nunmehr mitreisende Mardochai fragte ihn, warum er die Juden nicht liebe. Casanova antwortete: ‚»Weil ihr auf Befehl eurer Religion die Feinde aller anderen Völker, besonders aber der Christen seid, und weil ihr ein verdienstliches Werk zu vollbringen glaubt, wenn ihr uns betrügen könnt. Ihr seht uns nicht als Brüder an. Ihr treibt den Wucher bis zum äußersten, wenn wir uns in der Zwangslage befinden, von euch Geld leihen zu müssen. Mit einem Wort: Ihr haßt uns, und darum liebe ich euch nicht.«‘ Casanova ‚zitierte … auf Hebräisch Stellen aus dem Alten Testament, worin den Juden befohlen werde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit allen Nichtjuden, die sie jeden Tag in ihren Gebeten verfluchen, soviel wie möglich zu schaden.‘ Um den Venezianer von seinen Vorurteilen abzubringen, lud der Jude ihn in sein Haus ein. Casanova schrieb: ‚Man empfing mich wie einen Bruder, und ich ging auf ihren Ton ein, so gut ich konnte.‘
Mit Mardochai besuchte er die Synagoge. ‚Während ihres kurzen Gottesdienstes kümmerten die Israeliten sich um mich so wenig wie um mehrere andere Christen, die sich in ihrem Tempel befanden. Die Juden gehen in die Synagoge, um zu beten, und dies finde ich sehr lobenswert von ihnen; es wäre zu wünschen, wenn die Christen es ebenso machten, und wenn die Kirche nicht für mehr als einen ein Ort wäre, wo man Zerstreuung sucht, ja manchmal sogar Liebeshändel anknüpft.‘
Doch Casanova, inzwischen 47, war höchst pessimistisch geworden. ‚Alles brachte mir zum Bewußtsein, daß es sich für mich nur noch darum handelte, einen unvermeidlichen Abstieg, dessen unverrückbares Ziel der Tod ist, so wenig unangenehm wie möglich zu machen.‘ Er glaubte, vielleicht noch 20 Jahre erwarten zu können.
Mardochais Familie bestand aus elf Personen, darunter seine 90-jährige Mutter. Die jüngere der beiden Töchter, ‚die mit einem Juden von Pesaro verlobt war, den sie niemals gesehen hatte, fesselte meine ganze Aufmerksamkeit.‘ Casanova nannte die 18-Jährige „Lia“, ‚da ich meine Gründe habe, um sie nicht mit ihrem wirklichen Namen zu bezeichnen.‘ Von seiner ‚Turiner Jüdin‘ glaubte Casanova zu wissen, ‚wie die Angehörigen ihrer Religion in Liebessachen denken‘. Der Zypernwein, der ‚Scopolo ist wegen seines Teergeschmackes sehr harntreibend und zur Liebe reizend‘, meinte er, ‚ihr Blut geriet in Flammen, doch ihre Vernunft blieb kalt‘. Aber sie schien Alles in der Theorie zu wissen: ‚Ihr Geist befand sich mit ihrem Körper so wohl im Einklang, daß sich eine vollkommene Harmonie hieraus ergab. Ich hätte ihr gern alles gegeben, was ich besaß, um ihren wunderbaren Talenten Gelegenheit zu geben, sich beim großen Werk zu entfalten. Sie schwor mir, sie wisse nichts aus der Praxis, und ich fand sie glaubwürdig, als sie mir anvertraute, daß sie sich nach der Heirat sehnte, um endlich zu erfahren, was an ihren Ahnungen richtig wäre.‘ Doch nun dämpfte Casanova ihre Erwartungen, denn ‚die Männer, die jeden Tag verliebt sein können, sind selten.‘ Er sah: ‚Alles an ihr war Wahrheit, sie wußte nichts von Heuchelei und Betrug. Sie befriedigte ihre Begierden nur an sich selber und versagte sich die Genüsse, die durch ihr Gesetz verboten waren; trotz dem Feuer, das sie verzehrte, blieb sie diesem Gesetz treu.‘ Als er nach etwa zwölf Tagen aufgegeben hatte, musste er nachts der ‚ Göttin Cloacina ein Opfer‘ bringen. Dabei sah er, dass Lia sich mit einem jungen Mann vergnügte. ‚Es war nicht schwer, zu bemerken, daß sie jedesmal, wenn sie sich der Krisis näherten, innehielten und das Werk mit Hilfe ihrer Hände vollendeten.‘ Casanova sah in ihr nur noch ‚eine schamlose Prostituierte‘. Er wollte sich rächen, doch ‚die Entschlüsse, die man im Zorn oder auch nur in einem Augenblick des Verdrusses faßt, halten meistens einem Schlaf von einigen Stunden nicht stand.‘ Doch mit ‚»Ich liebe Sie nicht«‘ nahm sie ihm den Wind aus den Segeln. Er gestand sich ein, dass ihr Verhalten zwar schamlos war, aber nicht mehr als seines berechtigt war. ‚Niemals habe ich mich in größerer Aufregung befunden‘, konstatierte er.
Casanova reiste mit einer Peote nach Fiume ab, doch ein Sturm zwang den Schiffsführer, nach Ancona zurückzukehren. Die Matrosen schleppten sein Gepäck ohne Auftrag zu Mardochai zurück. Doch Lia suchte ihn nicht auf, schützte vielleicht Kopfschmerzen vor. Casanova notierte: ‚Ich hatte solche in Spaa, in Genua, in London und sogar in Venedig gekannt; aber diese Israelitin übertraf alles, was ich bis dahin in dieser Art kennen gelernt hatte.‘ Lia rechtfertigte sich: ‚Zunächst gestand sie all ihr Unrecht ein; dann aber sagte sie, in meinem Alter und mit meiner Erfahrung müßte ich einem achtzehnjährigen jungen Mädchen verzeihen, daß es, von einem glühenden Temperament und von einer unwiderstehlichen Neigung zu den Freuden der Liebe fortgerissen, nicht imstande gewesen wäre, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Dieser verhängnisvollen Schwäche müßte ich alles verzeihen, sogar ein Verbrechen; denn selbst wenn sie sich eines solchen schuldig machen sollte, so geschähe es nur, weil sie sich selber nicht in der Gewalt hätte.‘ ‚»Ich schwöre Ihnen, daß ich Sie liebe!« rief sie.‘ Sie behauptete, Casanova hätte mit seinen ‚Bildern und Ihren Likörweinen meinen Leib in Flammen gesetzt‘, daher hätte sie einen jungen Christen für seine Dienste bezahlt. Er gestand ein, ihr ‚unrecht getan zu haben, indem ich ihr die geilen Bilder zum Aretino gezeigt hätte, und sagte, es täte mir sehr leid, daß sie das Unglück hätte, ihrem Temperament nicht widerstehen zu können.‘ In Wirklichkeit hatte er jedoch vor, ‚ihren vorauszusehenden Angriff abzuwarten, um sie durch dessen Zurückweisung auf das tiefste zu demütigen.‘ Doch: ‚Wider mein Erwarten ging sie plötzlich hinaus, indem sie mir gute Nacht wünschte.‘ Casanova fürchtete so sehr, doch noch von ihr verführt zu werden, dass er (vergeblich) eine Prostituierte zu finden suchte, und indem er sein Zimmer verriegelte.
Doch öffnete er ihr schließlich die Tür und: ‚In einem kurzen Augenblick, den ihre heißen Liebkosungen mir zum Nachdenken frei ließen, erkannte ich, daß ich ein anmaßender Tor war, daß Lia sehr klug war und daß sie die menschliche Natur unendlich besser kannte als ich.‘ ‚Der Genuß, der mir zuteil wurde, erschien mir völlig neu. Ich fühlte mich wieder kräftig wie vor zwanzig Jahren, aber ich besaß das verständige Zartgefühl meines Alters und beschloß daher, meinem Genuß erst dann den Höhepunkt erreichen zu lassen, wenn ich es durchaus nicht länger zurückhalten könnte. So sparte ich meine Kräfte, indem ich Lia schonte, die ich bis morgens drei Uhr an mich gepreßt hielt. Als ich sie losließ, war sie von Wollust überströmt und völlig erschöpft, und auch ich konnte nicht mehr.‘
Dabei fand er sie als Jungfrau vor, während er sie bei dem nächtlichen Anblick für eine Prostituierte gehalten hatte, die im Einverständnis mit ihrem Vater handelte. Sie bat Casanova nun, so lange wie möglich zu bleiben. Dieser wollte ‚auf einem neapolitanischen Kriegsschiff segeln …, das nach Beendigung der Quarantäne nach Triest fahren mußte‘, also erst nach einem Monat. Er hatte ‚immer geglaubt – vielleicht allerdings mit Unrecht – daß es dem Juden nicht unbekannt war, daß seine Tochter mir ihre Huld schenkte‘. Wieder mutmaßte er: ‚In dieser Hinsicht sind die Juden im allgemeinen nicht heikel; denn da die Frucht, die ein solches Verhältnis vielleicht trägt, unter allen Umständen israelitisch bleibt, so sind sie der Meinung, daß sie einen Christen betrügen, wenn sie ihn gewähren lassen.‘ Sie dankte dem Sturm und sie ‚schliefen alle Nächte beieinander, sogar in jenen Nächten, während welcher Moses bei Strafe des Fluches den Frauen verboten hat, sich der Liebe hinzugeben.‘ ‚Ich wollte meine teure Lia nicht in die Lage bringen, daß sie unsere Vereinigung bereuen müßte.‘ Sechs Jahre später sollte er sie in Pesaro wiedersehen.
In Triest ging er zum Juden Moses Levi, um ihm einen Brief von seinem Freund Mardochai zu überbringen. ‚Levi war ein kluger, liebenswürdiger und sehr wohlhabender Mann‘ (6, 25). Der Brief Mardochais war voll des Lobes über Casanova, und er wollte für 100 Zechinen aufkommen. ‚Dieses Vorgehen Mardochais erfüllte mich mit tiefer Dankbarkeit und versöhnte mich sozusagen mit den Juden. Ich hielt mich für verpflichtet, ihm einen Danksagungsbrief zu schreiben und ihm … meinen Einfluß in Venedig zur Verfügung zu stellen.‘
In Triest, wo Casanova sich ab dem ab 15. November 1772 aufhielt, sortierte er zehn Tage lang seine Papiere, die in Bezug zu den von ihm selbst vorhergesagten Teilungen Polens standen, über die er ein Geschichtswerk verfassen wollte. Diese Istoria delle turbolenze della Polonia erschienen bei De’ Valeri in Görz. Von diesem Werk wurden nur die ersten drei Bände 1774 publiziert. Erst die Wiederentdeckung des vierten Bandes durch Giampiero Bozzolato ermöglichte auch die Veröffentlichung des letzten Bandes nach zwei Jahrhunderten. Casanova begründete dies so: ‚Ich habe … nur die ersten drei Bände veröffentlicht, weil der spitzbübische Drucker die vereinbarten Bedingungen nicht einhielt. Man wird nach meinem Tode das Manuskript der letzten vier Bände vorfinden, und wer meine Papiere erhält, kann sie veröffentlichen, wenn er Lust hat.‘
Der Umsturz in Polen sei geschehen, weil die ‚Familie der Czartoryski von dem Grafen Brühl, dem Premierminister des Königs August, gedemütigt worden‘ war. Diese Familie widmete sich nur noch der Rache, und so richtete der ‚Woiwode von Rußland, Fürst August Czartoryski, sein unglückliches Vaterland zugrunde‘ (6, 25). Casanova selbst ‚sagte damals dem Woiwoden: der bewilligte Titel [eines Königs von Polen] gebe ein wirkliches Recht, und das Versprechen, niemals davon Gebrauch machen zu wollen, sei illusorisch‘. ‚Dieselben Herrscher, die damals Polen zerstückelten, haben im vorigen Jahr das Ganze an sich genommen.‘ ‚Ehrgeiz, Rachsucht und Dummheit richteten also Polen zugrunde, vor allem aber die Dummheit.‘ Dabei zog er eine Analogie zu seiner Heimatstadt: ‚Venedig existiert heute nur noch zu seiner ewigen Schande.‘ Auch Ludwig XVI. sei durch seine Dummheit zugrunde gegangen.
Am 1. Dezember lernte er Piero Zaguri kennen, einen 35 bis 40 Jahre alten, ‚elegant gekleideten schönen Mann‘. Ihm als Avogador war es eigentlich verboten, Venedig zu verlassen, aber er wollte Casanova damit zeigen, wie sehr ihm sein Schicksal am Herzen lag. Der 30 Jahre ältere Konsul Marco Monti war, ähnlich wie Casanova, ein guter Gesellschafter, und so wurden sie geradezu zu ‚Nebenbuhlern im Anekdotenwettkampf.‘ Er freute sich über die neue Freundschaft, zumal Casanova ‚von der Krankheit ergriffen war, die die Schweizer und Deutschen Heimweh nennen.‘ ‚Für die Schweizer und Slawonier ist das Heimweh eine tödliche Krankheit, eine wahre Pest, die sie schnell hinwegrafft, wenn man sie nicht unverzüglich ihren Penaten wieder zuführt. Die Deutschen leiden ebenfalls leicht an Heimweh; denn sie sind Ofenhocker; von allen Völkern leiden die Franzosen und nach ihnen die Italiener am wenigsten an Heimweh.‘ Casanova nannte Venedig seine ‚grausame Stiefmutter‘.
Wie überall, so lernte er auch in Görz, wo er vom August bis 31. Dezember 1773 war, die gehobene Gesellschaft kennen. Dort ließ er sein Buch über Polen drucken. Auch lernte er einen Morelli kennen, der eine Geschichte der Stadt geschrieben hatte.[124] Casanova las sein Manuskript gegen, gab jedoch vor, nichts Veränderungswürdiges gefunden zu haben, womit er die Freundschaft des Autors gewann.
In Triest wiederum war es der Baron Pittoni, der ihn in die Gesellschaft einführte. Dieser war 10, 12 Jahre jünger als Casanova. Er war ‚faul und gleichgültig und häufig in einem unverzeihlichen Grade zerstreut; dies ging so weit, daß er oft sogar wichtige Amtsgeschäfte vergaß.‘
Casanova sah den Prokurator Morosini wieder, den er seit fünfzig Jahren kannte, und der ihn in Paris Marschall Richelieu vorgestellt hatte. Doch Casanova musste ‚sparsam sein, denn meine sicheren Einnahmen betrugen nur fünfzehn Zechinen im Monat.‘ Er genoss es, eingeladen zu werden, spielte nicht, die ‚Freuden der Liebe genoß ich nur hie und da, lediglich um das Bedürfnis zu befriedigen; ich nahm meine Börse und noch mehr meine Gesundheit in acht.‘
Es gelang ihm in Triest, für gute Beziehungen zwischen Österreich und Venedig zu werben, und zwar durch einen Erfolg und einen Misserfolg. So erreichte er, dass die Post von Triest nach Mestre auch Udine berührte. Dazu formulierte Casanova eine Denkschrift. Tatsächlich folgte man in Triest deren Argumentation, und Casanova brachte eine Abschrift des Beschlusses dem venezianischen Konsul. Der Sekretär des Tribunals befahl, dem Verfasser ‚eine Belohnung von hundert Silberdukaten auszuzahlen, das sind vierhundert Franken‘ (6, 25). Falls er ‚in der großen Angelegenheit der Armenier Erfolg hätte‘, könne er gar alles erhoffen, wurde ihm mitgeteilt. Es waren nämlich vier armenische Mönche nach Wien geflohen, und sie fassten den Plan, alle armenischen Publikationen im Osmanischen Reich zu übernehmen. Dies sollte im österreichischen Triest geschehen, wo sie sich bereits seit sechs Monaten aufhielten. Zunächst knüpfte Casanova freundschaftliche Bande mit den Mönchen an. Unter anderem ging es bei deren Streit mit ihrem Abt um 400.000 Dukaten, die ‚das Grundvermögen des Klosters San Lazzaro [bildeten], das die armenischen Basilianer seit dreihundert Jahren in Venedig unterhielten‘. Der Abt hatte dies gewaltige Vermögen als Kredit zu 4 % an Serpos vergeben, damit entfremdet. ‚Marchese Serpos, ein armenischer Kaufmann, der in Venedig ein großes Juwelengeschäft betrieb, war ein intimer Freund des Abtes.‘ Letztlich scheiterte das Vorhaben der Aussöhnung, was für Casanova zur Folge hatte, dass er in Triest bleiben konnte, wo die Druckerei eingerichtet wurde, nämlich im für 30.000 Gulden erworbenen Haus des Stadtrates Rizzi, der seinerzeit gegen den Post-Plan gewesen war. Gleichzeitig war in Venedig Casanovas Bemühen positiv vermerkt worden.
Graf Wagensperg (1724–1773), ab Frühjahr 1773 neuer Statthalter von Triest und bald mit Casanova befreundet,[125] bot diesem eine weitere Gelegenheit, sich beim venezianischen Regiment Freunde zu machen. In Österreich hatte man den Plan ins Auge gefasst, den Händlern den Weg durch das venezianische Gebiet zu untersagen, um stattdessen in Mezzola, das zu Modena gehörte, alle Waren in die Lombardei zu verschiffen. Damit wären Venedig nicht nur das Stapelrecht entgangen, sondern auch 4 % des Warenwertes, der üblicherweise zu entrichten war. Modena verlangte weniger als 1 %. Casanova sollte seine Quelle verschweigen, aber in Venedig eilig dafür Sorge tragen, dass die Abgaben halbiert würden. Dann würde alles bleiben, wie es ist. Nach der Gegenlektüre durch Wagensperg schickte Casanova ein entsprechendes Schreiben an die Staatsinquisitoren. Das Schreiben ging versiegelt an den ‚Herrn Marcantonio Businello, einen Bruder desjenigen, während dessen Amtsdauer ich vor siebzehn Jahren aus den Bleikammern entflohen war‘. So erhielt der eingeweihte ‚Konsul vom Sekretär des Tribunals brieflich den Befehl, mir abermals eine Belohnung von hundert Silberdukaten auszuzahlen und mir monatlich zehn Zechinen zu geben, um mich zu neuem Eifer für den Dienst des Tribunals zu ermutigen.‘ Dies ermöglichte Casanova wieder ‚gewisse Vergnügungen, die ich nicht entbehren konnte‘. Er blieb aber auf der Hut und lehnte die Einladung auf ein venezianisches Kriegsschiff ab.
Nach Monaten einer ‚harten Entbehrungszeit‘ hatte er erstmals wieder mit einer Frau Verkehr, nämlich mit der Magd des verschuldeten Grafen Strasolo, einer Krainerin namens Leuzika, die nicht mit dem Grafen nach Wien gehen wollte. Seit ‚Lia hatte ich nur flüchtige Freuden gehabt, die nur eine Viertelstunde dauern und stets einen unangenehmen Nachgeschmack haben.‘ Casanova ermöglichte es ihr (nach zwei Nächten), nach Laibach zu fahren. Strasoldo ging nach Lemberg, musste aber wegen Unterschlagungen fliehen und konvertierte schließlich in der Türkei zum Islam.
‚Die Triester Damen bekamen Lust, ihre Talente in der französischen Komödie zu versuchen, und erwählten mich zum Direktor und Oberregisseur.‘ Doch dies scheiterte, so war Casanova überzeugt, an der fehlenden Bildung, der Unfähigkeit sich Texte zu merken, an der Bequemlichkeit der ‚Neulinge‘.
Eine der Bedienten, eine ‚schöne Negerin‘, die Casanovas Neugier geweckt hatte, ‚ergab sich‘ ihm. Sie sagte ihm, sie würde jederzeit einem Schwarzen den Vorzug geben. Für sie war der Teufel weiß. Dies veranlasste Casanova zu einer höchst seltsamen Einlassung: ‚Es ist nach meiner Meinung nicht zweifelhaft, daß die Neger eine von der unsrigen völlig verschiedene Säugetiergattung sind. Abgesehen von der Farbe besteht der Unterschied, daß eine erfahrene Afrikanerin es in ihrem Belieben hat, bei der Begattung zu empfangen oder nicht, und nicht nur dies, sondern daß sie sogar nach ihrem Belieben ein männliches oder ein weibliches Kind empfangen kann. Wenn meine Leser mir diese Behauptung nicht glauben wollen, so haben sie recht; denn wenn wir nach unserer eigenen Natur urteilen, ist die Sache unglaublich; aber man würde nicht mehr ungläubig sein, wenn ich die Theorie dieser melanthropogenesischen Wissenschaft der Negerinnen auseinandersetzte.‘
Mit dem Grafen (Luigi) Torriani (1741–1794) in Spessa,[126] der seine Bauern tyrannisierte und ihn ständig brüskierte, kam es nach zwei Monaten beinahe zum Duell, nachdem Torriani eine Witwe, mit der Casanova acht Nächte verbracht, verprügelt hatte. Doch kehrten die beiden Männer die Sache unter den Teppich und sie fuhren wieder nach Görz. Der Graf starb ‚in Wahnsinn und Armut‘. Immer wieder taucht diese Art von „gerechter Strafe“ bei Casanova auf (tatsächlich mussten die Torriani ihr Gut Anfang des 19. Jahrhunderts verkaufen).
Schließlich musste er nach Triest zurückkehren, da sich beim Rat der Zehn in Venedig eine ihm günstige Besetzung der dortigen Posten ergeben hatte. ‚Ich rechnete darauf, von meinen Talenten leben zu können, und keinem Unglück mehr ausgesetzt zu sein, da ich über eine große Erfahrung verfügte und an keiner der Eitelkeiten mehr krankte, die mich vielleicht in den Abgrund hätten stürzen können.‘ So verließ er Görz am 31. Dezember 1773 und nahm am 1. Januar ein Zimmer am Triester Marktplatz. Nun konnte er den zweiten Band seiner polnischen Geschichte publizieren. Dort traf er auch ‚Irena, die Tochter des angeblichen Grafen Rinaldi‘, die er zuletzt vor elf Jahren gesehen hatte. Sie war Schauspielerin geworden und betrieb das streng verbotene Glücksspiel. Dies war der Grund, warum sie Triest mitsamt ihrer neunjährigen Tochter verlassen musste. ‚Drei Jahre später fand ich sie in Padua mit ihrer Tochter wieder, die ein reizendes Mädchen geworden war und mit der ich das zärtlichste Verhältnis erneuerte.‘
Casanovas Begnadigung aufgrund seiner jüngsten Verdienste sowie seiner Confutazione erfolgte am 3. September 1774. Die Mitteilung erreichte ihm am 10. September.
Mit seiner Heimkehr nach 18 Jahren brechen Casanovas Memoiren im Sommer 1774 ab, doch lassen andere Quellen die weitere Verfolgung seines Lebensweges zu. Darunter ist vor allem seine reiche Briefsammlung zu nennen, aber auch zahlreiche Dokumente aus dem Archiv von Dux und dem Staatsarchiv Venedig.
Am 14. September 1774 traf er in Venedig ein, am 18. stellte er sich Marcantonio Businello vor, dem Sekretär des Inquisitionsgerichtshofs. Die drei Inquisitoren Francesco Grimani, Francesco Sagredo und Paolo Bembo luden ihn ein, von seiner Flucht aus dem Bleikammern zu berichten.
Allerdings lebten viele seiner Freunde nicht mehr, vor allem sein Gönner Bragadin. Er war zwar frei, doch drohte ihm die Verarmung. Andererseits war er nicht bereit, an literarischen Werken mitzuarbeiten oder sich als Agent des Landgrafen von Hessen-Kassel zu verdingen. Er sah Giustina de Wynne wieder, die Witwe des Grafen Rosenberg, doch erneuerten sie nicht ihre Freundschaft. Auch sah er Callimena und Marcolina wieder, dann seinen Mitflüchtling Balbi, Doktor Gozzi. Seine Bettina starb 1776 (nach Damrosch hingegen: 1777) in seinen Armen, nur 24 Stunden nach seiner Ankunft. Auch notierte Casanova Angela Toselli, die einen Advokaten geheiratet hatte, und deren gemeinsame Tochter Maria Rizzotti nach Wien ging. Ihre Briefe blieben in Dux erhalten. Die beiden Nonnen von Murano traf er wieder, wobei ‚M. M.‘ eine verarmte Witwe war. Die Binetti, die Casanovas Leben so sehr beeinflusst hatte, tanzte in Venedig zwischen 1769 und 1780 häufig.
Im Haus von Andrea und Bernardo Memmo lernte er Lorenzo Da Ponte kennen. Diese und Zaguri sahen über die nach Casanova perversen Anteile seiner Natur hinweg. Auch von ihm erhielten sich in Dux zahlreiche Briefe. Darüber hinaus lernte er bei Zaguri Ende 1774 den Librettisten und Dichter Caterino Mazzolà kennen, von dem noch ein Brief von 1792 in Dux entdeckt wurde.[127] Irene Rinaldi traf er in Padua 1777 wieder, und ihre Freundschaft wurde auf das zärtlichste erneuert. In Pesaro schließlich traf er auch Lia wieder.
Doch materiell brachte all dies keine Vorteile. So versuchte er verstärkt, sich mit Hilfe seiner Feder zu ernähren. 1775 bis 1778 veröffentlichte er drei Bände einer Übersetzung der Ilias ins Italienische, an der er immer mal wieder gearbeitet hatte, die aber wenig Beachtung fand, zumal er selbst zwar Latein, aber nicht ausreichend Griechisch beherrschte – auch wenn er behauptete, die Ilias in der Ursprache gelesen zu haben. So blieb der abschließende 4. Band ungeschrieben, obwohl sich 339 Autoren innerhalb und außerhalb Italiens beteiligten. In Dux fand sich noch eine Venezianische Version des 18. Gesangs.
Mangels anderer Möglichkeiten, Geld zu verdienen, ließ er sich Anfang 1776 als Spitzel der Staatsinquisition gewinnen. Seine 48 Berichte unterzeichnete er mit dem Decknamen Antonio Pratolini. Zunächst erhielt er nur gelegentliche Aufträge, doch ab dem 7. Oktober 1780 wurde er mit einem festen Salär von 15 Dukaten pro Monat ausgestattet. Dabei waren es keineswegs besonders wichtige Aufträge, die er erhielt. Immerhin misstrauten die Inquisitoren dem römischen Konsul Agostino Del Bene, doch auch nach drei Wochen der Reisebegleitung in der Romagna hatte Casanova nichts Wesentliches zu berichten. Im Staatsarchiv Venedig (Inquisitori di Stato, busta 565) liegen heute etwa 50 seiner riferte, seiner Berichte. Doch findet sich nichts Erhellendes darin, außer, dass er sich um den Sittenverfall insbesondere am Theater sorgte, um den Handel, die öffentliche Sicherheit (Schreiben vom 28. Oktober 1780). Die Zuarbeit für die Staatsinquisition mit regelmäßiger Bezahlung dauerte bis Ende 1781. Von da an erhielt er nur noch Geld für wichtige Nachrichten. Bei einer seiner Auftragsreisen, der von 1779 nach Ancona, bei der er die Handelsbeziehungen ausloten sollte, traf er in Forlì die Binetti. Im Januar 1780 vermerkte Casanova heimliche Rekrutierungsversuche durch einen gewissen Marrazzani in preußischem Auftrag. Sein Bericht vom Dezember 1776 hatte zur Folge, dass Shakespeares Stück Coriolanus nicht aufgeführt werden durfte.
Nirgendwo sonst, außer in ihren in Dux erhaltenen Briefen, erscheint die junge Francesca Buschini. Die Briefe, auf Venezianisch verfasst, reichen vom Juli 1779 bis Oktober 1787; dabei wiederholte sie stets in eigenen Worten die Briefe Casanovas. Sie war seine letzte venezianische Liebe. Mit ihr mietete er ein Häuschen in der Barbaria delle Tole bei Santa Giustina in Castello, und zwar von den Pesaro di San Stae. Sie vermisste in einem Brief die Theater- und Opernbesuche, die sie mit Casanova unternommen hatte, aber er konnte ihr nicht verzeihen, dass sie aus Not eines seiner Bücher verkauft hatte. Ihre letzten beiden Briefe beantwortete er trotz Entschuldigungen nie.
Den Hochstapler Alessandro Cagliostro und seine schöne Schwester Serafina, die er bereits 1769 in Aix kennengelernt hatte, traf er im Juni 1778. Er hatte Cagliostro vor der öffentlichen Missachtung der Religion gewarnt, zumindest in Rom, das er besser meiden sollte.
Im Sommer 1779 erschien – vielleicht auf Anordnung der Staatsinquisitoren[128] – ein Büchlein Casanovas gegen den im Jahr zuvor verstorbenen Voltaire mit dem Titel Scrutinio del libro: Eloges de M. de Voltaire par differens auteurs.[129] Es war dem Dogen Paolo Renier gewidmet und wurde scharf kritisiert. 1781 stellte er ein Verzeichnis verbotener Bücher zusammen, die er jeweils selbst kommentierte. Casanova selbst wünschte, dass er als Literat Aufmerksamkeit erregte, nicht nur wegen Skandalen, Flucht und Duellen, wie ein Schriftstück aus Dux belegt.[130]
Der Versuch des Jahres 1780, eine Monatszeitschrift zu gründen, die Opuscoli miscellanei hieß, und in der nur er schrieb, misslang – zwischen Januar und Juli 1780 erschienen nur sieben Ausgaben.[131]
Ebenso misslang seine Tätigkeit als Theaterdirektor. Er versuchte vergebens einen Ableger der Comédie-Française in Venedig zu gründen, analog zur italienischen Commedia in Paris. Die erste Aufführung fand im Teatro Sant’Angelo am 7. Oktober 1780 statt, und zwar ausgerechnet mit einem Werk Voltaires, nämlich (Zaïre). Bis zum Karneval des nächsten Jahres unterstützte Casanova die Aufführungen mit einer Art Programmheft, dem Le Messager de Thalie (Oktober 1780 bis Januar 1781).
Ein Tiefpunkt war nach zahllosen Rückschlägen schließlich die 1782 publizierte Satire Né amori né donne, ovvero La stalla ripulita (Weder Liebschaften noch Frauen, oder der Ausgeräumte Stall) gegen venezianische Adlige, insbesondere gegen Giovanni Carlo Grimani, bei dem er häufig zu Gast gewesen war. Casanova behauptete, als mythologische Erzählung verpackt, Sohn Michele Grimanis zu sein, während jener gar nicht der Vater von Giovanni Carlo Grimani sei. Dabei schien sich seine Lage zu bessern, als er eine Anstellung als Sekretär des Marquis Carlo Spinola erhalten hatte, eines genuesischen Diplomaten. Nachdem er mit einem Grafen Carletti vereinbart hatte, ihm die 250 Dukaten zu beschaffen, die er Spinola schuldete, er aber die vereinbarte Provision nicht erhalten hatte, kam es im Haus Grimanis zu einem Streit, in dessen Verlauf Casanova von Carletti und Grimani beleidigt und gedemütigt wurde.
Im September 1782 reiste er nach Triest und passierte im Juni 1783 nur noch für wenige Stunden auf der Durchreise Venedig, ohne das Schiff zu verlassen. Er ließ sich nicht die Gelegenheit für eine kleine Rache nehmen. Es gelang ihm, einen Brief in die Unterlagen des venezianischen Gesandten zu schmuggeln, in dem für den 25. Mai 1783 ein Erdbeben vorhergesagt wurde. Bei Venedigs Adel löste dies eine Panik aus.
Im Juni war er wieder in Udine, warf am 24. Juni noch einen letzten Blick auf Venedig. Am 25. verließ er Bassano, spätestens am 29. war er wieder in Augsburg. Um den 16. Juli war er in Aachen. Dort hatte er Pocchinis Frau, Cattina, getroffen, der er jedoch jede Hilfe verweigerte. In Mainz schiffte er sich auf den Rhein ein, erreichte nach zwei Tagen Köln, wobei er mit dem Marquis Durazzo, dem ehemaligen Botschafter Österreichs in Venedig reiste. Am 30. Juli erreichte er Spa, spätestens am 6. September Antwerpen. Von diesen Reisen wissen wir nur durch die in Dux verbliebenen Briefe von Francesca. Sie überbrachte dem Prokurator Morosini einen Brief, doch verweigerte er jede Reaktion. Über Pietro Zaguri schrieb sie, er habe an Casanova in Spa geschrieben, doch habe er keine Antwort erhalten.
Nun reiste er nach Paris, wo er in der Nacht vom 18. auf den 19. September 1783 ankam. Zwar wurde er von seinem Bruder und seiner Schwägerin freundlich empfangen, aber die meisten seiner Freunde waren längst tot. Auch konnte er Francesca 150 Lire schicken, doch seine anfängliche Euphorie schwand schnell. Seinen Sohn von Frau Dubois, der inzwischen 21 war, traf er in Fontainebleau.
Wenige Tage, nachdem d’Alembert gestorben war, traf er Anfang November 1783 Benjamin Franklin. Er wunderte sich, dass dieser glaubte, man könne einem Fluggerät vielleicht eine andere Richtung verleihen, als die des Windes. Zusammen mit seinem Bruder, ohne dessen Frau, verließ er am 13. November zum letzten Mal Paris.
In Frankfurt hatte ihn ein betrunkener Postillon umgeworfen, wobei er sich die Schulter auskugelte. Doch ein guter Knochenrichter half ihm. Am 1. Dezember fühlte er sich geheilt. Um den 7. Dezember erreichte er Wien. Am 31. Dezember 1783 schrieb Francesca, dass sie sich wundere, wie er bei der Kälte noch immer so weite Reisen unternehmen könne, als wäre das nichts. Am 9. Januar 1784 schrieb er an seinen Bruder Giovanni aus Dessau; doch auch dieser Versuch zu einem Frieden zu kommen, scheiterte. Am 27. war er wieder in Prag, am 16. Februar nach einer 62-tägigen Reise wieder in Wien. In Dresden erschien 1797 sein Werk A Leonard Snetlage, in Prag Soliloque d’un penseur und Jcosameron ou Histoire d’Edouard et d’Elisabeth.
Im Februar 1784 wurde er Sekretär des venezianischen Gesandten, des am 20. Oktober 1781 in Wien angekommenen,[132] 70-jährigen Sebastiano Foscarini.[133]
Casanova veröffentlichte Artikel im gerade in Triest gegründeten Osservatore Triestino. Foscarini wunderte sich, dass Casanova immer noch Menuette und Quadrillen tanzte. Francesca bemerkt in einem Brief vom 3. April 1784, er habe sich mit zwei Damen vergnügt.
Am 14. April erwähnt sie Casanovas Wunsch, auch einmal mit einem Ballon zu fliegen, wie er ihn, bemannt mit sechs Leuten, gesehen hatte. Am 5. Mai hoffte sie, es sei ein Scherz, dass er nach Triest und von dort zu ihr nach Venedig fliegen wolle. Nun aber trennte er sich von ihr, er hing nicht mehr sehr am Leben, war eifersüchtig, sie schickte ihm vergebens drei Briefe – erst 18 Monate später schrieb er wieder. Er hätte wieder einmal beinahe ein junges Mädchen geheiratet, wie er sich erinnert. Möglicherweise handelte es sich um eine „C. M.“, die in einem Gedicht auftaucht, das später in Dux gefunden worden ist, und von der Briefe mit dem Absender „Caton M.“ erhalten sind (April bis Juli 1786).
In Wien traf er Gioachino Costa nach 24 Jahren wieder, der ihn bestohlen und der selbst betrogen worden war. Wie Da Ponte lebhaft berichtet, stürzte sich Casanova auf ihn, nachdem er ihn wiedererkannt hatte. Er beruhigte sich aber nach einem Gedicht Costas, in dem er Casanova als seinen Lehrmeister bezeichnete.
Doch nun starb am 23. April 1785 Foscarini und Casanova war schlagartig wieder ohne Einkünfte. Was ihn aufrecht hielt, war sein literarisches Schaffen und seine Korrespondenz, nachdem auch seine Bewerbung bei jenem Grafen Fabris (Toniolo) vergebens war.
Am 30. Juli erreichte Casanova Brünn, wo er Empfehlungsschreiben von Graf Lamberg an Johann Ferdinand Opiz erhielt, der für die Finanzen und die Banken in Čáslav verantwortlich war. Er war begeistert von Casanova, wie er schrieb, doch konnte er ihm nicht weiterhelfen. In Karlsbad traf er wieder jenen Grafen Zawoiski, mit dem er 1746 in Venedig gespielt hatte.
Noch in Foscarinis Haus hatte er nun Glück, denn dort hatte er im Februar 1784 Graf Joseph Karl Emanuel von Waldstein kennengelernt. Dieser hatte ihm, bis dahin vergebens, eine Stellung als Bibliothekar auf seinem Schloss Dux (Duchcov) angeboten, im Norden Böhmens gelegen. Casanova schlug 1785 bei einem Salär von tausend Dukaten ein. Im September 1785 kam er in Begleitung Waldsteins, den er in Teplitz (seinerzeit auch Töplitz) getroffen hatte, auf dem Schloss an.
Die letzten Jahre seines Lebens waren einerseits von Eintönigkeit und ständigem Streit mit den anderen Schlossbewohnern geprägt. Der Fürst de Ligne, ein Onkel des Grafen von Waldstein und der erste Leser der Histoire, beschrieb Casanovas Leben so:
„Es gab keinen Tag, an dem er sich nicht über seinen Kaffee, seine Milch oder den Teller Makkaroni beschwerte, den er täglich verlangte … Der Graf hatte ihm nicht als erster guten Morgen gewünscht. Die Suppe war ihm absichtlich zu heiß serviert worden. Ein Diener hatte ihn auf ein Getränk warten lassen. Er war einem berühmten Besucher nicht vorgestellt worden … Der Graf hatte ein Buch verliehen, ohne ihn davon zu verständigen. Ein Diener hatte nicht den Hut gezogen, als er an ihm vorüberging … Er hatte seine französischen Verse vorgezeigt, und jemand hatte gelacht. Er hatte gestikuliert, als er italienische Verse vortrug, und jemand hatte gelacht. Er hatte beim Betreten eines Raumes die Verbeugung gemacht, die ihm von dem berühmten Tanzlehrer Marcel vor sechzig Jahren beigebracht worden war, und jemand hatte gelacht.“
Andererseits korrespondierte Casanova weiterhin und er reiste nach wie vor. Im Juli 1786 nahm er seine Korrespondenz mit Francesca Buschini wieder auf, doch glaubte sie, er habe Anna-Dorothea Kleer verführt, die Tochter des Portiers in Dux. Das Mädchen war von einem Maler namens Schottner schwanger, den es heiratete. Am 5. Januar 1787 bedankte sich Francesca für einen Wechsel über 120 Lire. Unter dem 5. Oktober freute sie sich über den kaiserlichen Besuch auf Dux, wo sich zu dieser Zeit 40.000 Bücher befanden.[135]
Es wird seit 1822 behauptet, dass Casanova in Prag, wo er sich von Juli 1787 bis September 1788 aufhielt, mit Wolfgang Amadeus Mozart und dem Librettisten Lorenzo Da Ponte zusammengetroffen sei, als sie dort die Uraufführung der Oper Don Giovanni vorbereiteten. Casanova war mit dem aus Venedig stammenden Da Ponte befreundet und hat nach dessen Aussage zwar Textentwürfe beigesteuert, doch fanden sie keine Verwendung in der Oper. Die betreffenden Textvorschläge aus dem Jahr 1787 sind überliefert; sie fanden sich in Dux und befinden sich heute im Staatsarchiv Prag.[136] 1791 kam er zur Krönung Kaiser Leopolds II. nach Wien und traf dort 1792 zum letzten Mal Lorenzo Da Ponte.
1787 beendete er die Niederschrift der Histoire de ma fuite – im Vorwort der deutschen Ausgabe konstatiert er zehn Jahre später, er habe keine Zähne mehr und er könne daher die Geschichte nicht mehr erzählen, sondern sie nur noch niederschreiben, zumal ihn das Erzählen ermüde. Von Mai bis Juli 1788 hielt sich Casanova abermals in Prag auf, wo er die Veröffentlichung seines Fluchtberichts überwachte. In diesem Jahr erschien dort sein fast tausendseitiger, fünfbändiger utopischer Roman Icosaméron ou Histoire d’Edouard et d’Elisabeth. Im Oktober war er wieder in Dresden, wo zu dieser Zeit ein Gemälde von Antonio da Correggio gestohlen wurde. Er selbst wurde angehalten, sein Gepäck durchsucht, was ihn besonders empörte.
Von April bis Mai 1789 war Casanova ernsthaft krank. Kuriert wurde er diesmal von dem irischen Arzt O’Reilly (1763–1802).[137] Dieser riet ihm, zur Bekämpfung der Langeweile seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Doch im September 1789 war er wieder von einer Frau so gefangen, dass er schon fürchtete, eine zweite Charpillon zu erleben. Tatsächlich fanden sich unter den Briefen in Dux zwei Briefe von Marianne Charpillon.
1790 begann er mit der Niederschrift seiner Histoire, wobei er sich auf Capitulaires und Briefe stützte, also tagebuchartige Aufzeichnungen, die er sein Leben lang geführt hatte. Schon seit 1780 hatte er darüber nachgedacht, seine Biographie selbst zu schreiben. Neun Stunden am Tag arbeitete er durchschnittlich an seinen Erinnerungen. Nachdem er 1793 eine erste Fassung vollendet hatte, widmete er sich bis zu seinem Tod am 4. Juni 1798 der Überarbeitung des Textes.[138] Ob er die Ereignisse nach 1774 nicht mehr für berichtenswert hielt, ob er sie überhaupt begonnen hat, oder sie vielleicht selbst zerstört hat, oder sie aber verloren gingen, ist nicht bekannt. In jedem Falle hatte er sich der Feindseligkeiten des Gutsverwalters Georg Feldkirchner zu erwehren. Waldstein entließ ihn wegen seiner Streitigkeiten mit Casanova im Juli 1793.[139]
Die Französische Revolution lehnte Casanova entschieden ab, wie sich in seiner Schrift Raisonnement d’un spectateur sur le bouleversement de la monarchie française par la rèvolution de 1789 besonders deutlich erweist.[140] Zur Revolution, die er in seinen Erinnerungen immer wieder verurteilt, auch wenn er die Adelsherrschaft ebenso verachtete, verfasste er einen verschollenen Brief an Robespierre (1792), worin sich Casanova auf 120 Seiten mit der Revolution, den Jakobinern und der Hinrichtung des Königs auseinandersetzte.
Waldstein kehrte aus Paris zurück. Er bat sowohl Casanova als auch Opiz, der Mathematiker war, die Kalenderreform zu prüfen, die die Nationalversammlung am 5. Oktober 1793 verordnet hatte.
Im April 1791 kündigte Casanova in einem Brief an, er werde seine Memoiren in sechs Bänden und einem Zusatzband abfassen. Ebenso wie diese Idee bat er im selben Brief Carlo Grimani in Venedig um Verzeihung für sein Büchlein Ne amori ne donne. Zugleich schrieb er im Juni 1791 eine Tragikomödie für ein Theater in Teplitz mit dem Titel Le Polémoscope ou la Calomnie demasquée par la présence d’esprit, tragicomedie en trois actes.[141]
1790 beklagt sich Casanova in einem Brief über Schwindel, gegen den ihm Zaguri riet, zu reiten. Bei der Krönung Leopolds II., den er in Luxemburg getroffen hatte, traf er auf seinen Sohn und den seiner Tochter Leonilda. Letztere bot ihm 1792 an, den Rest seiner Tage bei ihr zu verbringen.
Am 13. Juni erhielt er von seinem Freund Lamberg, der eine gut Woche später verstarb, den letzten, mit zittriger Hand geschriebenen Brief. Allein von ihm zählte Casanova 460 Briefe, davon fanden sich 172 in Dux. Ende 1793 litt Casanova unter Niedergeschlagenheit. Die am 9. Januar 1788 einsetzende Korrespondenz mit Opiz endete am 17. Februar 1794 – immerhin 36 Briefe Casanovas und 33 von Opiz. Letzterer beendete den Briefwechsel nach einer Boshaftigkeit Casanovas.[142]
Seine letzten Reisen führten ihn 1795 nach Berlin und Thüringen, 1796 und schließlich von März bis April 1797 nach Dresden; ja, er trug sich sogar mit Plänen für Hamburg – von denen ihn sein Guter Geist abgehalten habe, wie er schreibt.
Am 10. Dezember starb sein Bruder Giovanni; er hinterließ vier Kinder, Teresa und Augusta, Carlo und Lorenzo. Giacomo versuchte zu helfen, schrieb mehrfach an Teresa. Sie lernte Don Antonio della Croce kennen, mit dem der Venezianer mehrfach so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, der sich aber in einem Brief vom August 1795 für fünfzig Jahre der Freundschaft bedankte. Zu seinem Glück heiratete sie einen von Wessenig. Sie lebte in Dresden bis 1842.
Als Casanova erfuhr, dass die Republik Venedig 1797 ein Ende fand, notierte er: „La république étoit malade, et on l’a laissé mourir de langueur pour épargner la médecine qui parût trop chère à l’hideuse avarice et inutile à la lâche prévoyance d’une politique désespérée et immorale.“ (sinngemäß: Die Republik war krank, und man ließ sie in Langmut sterben, um die Medizin zu sparen, die der hässlichen Habgier zu teuer und der feigen Voraussicht einer verzweifelten und unmoralischen Politik nutzlos erschien.) Spöttelnd bezeichnete er sich in einem Brief vom 4. Oktober 1797 als ‚neugebackenen Österreicher‘.[143]
Im April 1798 – er starb am 4. Juni, wohl an einem im Februar einsetzenden Blasenleiden – musste er die Überarbeitung seiner Memoiren unterbrechen. Auf dem Sterbebett, sein Neffe Carlo Angiolini war anwesend, soll er gesagt haben, er hätte wie ein Philosoph gelebt und sterbe nunmehr als Christ.
Er wurde in Dux auf dem Friedhof der Hl. Barbara bestattet. Der Ort, an dem sich sein Grab befand, ist heute allerdings unbekannt. Lediglich die Grabplatte wurde an der Außenmauer der noch existierenden Kapelle der heiligen Barbara angebracht.
Die Liste basiert auf den Ergebnissen der Fondazione Giacomo Casanova.[144]
Bis 1846 war weitgehend unklar, ob Casanovas Memoiren nicht eher fiktiver Natur waren, bis Friedrich W. Barthold die Angaben über historische Persönlichkeiten auf ihre Belegbarkeit aus anderen Quellen hin überprüfte. Seine geschichtlichen Persönlichkeiten beeinflussten die Wahrnehmung des Werkes überaus stark, denn sie kamen zu dem Ergebnis, dass Casanovas Angaben von „objektiver Treue und Wahrheit“ waren. In den nächsten Jahrzehnten belegten Dokumente aus dem Staatsarchiv Venedig weitere Angaben des Verfassers, erst Recht, nachdem ab 1880 die Archivalien auf Schloss Dux endlich erschlossen wurden.[147] Casanova hatte allerdings seine eigenen Tagebücher wohl vernichtet. Gustav Gugitz bemühte sich, Casanova Ungenauigkeiten nachzuweisen, dazu die Aneignung von Erlebnissen anderer.[148]
Childs’ Casanova-Gleanings veröffentlichten über Jahrzehnte Forschungsergebnisse der „Casanovistik“, der unterstellt wurde, sie versuche alles als zutreffend nachzuweisen, da Casanova den beteiligten Männern als eine Art Vorbild diente, nämlich für Rollen, die sie gern selbst einnehmen würden. Hermann Kesten bezeichnete ihn dementsprechend als einen der „gewaltigsten Selbstpropagandisten aller Zeiten“. Casanova hingegen schrieb selbst: ‚Ich unterhalte mich, weil ich nicht erfinde.‘ Auch verschwieg Casanova keineswegs die unangenehmen Seiten seines Charakters, sondern hoffte, dadurch die positiven besonders hervorzuheben. Allerdings wurde bis in die 1980er Jahre die Frage nach der Glaubwürdigkeit des weiblichen Verhaltens – äußerst seltene Eifersucht, Weiterreichung an einen Heiratswilligen, fortgesetzte Zuneigung trotz gebrochenen Eheversprechens, Ménages à trois – kaum gestellt.[149]
1930 berichtete Hermann Hesse[150] über einen drastischen Wandel in der Wahrnehmung der Memoiren, denn das bis dahin verteufelte, dennoch stark nachgefragte Werk wurde plötzlich nicht nur akzeptiert, sondern man war nunmehr vom kulturhistorischen Wert überzeugt.[151] Dieser Wechsel, spätestens zu seinem 200. Geburtstag öffentlich gemacht,[152] spiegelt sich auch in der literarischen und künstlerischen Verarbeitung wider. Casanova wurde zur „Projektionsfläche der Sehnsüchte der Bürgersöhne des Jungen Wiens, die sich ihres Epigonenstatus, ihrer Ohnmacht nur allzu bewusst“ wären.[153] Doch während Don Juan das weibliche Geschlecht hasst und zerstört, wird es von Casanova geliebt. Damit wird die Casanova-Rezeption zu einem Teil der „Explosion der Diskursivierung des Sexes seit dem 16. Jahrhundert“ (Foucault).[154]
Der Abenteurer fungiert als Träger eines antifamilialen Affekts ewiger Junggesellen, der dennoch immer wieder seine Geliebten in neue Familienverhältnisse vermittelt. Dahinter verbirgt sich der gesellschaftliche Diskurs um die Verschiedenheit weiblicher und männlicher Sexualität, die Entwicklung der Ethnologie und der Psychoanalyse. So schreibt Stefan Zweig 1928, Casanova habe „viele Frauen glücklich gemacht und keine hysterisch, alle kehren sie aus dem rein sinnlichen Abenteuer unbeschädigt in den Alltag zurück, entweder zu ihren Männern oder zu andern Geliebten“.[155]
Andererseits zeigte sich schon früh die Kritik an dem hedonistischen Lebemann, als der Casanova gleichfalls gedeutet wurde. Die Oberflächlichkeit wird zu seiner herausstechendsten Eigenschaft. Doch wieder liefert Casanova Figuren, wie Marcolina, die genauso selbstbewusst über ihre (lesbische) Sexualität verfügt, wie er selbst – was für die Zeiten einer Furcht vor einer Frauenherrschaft geradezu ein Affront war und in keinem Fall in das verbreitete antifeministische Weltbild passte. 2009 unternahm Klaus Seehafer mit Casanovas späte Liebe einen Versuch, einen Tag im Leben Casanovas im Jahr 1775 darzustellen, um daran Züge seiner Biografie aufzuzeigen.[156]
Am deutlichsten versuchte Federico Fellini 1976 in seinem Film Fellinis Casanova den „Helden“ vergangener Zeiten zu pathologisieren,[157] der schon im Zeitalter des Stummfilms den Stoff für simple Geschichten geboten hatte.[158] Bis 1976 wurden durchaus erfolgreiche Tonfilme gedreht, etwa 1947 mit Georges Guétary in Les Aventures de Casanova. 1971 wurde gar mit Casanova eine sechsteilige Fernsehserie mit Frank Finlay gedreht, doch 1976 zog der Stoff, auch wenn Tony Curtis in Casanova & Co. aufgeboten wurde, nur noch wenige Zuschauer an. 1981 entstand mit Casanova auf Schloss Dux eine DDR-Produktion mit Wolf Kaiser, angefüllt mit komödiantischen Szenen über den bis zum schlagartigen Tod auf Verführung Hoffenden. Diese lustspielartige Aufführung kontrastiert stark zum erstmals unter weiblicher Regie entstandenen Film Casanova in Dux,[159] der nicht nur die Verzweiflung des alten Mannes und die Etappen seines Lebens (verbal) auf die Bühne bringt, sondern auch Casanovas Erzählkunst, die überhaupt sein „Trick“ war, um Frauen zu verführen. Der Stoff des alten Mannes füllt, wie seit über einem Jahrhundert in der Literatur so häufig, auch den 1992 in Frankreich gedrehten Film Casanovas Rückkehr (mit Alain Delon). Allerdings stammte der Stoff von Arthur Schnitzler, nämlich aus dessen Werk Casanovas Heimfahrt, in dem Casanova zum Vergewaltiger und im Dienst der Inquisition zum Verräter an den Freigeistern wurde. Weitere Filme versuchten, die Bekanntheit des Namens zu nutzen oder den inzwischen gefragten Rokoko-Stoff auf die Bühne zu bringen.[160]
Dabei eilt der filmischen Verarbeitung die wissenschaftliche weit voraus. So wurde etwa Casanovas ambivalentes Verhältnis zur Gewalt, seine „triumphalistische“, vielleicht zeittypische Vorstellung von Sexualität, erst spät untersucht, zumal sie offenkundig Teil des Lesevergnügens war. Er selbst betont mehrfach, dass er Vergewaltigung ablehnte, denn nur das gemeinsame Vergnügen sei erstrebenswert – nie erfreut er sich am Leiden seiner Geliebten. Aber immer geht er davon aus, dass viele Frauen die Gewalt der Leidenschaft des Mannes spüren müssten, um sich auf diese Weise die eigene, entgegen der gesellschaftlichen Konvention und in Überwindung ihrer Ängste, eingestehen zu können. Die Frage des Einverständnisses stellt Casanova, der einem Zirkelschluss unterliegt, auf diese Weise nicht wirklich, auch wenn er durchaus Anklage wegen Vergewaltigung fürchtet, zudem die Rache der Angehörigen – wenn in dieser Zeit entsprechende Strafverfahren auch selten waren. Doch wo Einverständnis ist, kann nach Casanovas Auffassung kein Verbrechen sein. Da er in der Natur der Frau immer ein heimliches Einverständnis sah, wurde die Grenze zur Vergewaltigung leicht überschritten, besonders dann, wenn sie sich mit offenkundiger Abweisung verband, also – in seinen Augen – mit ihrem Stolz oder der Unfähigkeit, gar dem Unwillen, sich von gesellschaftlicher Konvention zu lösen. Dabei scheute er sich auch nicht, die Panik einer paralysierten Frau vor Blitzen auszunutzen, oder ihre Angst vor Entdeckung.
Um dies mit seiner Ablehnung von Gewalt zu versöhnen, brauchte er mehrfach das Einverständnis a posteriori oder zumindest gemeinsames Lachen, um vor dem Leser bestehen zu können. Bei der Charpillon musste er sogar Wahnsinn anführen, um sein Verhalten zu erklären, wenn schon nicht gut zu heißen. Bestrafen wollte er, indem er diese Frau zuerst verliebt machte, um sie dann die Qualen der Hölle fühlen zu lassen – was aber fehlschlug. Sie passte nicht in seine Vorstellung von der weiblichen Verweigerungsstrategie, da sie sich ihm trotz aller Versuche nie fügte und ihn dennoch dauernd herausforderte. So wäre er fast zum Mörder geworden, denn in so einer Situation konnte aus Liebe leicht Wut werden, wie er einräumt. Nur den besagten Stuhl lehnte er ab, um stattdessen über Selbstmord nachzudenken, während sie über seinen Versuch, sie öffentlich zu demütigen, nur lachte.[161]
Die Oper Casanova von Albert Lortzing, nach dem Vaudeville Casanova au Fort Saint-André von Charles Voirin, eine Verwechslungskomödie, wurde 1837 im Stadttheater Leipzig uraufgeführt, zwei Jahre später in Mainz eine Komödie mit dem Titel Casanova im Fort Saint-André von Karl August Lebrun. Dabei richtete sich zu dieser Zeit noch moralische Kritik gegen derlei Aufführungen, denn Casanovas „bloßer Name habe alles darin verunkeuscht“. Stellt Lebrun einen leichtfertigen Casanova auf die Bühne, so ist es bei Lortzing der freiheitsliebende. Die komische Oper nahm sich des Stoffes vielfach an, und noch während des Zweiten Weltkrieges konnte er der Unterhaltung und Propaganda dienen, vor allem in deutschsprachigen Aufführungen.[162]
Ähnlich wie in den Opern und Operetten der Nachkriegszeit, wuchs bis Ende des Jahrhunderts der Bedarf an der exemplarischen Entfaltung einer ganzen, als glanz- und prachtvoll imaginierten Epoche des Übergangs, ähnlich der eigenen Gegenwart. Dies gilt etwa für Casanova, ein Musical, uraufgeführt 1976 am Metropol-Theater Berlin. Das Stück gilt als erfolgreichste Aufführung des Autorenpaares Gerd Natschinski und Jürgen Degenhardt, Buch Helmut Bez, mit Fritz Hille als Casanova.[163] Ausdrücklich nicht den Klischees über Casanova und seine Epoche wollte sich Casanova – Giacomo brennt! von Paulus Hochgatterer (Text) und Matthias Bauer (Musik), uraufgeführt 2008 bei den Sommerspielen Melk widmen, sondern der komplexen Gestalt.[164]
Ein Werk Casanovas, nämlich seine Zoroastre-Übersetzung, wurde durch Gianni Di Capua 2017 unter dem Titel Zoroastro – Io, Giacomo Casanova auf die Bühne gebracht.[165]
Dieser Komplexität versucht Leo Damrosch: Adventurer. The Life and Times of Giacomo Casanova, erschienen im Jahr 2022, gerecht zu werden.[166] Wie schon Judith Summers 2006 festgestellt hatte, war Casanova „a seducer who, if he was operating today, might well be in prison for breach of promise, incest, fraud, pedophilia, grievous bodily harm, and rape“.[167] Er kommt zum Schluss, dass Casanovas Verhältnis zu Frauen in höchstem Maße manipulativ war, er sei ein Abenteurer und Spieler gewesen, damit Angehöriger einer Art von Subkulturen, die in ganz Europa präsent waren. Seine capitulaires, seine tagebuchartigen Notizen, trugen dazu bei, dass Casanova nicht nur auf sein Gedächtnis angewiesen war, was, wie immer in solchen Fällen, zu zahlreichen Irrtümern und Verwechslungen geführt hätte. Zudem verweist der Autor darauf, dass die meisten Biographien den letzten Jahren, da diese Jahre nicht in Casanovas Memoiren vorkommen, kaum eine Bedeutung zumaßen.[168] Damit bleibt Casanova in gewisser Weise statisch und ohne innere Entwicklung. Damrosch versucht wohl als Erster, dem Protagonisten in seiner ganzen Bandbreite über seine gesamte Lebensspanne hinweg gerecht zu werden.
Trotz der jahrzehntelangen Präsenz Casonovas in den seinerzeitigen Medien und an den Höfen waren lange nur wenige zeitgenössische Darstellungen bekannt. Anfang der 1750er Jahre fertigte sein Bruder Francesco eine Bleistiftskizze an (s. o.). Als Casanova 30 war entstand eine Miniatur, die Pierre Antoine Baudouin zugeschrieben wird, doch ist das Original verschollen. Mindestens zwei Medaillons mit versteckten Bildnissen Casanovas, die er auf Wunsch von „C. C.“ und „M. M.“ 1753 und 1754 anfertigen ließ, sind gleichfalls verschollen.
Immerhin existiert eine Gravur, die sein Werk Histoire de ma fuite des prisons de la République de Venise von 1787 schmückt, die Casanova zeigt, wie er vom Dach des Dogenpalasts steigt. Als Casanova 62 war, fertigte Jan Berka ein Werk an, das als Frontispiz des Icosameron diente. Schließlich kennen wir ein Bild des 71-Jährigen, das wiederum sein Bruder Francesco angefertigt hat.[169]
Inzwischen sind bis zu neun bildliche Darstellungen bekannt, das Werk Longhis wird inzwischen Anton Graff zugeschrieben; es entstand bereits um 1766, nicht erst 1774.[170]
An Brockhaus wurden mit der Histoire drei weitere Handschriften verkauft, nämlich:[171]
Die Zahl der Veröffentlichungen zu Casanova ist kaum noch zu überblicken. Einen Eindruck erhält man mit den Libri su Casanova der Fondazione Giacomo Casanova, archive.org, 7. April 2024.
Personendaten | |
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NAME | Casanova, Giacomo |
ALTERNATIVNAMEN | Casanova, Giacomo Girolamo (vollständiger Name); Casanova de Seingalt, Jacques; Seingalt, Chevalier de |
KURZBESCHREIBUNG | venezianischer Abenteurer und Schriftsteller |
GEBURTSDATUM | 2. April 1725 |
GEBURTSORT | Venedig |
STERBEDATUM | 4. Juni 1798 |
STERBEORT | Dux, Böhmen |