Gouvernante (von lat. gubernare, dt. lenken, leiten) ist eine veraltete Bezeichnung für Hauslehrerin oder Erzieherin. Der Begriff wird heutzutage nur noch selten benutzt und hat einen negativen Beiklang bekommen. „Gouvernantenhaft“ wird beispielsweise ein strenger, nicht unbedingt vorteilhaft wirkender Kleidungsstil genannt. In abgewandelter Bedeutung ist er heute noch in der Hotellerie gebräuchlich: Als Etagen-Gouvernante wird in der Schweiz die Hausdame bezeichnet, welche die Zimmermädchen in ihrer Arbeit anleitet.
Ursprünglich waren es Familien des Hochadels, die die Erziehung von Kleinkindern oder älteren Töchtern einer Gouvernante oder Hofmeisterin anvertrauten. In Großbritannien wurde es ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in bürgerlichen Kreisen üblich, eine Gouvernante zu beschäftigen. In Deutschland und Frankreich blieb die Anstellung einer Gouvernante dagegen vorwiegend auf Familien des Großbürgertums und des Adels begrenzt.
Für Frauen der gebildeten Mittelschicht war die Tätigkeit einer Gouvernante über zwei Jahrhunderte eine der wenigen Möglichkeiten, einen standesgemäßen Beruf auszuüben. Er wurde fast ausschließlich von Frauen ergriffen, die an einem bestimmten Punkt ihrer Biografie keinen Vater, Ehemann oder Bruder hatten, der für ihren Lebensunterhalt aufkam, und die daher für sich selbst sorgen mussten oder wollten. In Großbritannien sahen sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts so viele Frauen gezwungen, auf diese Weise ihren Broterwerb zu verdienen, dass man vom „Gouvernantenelend“ sprach. Darunter verstand man materielle Notlage, Kränkung des Selbstwertgefühls durch das geringe Ansehen dieses Berufes, Missachtung ihrer individuellen Bedürfnisse und den Kampf um einen standesgemäßen Beruf auf einem Arbeitsmarkt, der Frauen im Vergleich zu Männern nur sehr begrenzte Möglichkeiten bot. Entsprechend breiten Raum nimmt die Gouvernante in der englischen Literatur dieser Zeit ein. Romane wie Jane Eyre von Charlotte Brontë und Agnes Grey von deren Schwester Anne Brontë haben das Bild der Gouvernante bis heute geprägt. In anderen europäischen Ländern bedingten andere gesellschaftliche Verhältnisse und eine frühere Verschulung der Mädchenerziehung, dass sich der Beruf der Gouvernante nicht zu einem vergleichsweise starken Symbol spezifisch weiblicher Benachteiligung entwickelte.
Der Ausübung der Rolle der Gouvernante ging zumindest in Großbritannien lange Zeit keine pädagogische Ausbildung voraus. Allein die Abstammung aus einer „guten“ Familie begründete das Recht auf seine Ausübung. In Deutschland dagegen gab es erste Lehrerinnenseminare bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit zunehmendem Tempo entstanden weitere Ausbildungsstätten für Lehrerinnen, deren Absolventinnen häufig zeitweilig in Privathäusern arbeiteten. Sie wurden zunehmend häufiger als Erzieherinnen und Hauslehrerinnen bezeichnet. Die Gouvernante, die lange Zeit die erwerbstätige Frau in einem qualifizierten Beruf schlechthin verkörperte, steht deshalb auch für das Vordringen von Frauen in einen qualifizierten Erwerbsbereich, als die bürgerliche Vision der Geschlechterverhältnisse Frauen lediglich die Rolle der Gattin, Hausfrau und Mutter zustand.
Beispielhaft für Frauen, die zeitweilig als Gouvernante arbeiteten, sind die Schriftstellerinnen Anne und Charlotte Brontë, die Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner, die Chemie- und Physik-Nobelpreisträgerin Marie Curie, die Salonnière Henriette Herz, die deutschen Frauenrechtlerinnen Minna Cauer, Helene Lange, Auguste Schmidt, Franziska Tiburtius, Clara Zetkin und die Zoologin Katharina Heinroth.
Nicht viele Frauen, die als Gouvernanten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, haben eigene Zeugnisse und Quellen zu ihrem Leben hinterlassen. Bei den wenigen, von denen direkte Lebenszeugnisse der Nachwelt erhalten blieben, handelt es sich überwiegend entweder um Personen, die zu Ruhm gelangten oder mit Personen verwandt waren, die berühmt wurden. So weiß man, dass die Brontë-Schwestern ihre Arbeit als Gouvernanten hassten, ähnlich negativ waren die Erfahrungen von Eliza Bishop und Everina Wollstonecraft, den Schwestern der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft. Claire Clairmonts Erfahrungen als Gouvernante in einer russischen Familie kannte auch glückliche Momente. Insgesamt hasste sie es jedoch, ihr Leben mit einer Familie teilen zu müssen, mit der sie nichts gemeinsam hatte.[1]
Eine Ausnahme in dieser Quellensituation stellen die Aufzeichnungen der Gouvernanten Agnes Porter, Nelly Wheeton, Elizabeth Ham und Ellen Weeton dar. Agnes Porter arbeitete ausschließlich für die Familie des Earl of Ilchester, deren Wohnsitz im Besitz der Familie blieb. Ihre Tagebücher und Briefe wurden fast anderthalb Jahrhunderte nach ihrem Tod in einer Schublade gefunden und 1998 veröffentlicht. Nelly Wheetons Aufzeichnungen wurden auf einem Trödelmarkt entdeckt.[2] Die Tagebücher von Elisabeth Ham und Ellen Weeton, die beide in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden, geben Einblick in das Leben von Gouvernanten im Zeitraum 1810 bis 1820.[3] Daneben veröffentlichten im 19. Jahrhundert mehrere Frauen, die im Ausland als Gouvernante tätig gewesen waren und dabei so außergewöhnliche Erfahrungen sammeln konnten, dass sie auf ein breiteres Lesepublikum hoffen konnten, Autobiografien. Zu den bekanntesten Autoren diesen Genres dürfte Anna Leonowens zählen, die 1870 ihren Bericht über ihre Tätigkeit am Hofe in Siam veröffentlichte (The English Governess at the Siamese Court). Emmeline Lott veröffentlichte 1865 ihren Bericht über ihre Erfahrungen als Gouvernante des jüngsten Sohnes von Ismail Pascha (The English Governess in Egypt: Harem Life in Egypt and Constantinople).[4]
Einblicke in das Leben einer Gouvernante geben außerdem die Briefe, Tagebücher und Autobiografien von Personen, die von ihnen erzogen wurden. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erschien eine Reihe von Biografien, deren Autorinnen in einem Haushalt aufwuchsen, in dem eine Gouvernante arbeitete. Allerdings sind nach Ansicht der Historikerin Kathryn Hughes diese Biografien nicht nur von einem nostalgischen Blick auf eine Kindheit im Viktorianischen Zeitalter geprägt, sondern die Autorinnen entstammen überwiegend einer sehr privilegierten Schicht.[5] Die Lebenssituation von Gouvernanten wurde darüber hinaus in der Presse ihrer Zeit aufgegriffen. Insbesondere in Großbritannien wiesen Zeitungen häufig Kolumnen auf, in denen sie ihren Lesern Rat zu Fragen rund um die Beschäftigung einer Gouvernante boten. Daneben gab es eine umfangreiche Ratgeberliteratur, die sowohl für die Frauen, die diese Tätigkeit ergreifen wollten, als auch für ihre Arbeitgeber geschrieben wurde. Zu den bekanntesten Werken dieser Ratgeberliteratur zählt Anna Jamesons The Relative Position of Mothers and Governesses.[6]
Die Gouvernante ist daneben gelegentlich Protagonistin in Erzählungen, die zum heute noch wesentlichen Literaturkanon zählen. Darüber hinaus entwickelte sich mit dem Viktorianischen Gouvernantenroman ein eigenes Genre, von dem aber nur die beiden Romane Agnes Grey und Jane Eyre noch heute ein Lesepublikum finden. Unabhängig von der heutigen literarischen Bedeutung geben diese Romane und Erzählungen jedoch Einblicke, wie die Rolle einer Gouvernante oder Hauslehrerin wahrgenommen wurde.[7]
Der Titel Gouvernante wurde ursprünglich analog zum Begriff des Hofmeisters gebraucht. Als Hofmeister wurden Personen bezeichnet, die die Leitung der königlichen Hauswirtschaft und den Dienst um den Monarchen innehatten. Eine Gouvernante oder Hofmeisterin verwaltete ursprünglich Einkünfte fürstlicher Kinder, stellte für sie Dienstboten und Lehrpersonal ein und erteilte ihnen gelegentlich auch selbst Unterricht.[8] In Deutschland, wo die höfische Lebensführung seit dem 17. Jahrhundert nach dem Vorbild Versailles aufwendiger geworden waren und Fürst, Fürstin und fürstliche Kinder jeweils eigene Haushalte hatten, handelte es sich meist um Angehörige des einheimischen Adels, die solche Stellen wahrnahmen. Meist wurde sie aus der Gruppe der am Hofe lebenden oder dem Hofe nahestehenden adeligen Frauen rekrutiert, deren Manieren und Charakter bekannt waren.[9]
Der soziale Status einer solchen Gouvernante war – anders als dies in bürgerlichen Haushalten später der Fall sein sollte – eindeutig; die Aufgabe war in der Regel mit erheblichem Prestige verbunden. Gouvernanten erhielten Gagen, Geschenke und in der Regel auch Pensionen.[10] Häufig entstanden zwischen Gouvernante und Zögling enge Bindungen. Beispielhaft dafür sind Elisabeth Charlotte von der Pfalz und ihre Hofmeisterin Anna Katharina von Uffeln, Maria Anna Christiana von Bayern und ihre Gouvernante Magdalena Maria Gräfin Portia, Friedrich der Große und Marthe de Roucoulle, Wilhelmine von Preußen und Sophie von Danckelmann, Luise von Mecklenburg-Strelitz und Salomé von Gélieu sowie die spätere britische Königin Victoria und Baronin Louise Lehzen. Antonie Forster, die Schwester von Georg Forster, blieb mit ihren einstmaligen Zöglingen, den Töchtern des Herzogs von Kurland, in engem Kontakt und war im hohen Alter über Monate zu Gast bei Wilhelmine von Sagan.[11] Elisa von Ahlefeldt zahlte ihrer Gouvernante Marianne Philipi in einer ihrer ersten Handlungen, nachdem sie das Erbe ihres Vaters angetreten hatte, die Pension aus, die ihr Vater Friedrich von Ahlefeldt-Laurvigen ihrer ehemaligen Gouvernante auf Lebenszeiten versprochen, aber 21 Jahre lang nicht ausbezahlt hatte.[12]
Einige wenige Gouvernanten gelangten zu großem Einfluss. Die bekannteste dürfte Françoise d’Aubigné, Marquise de Maintenon sein, die 1669 Gouvernante der Kinder der Madame de Montespan und Ludwigs XIV. wurde und sich im Laufe der Jahre immer besser mit deren Vater verstand. 1684, ein Jahr nach dem Tod der französischen Königin, ging Ludwig XIV. mit der Marquise de Maintenon eine heimliche Ehe ein. 1686 gründete sie in Saint-Cyr ein Internat für mittellose adelige Töchter, das bis 1793 bestand und in dem sie selbst ihren Lebensabend verbrachte.
Das pädagogische Verhältnis zwischen Gouvernante und Zögling wird für Deutschland aus heutiger Sicht für das 18. und 19. Jahrhundert als „theorielos“ bezeichnet.[13] Es gab keine anerkannten Methoden der häuslichen Mädchenerziehung, während dies für Erziehung von Jungen im Haus sehr wohl galt. Einige pädagogische Schriften erwähnen die Gouvernante allerdings. August Friedrich Wilhelm Crome vertritt beispielsweise in seiner Schrift Über die Erziehung durch Hauslehrer (1788) die Ansicht, dass eine Erziehung nur durch den Hauslehrer stattfinden solle.[14] August Hermann Niemeyer beschrieb dagegen 1796 in seinem Ratgeber für Hofmeister, dass die Gouvernante für die Erziehung der Mädchen zuständig sei, der Hauslehrer dagegen für die der Jungen. Beide können stundenweise die Zöglinge des anderen unterrichten. Beschäftigt ein Haushalt nur eine Gouvernante, dann übernahm sie die Erziehung der Jungen bis etwa zu deren achtem Lebensjahr.[15]
Anders war die Situation in Frankreich, wo durch die Kritik an der Erziehung von Mädchen in Klöstern und die damit verbundene Forderung, dass sich Mütter um die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder kümmern sollten, auch eine theoretische Fundierung der Mädchenerziehung durch Gouvernanten entstand. François Fénelon hatte 1687 in seiner Schrift Traitée de l’éducation des filles (Über Töchtererziehung) eine Erziehung von Mädchen in der Familie gefordert, weil die Mutter aus seiner Sicht ihre Töchter besser auf ihre zukünftige Rolle als Hausfrau, Gattin und Mutter vorbereiten könne.[16] Hinderten sie andere Pflichten oder mangelnde Kenntnisse daran, durfte sie sich durch Gouvernanten vertreten und entlasten lassen. Zur Vorbereitung auf ihre künftige Rolle in Familie und Gesellschaft sollte der Unterricht sich auf Religion, Schreiben, Lesen, Rechnen, Rechtslehre, Geschichte, Latein und Nadelarbeit begrenzen. Nur wenn das Mädchen besondere Begabung zeigte, sollte sie auch in Musik und Zeichnen unterrichtet werden. Fénelons Schrift war in weiten Teilen Europas lange Zeit sehr einflussreich.[17] Sie wurde unter anderem 1698 von August Hermann Francke ins Deutsche übersetzt und protestantischen Lebensverhältnissen angepasst.[18] Aufbauend auf den Ideen von Fénelon und John Locke beschrieb 1749 die englische Schriftstellerin Sarah Fielding in The Governess; or, Little Female Academy die häusliche Individualerziehung bürgerlicher Mädchen. Der Unterricht begrenzt sich auf Lesen, Schreiben, Arbeiten und „alle gehörigen Frauenzimmerunterrichtungen“.[19] Von ähnlich aufklärerischem Gedankengut war aber auch das von Maria und Richard Lovell Edgeworth verfasste Practical Education (1798) oder die Schriften Anna Laetitia Barbauld und Mary Wollstonecraft geprägt.[20]
Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, die in London zeitweilig die Tochter des Politikers John Carteret, 2. Earl Granville erzog, veröffentlichte 1757 erstmals ihr Magasin des Enfans („Magazin für Kinder“), das wenig später auch in Englisch, Deutsch, Russisch, Italienisch, Griechisch und Spanisch erschien. Neben Märchen und Erzählungen enthielt es auch Lehrgespräche zwischen Erzieherin und Zögling, die zum Ziel hatten, „…dass man die Sitten bilde, sich des Verstandes annehme, ihn ausziere, ihm eine geometrische Wendung gebe, das Äußerliche einrichte.“[21] 1764 erschien ihr Le Magasin des Jeunes Dames („Magazin der jungen Damen“), in dem die Autorin in Lehrgesprächen mit ihren mittlerweile erwachsenen Zöglingen nicht nur die Wahl des Ehemanns erörtert, sondern sie auch anweist, wie sie eine Gouvernante auswählen und wie sie sich ihr gegenüber zu verhalten hätten: Eine Gouvernante musste nach Ansicht von de Beaumont die volle Autorität über ihre Zöglinge besitzen – wenn sie auch jedes Kind entsprechend seiner Individualität anders zu behandeln habe, so sei dieses doch ununterbrochen zu überwachen, zu formen und von bösen Einflüssen fernzuhalten. In ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem Kind müsse sie stets die Ziele ihrer Erziehung vor Augen haben.[21]
Von ähnlich hoher Bedeutung wie die Schriften de Beaumonts sind die Veröffentlichungen von Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis, die 1772 gemeinsam mit ihrem Mann in den Dienst des Herzogs und der Herzogin von Chartres trat. 1777 wurde sie zur Gouvernante der Zwillingstöchter des Herzogsehepaars ernannt. Die von Jean Jacques Rousseau beeinflusste de Genlis übernahm die Betreuung der beiden Mädchen bereits im Säuglingsalter und zog die beiden Töchter abseits des herzoglichen Haushalts gemeinsam mit ihren eigenen Töchtern auf.[22] 1782 wurde ihr auch das hohe Amt eines Gouverneurs für die Söhne des Herzogehepaars übertragen. Dieses Amt war eigentlich nur Männern vorbehalten, die Ernennung, die in Frankreich hämische Spottgedichte und öffentliche Proteste auslöste, musste durch Ludwig XVI. bestätigt werden.[23] De Genlis war damit nicht nur für die Wahl der Lehrer der Jungen zuständig, sondern legte auch fest, wie die Erziehung der Kinder zu erfolgen hatten. Ihre Ideen über häusliche Erziehung beschrieb sie in dem Briefroman Adèle und Théodore (1782). Sie trat für kindgerechten Unterricht ein und forderte eine Mädchenerziehung, die auf die praktischen Bedürfnisse des Alltags ihres jeweiligen Standes ausgerichtet war. Innovativ war vor allem ihre Methode des Fremdsprachenunterrichts, bei dem Kinder im alltäglichen Umgang eine Sprache erlernen sollten. Noch mehr als de Beaumont betonte sie die vollständige Autorität der Gouvernante als Erziehungsexpertin. Eine Erziehung von Mädchen zu „gelehrten Frauen“ lehnte de Genlis dagegen ab.[24] Noch geringere Ansprüche an die Ausbildung von Mädchen stellte Jeanne Louise Henriette Campan, die auf Grund ihrer Begabung aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zur Vorleserin in Versailles und Kammerfrau der Königin Marie-Antoinette aufstieg und später Mädchenpensionate leitete. Sie setzte sich mit den Arbeitsbedingungen von Gouvernanten auseinander, weil Absolventinnen ihrer Lehranstalt häufig diesen Beruf ergriffen.[25] Campan empfahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gouvernanten, sich nicht allein auf ihre Schülerin, sondern auch auf deren Eltern und alle anderen Hausangehörigen einzustellen. Sie legte ihnen auch nahe, sich stets ihrer Stellung als Angestellte bewusst zu sein, selbst wenn sie wie ein Familienmitglied behandelt wurden. So sollte sie nicht an Geselligkeiten teilnehmen, bei denen das Kind nicht zugelassen war. Im Mittelpunkt der Erziehung sollten Frömmigkeit, Mildtätigkeit, Nüchternheit, Sauberkeit und Ordnung stehen. Im Rechnen dagegen reichten die Vermittlung der einfachsten Kenntnisse. Nadelarbeit, Klavierspielen und Zeichnen waren weitere Unterrichtsschwerpunkte.[26]
Während des 19. Jahrhunderts kam es zu keiner theoretischen oder methodischen Weiterentwicklung des Gouvernantenwesens. Gebildete Eltern und Erzieherinnen begnügten sich im Wesentlichen mit Neuauflagen des Magazins für Kinder, wenn sie nach pädagogischen Schriften suchten.[27]
Zu den deutschen Besonderheiten zählt es, dass vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert in adeligen und reichen bürgerlichen Haushalten sehr häufig französischsprachige Gouvernanten beschäftigt wurden. Französisch war in dieser Zeit die Verkehrssprache höherer Stände. Die Erziehung zur Mehrsprachigkeit mit Hilfe fremdsprachlichen Personals galt als deutsche Erfindung. Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis, die diese Methode in Frankreich populär machte, übernahm sie möglicherweise von deutschen Vorbildern.[28] Solche Gouvernanten stammten aus Frankreich, der französischen Schweiz und gelegentlich auch aus Belgien. An den deutschen protestantischen Höfen und in den Häusern protestantischen Adels zählten viele der dort beschäftigten Gouvernanten zu den Hugenotten, die nach der Aufhebung des Toleranzedikts von Nantes 1685 aus Frankreich emigrierten und sich in der Schweiz, den Niederlanden, in England und Preußen niederließen. Kurfürst Friedrich Wilhelm von Preußen engagierte beispielsweise als Gouvernante für seine Tochter Luise Sophie Dorothea die Hugenottin Elisabeth d’Ingenheim. Marthe de Roucoule, einer aus Frankreich nach Deutschland geflüchtete Witwe, wurde 1691 von Friedrich I. die Erziehung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm übertragen. 1712 wurde sie zur Gouvernante des späteren Friedrich II. und seiner älteren Schwestern bestimmt. Auch Sophie von Anhalt-Zerbst, die spätere russische Zarin Katharina II., wurde von ihrem zweiten Lebensjahr bis zu ihrer Abreise nach Russland von Französinnen erzogen.[29]
Die Dominanz französischer Gouvernanten in der Mädchenerziehung endete erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als sich eine eigene deutsche Nationalliteratur und einheitliche deutsche Schriftsprache weiter entwickelte und sich das aufstrebende Bürgertum zunehmend als Träger einer fortschrittlichen nationalen Kultur verstand.[30]
Mit dem Aufstieg der bürgerlichen Klasse wurde es ab Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend auch in bürgerlichen Schichten üblich, die Erziehung von Töchtern einer Gouvernante anzuvertrauen. In diesen bürgerlichen Haushalten konzentrierte sich die Gouvernantentätigkeit auf pädagogische Funktionen und beinhaltete nur noch in seltenen Ausnahmefällen auch Verwaltungsaufgaben.[31]
Vor allem im früh industrialisierten Großbritannien gab es frühzeitig eine breite, wohlhabende Mittelschicht, die sich die Anstellung einer Gouvernante finanziell erlauben konnte. Öffentliche Grundschulen kamen in Großbritannien erst nach dem 1870 erlassenen Education Act auf und setzten sich nur langsam durch.[32] Es gab zwar Pensionate für Mädchen, verglichen mit einer Erziehung der Töchter im eigenen Hause galt das jedoch nur als zweitklassige Alternative.[33] Die Beschäftigung einer Gouvernante war deshalb weitaus verbreiteter als in Deutschland und Frankreich und noch in den 1930er Jahren nicht ungewöhnlich. In E. M. Delafields überwiegend autobiografisch geprägtem Roman Tagebuch einer Lady auf dem Lande, das das Leben einer britischen Familie der oberen Mittelschicht in den 1930er Jahren erzählt, wird trotz der finanziell angespannten Situation der Familie die Tochter des Hauses von einer französischen Gouvernante erzogen.[34]
In Deutschland und Frankreich gab es dagegen frühzeitig ein Angebot an öffentlichen Mädchenschulen und damit Möglichkeiten, Mädchen außerhalb der Familie zu erziehen. Früher und in einem breiteren Maße als in Großbritannien bot dies Frauen auch die sozial akzeptierte Möglichkeit, als Schullehrerin zu arbeiten. Die Historikerin Gunilla Budde führt als weiteren Unterschied zwischen Großbritannien und Deutschland sowie Frankreich die unterschiedliche Wohngewohnheiten der wohlhabenderen Mittelschicht an. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland bewohnten bürgerliche Familien zentrumsnahe Etagenwohnungen. In Großbritannien dagegen lebte die typische bürgerliche Familie in mehretagigen Vorstadthäusern. Anders als eine Etagenwohnung boten diese Raum, eine Gouvernante unterzubringen.[35]
Frauen der unteren Schichten hatten so gut wie immer Erwerbsarbeit geleistet. Frauen des höheren Bürgertums besaßen dagegen jenseits der Ehe kaum Erwerbsmöglichkeiten, die mit ihrem Stand vereinbar waren. Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten solche unverheiratet bleibende Frauen in der Regel Aufnahme im Haushalt eines Verwandten gefunden, wo sie als unbezahlte Haushälterin, Gesellschafterin oder Krankenpflegerin tätig waren.[36] Veränderungen der Sozialstruktur, die zu einer wachsenden Zahl bürgerlicher Familien führte, ließen die ökonomischen Probleme vermögensloser, unverheirateter Frauen stärker hervortreten. Insbesondere Töchter und Witwen von Pfarrern, Beamten und Gelehrten sahen sich häufig gezwungen, einer Erwerbstätigkeit außerhalb des Hauses nachzugehen.[37] Bereits 1770 erklärte der Pädagoge Johann Bernhard Basedow, dass die Töchter solcher Familien grundsätzlich eine so gute Ausbildung erhalten sollten, dass sie notfalls in der Lage wären, fremde Kinder zu erziehen.[38] Dagegen sprach sich der Pädagoge Joachim Heinrich Campe gegen eine solche Erwerbstätigkeit aus, weil er davon ausging, dass Töchter aus dem höheren Bürgertum unter einer solchen abhängigen Stellung leiden würden. In Verkennung der ökonomischen Realität von Stickerinnen, Spinnerinnen und Näherinnen, die in Heimarbeit solche Arbeiten ausführten, empfahlen sowohl er wie auch Friedrich Heinrich Christian Schwarz vermögenslosen Frauen, sich von solchen Arbeiten zu ernähren.[39] Im 19. Jahrhundert verdienten solche Textilarbeiterinnen erheblich weniger als Fabrikarbeiterinnen, obwohl sie einen genauso langen Arbeitstag hatten.[40]
Elisabeth Bernhardi nannte 1798 als mögliche Erwerbstätigkeit für Frauen höherer Stände neben einer Gouvernantentätigkeit nur noch Wirtschafterin, Krankenpflegerin in Privathaushalten und Handarbeitslehrerin. Von diesen Alternativen war der Gouvernantenberuf der qualifizierteste und der mit dem höchsten Sozialprestige.[41] Die Option, ohne (größeren) Verlust des sozialen Status als Krankenpflegerin zu arbeiten, stand außerdem nur deutschen Frauen offen. Bei den Pflegekräften, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in britischen Krankenhäusern arbeiteten, handelte es sich in der Regel um ehemalige Dienstboten, die keine anderweitige Anstellung fanden und daher gezwungen waren, sich ihr Brot durch diese Arbeit zu verdienen. Nicht besser war das Ansehen der Krankenpflegerinnen, die Kranke in deren Heim pflegten. Charles Dickens karikierte in seinem 1842 bis 1843 erschienenen Roman Martin Chuzzlewit in der Figur der Sairey Gamp eine solche Krankenpflegerin als inkompetent, nachlässig, alkoholabhängig und korrupt.[42] Die von Florence Nightingale ab 1860 initiierten Reformen bei der Krankenpflegeausbildung hatten auch zum Ziel, diesen Beruf als gesellschaftlich anerkannten Ausbildungsweg für Frauen der Mittelschicht zu öffnen.
Generell erweiterten sich in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Beschäftigungsmöglichkeiten bürgerlicher Frauen. Mehr und mehr galten auch Bürotätigkeiten als akzeptiertes Betätigungsfeld. Cecilia Wadsö Lecaros weist jedoch darauf hin, dass während des gesamten 19. Jahrhunderts bezahlte Erwerbstätigkeit bürgerlicher Frauen aus Sicht der Standeszugehörigkeit ein problematisches Thema blieb. Sie kommt zu dem Schluss, dass viele bürgerliche Frauen sich häufig auch deswegen für die schlecht bezahlte Arbeit einer Gouvernante entschieden, weil dies aus ihrer Sicht die sozial am ehesten akzeptierte Lösung ihres Problems war.[43]
Die ökonomischen Probleme vermögensloser Frauen, die dem höheren Bürgertum zuzurechnen waren, waren in Großbritannien besonders ausgeprägt. Hier überstieg nach 1830 die Zahl der Frauen, die als Gouvernante arbeiten wollten oder mussten, bei weitem die verfügbaren Stellen.[44] Dieses Überangebot war einerseits Resultat einer Reihe wirtschaftlicher Krisen, in der das Vermögen vieler Familien schwand. Es lag andererseits aber auch an einem Ungleichgewicht zwischen heiratsfähigen und -willigen Männern und Frauen.
Nach der Volkszählung im Jahr 1851 waren von 100 britischen Frauen, die älter als 20 Jahre waren, 57 verheiratet, 13 verwitwet und 30 unverheiratet.[45] Insgesamt waren eine Dreiviertel Million von Frauen im heiratsfähigen Alter ohne Ehemann. Die Ursachen dafür waren vielfältig: Die Verluste unter der männlichen Bevölkerung in Folge der Napoleonischen Kriege galt bereits Zeitgenossen als eine Ursache, dass es einen „Frauenüberschuss“ gab.[46] Deutlich mehr Männer als Frauen wanderten nach Nordamerika, Australien oder in eine der britischen Kolonien aus.[47] Parallel dazu stieg das Heiratsalter von Männern der Mittelklasse deutlich an. Zwischen 1840 und 1870 heirateten Geistliche, Ärzte, Anwälte, Kaufleute, Bankangestellte und Unternehmer durchschnittlich erst mit 30 Jahren.[48] Eine große Zahl von Männern zog es vor, gänzlich unverheiratet zu bleiben. Von 100 englischen und walisischen Männern im Alter von 35 Jahren waren 18 unverheiratet, für 12 galt dies auch im Alter von 50 Jahren.[48] Wesentlicher Grund für diese mangelnde Heiratsbereitschaft waren die hohen Unterhaltskosten für eine Familie. Für 300 Pfund im Jahr konnte ein Mann ein angenehmes Leben führen, das sich zwischen seiner gemieteten Wohnung und seinem Club abspielte. Ein Ehepaar mit mehreren Kindern, das auf ein geräumiges Haus angewiesen war, konnte sich einen vergleichbaren Lebensstandard noch nicht einmal für das Dreifache dieses Einkommens erlauben.[48]
Bei der Volkszählung im Jahre 1851 bezeichneten sich 25.000 Frauen als Gouvernante – eine vergleichsweise kleine Zahl verglichen mit den 750.000 Frauen, die als Dienstboten arbeiteten.[49] Die Zahl der Gouvernanten entsprach zwei Prozent aller unverheirateten Frauen in einem Alter zwischen 20 und 40 Jahren.[50] Die vergleichsweise hohe Zahl lässt darauf schließen, dass nahezu jede Frau der Mittelschicht, die ohne anderes Einkommen war, diesen Beruf ergreifen musste.[50] Während die Erwerbssituation von Frauen der Unterschicht zu dieser Zeit kein öffentlicher Diskussionspunkt war, erregten die Probleme dieser kleinen Gruppe das besondere Interesse und Mitgefühl des bürgerlichen Publikums.[51] Sir George Stephen schreibt 1844 in einem Handbuch für Gouvernanten:
„Wir müssen zugeben, dass beim […] Beschreiben des Amtes der Gouvernante sich unser Herz ein wenig zusammenkrampft, wie wir es bei keiner anderen Aufgabe aktiver Lebensführung erlebt haben. In jeder anderen Beschäftigung findet man die Ermutigung der Hoffnung […]. Der Dienstbote kann Dienstherr werden, der Arbeiter kann zum Arbeitgeber aufsteigen […]. Die Gouvernante und die Gouvernante allein, obwohl doch ein Mitglied der freien Berufen, ist ohne Hoffnung und Erwartungen.“[52]
Nach einer Untersuchung der „Governesses’ Benevolent Institution“ waren die Väter von Gouvernanten überwiegend Kaufleute, Ärzte, Offiziere, Beamte, Anwälte und Notare sowie Pfarrer.[53]
Einige der Gouvernanten stammten aus Familien, die eine drastische Veränderung ihrer Vermögenssituation durchlebt hatten. In Großbritannien verloren zwischen 1820 und 1850 zahlreiche Familien, deren Einkommen allein aus Kapitalanlagen resultierte, durch Firmeninsolvenzen und Bankzusammenbrüche buchstäblich über Nacht ihr Vermögen. Diese stete Bedrohung milderte sich erst mit dem Limited Liability Act of 1855, der die Haftungsfragen bei Insolvenzen änderte.[54] Typischer als eine plötzliche Änderung der finanziellen Situation dürfte jedoch eine allmähliche Erodierung des Familienvermögens gewesen sein, die Frauen dazu zwang, nach einer Erwerbstätigkeit zu suchen.[55] In Großbritannien spielte darüber hinaus das Erbrecht eine Rolle. Unterlag der Familienbesitz dem Fideikommiss, ging er mit dem Tod des männlichen Familienoberhauptes an den nächsten männlichen Verwandten über, wie entfernt auch immer die Verwandtschaft sein mochte. Sowohl der Witwe als auch den Töchtern solcher Familien drohte dann die Verarmung. Viele Familienväter versuchten dem durch Abschluss von Lebensversicherungen vorzubeugen. Jedoch kollabierten in Großbritannien bis zu Verabschiedung des Life Assurance Companies Act 1870 zwischen 1800 und 1870 mehr als 500 solcher Versicherungsfirmen, so dass häufig genug eine solche Vorsorge durch Familienväter vergeblich war.[56] Der Tod des Versorgers – egal ob Vater oder Ehemann – gilt als der häufigste Grund, warum Frauen der Bürgerschicht arbeiten mussten. Lady Elizabeth Eastlake kommentierte dies in einem Artikel in der Quarterly Review mit dem Hinweis, dass es keine andere Gruppe von Angestellten gäbe, die so systematisch durch das Unglück von Familien aufgefüllt würde.[57] Den breiten Raum, den die Gouvernantentätigkeit in der öffentlichen Diskussion Großbritanniens insbesondere in den ökonomisch turbulenten Jahrzehnten um die Mitte des 19. Jahrhunderts einnahm, sehen Historiker heute deshalb nicht nur als Ausfluss der Empathie für die Frauen, die auf diesen Beruf zurückgreifen mussten, sondern auch als Ausdruck der ökonomischen Verunsicherung dieser Schicht.[58]
Kathryn Hughes vertritt die Ansicht, dass sich bereits in der Stellensuche die Widersprüche zeigen, die die Gouvernantentätigkeit über lange Zeit charakterisierten. Die höfliche Fiktion, dass es sich bei der Gouvernante um eine sozial Ebenbürtige handele, die Aufnahme in einer Familie gleichen Standes suche, wurde bereits in dem Wettbewerb um die wenigen Stellen ad absurdum geführt.[59]
Im Idealfall fand eine Frau, die als Gouvernante arbeiten wollte, ihre Stelle durch das Netzwerk ihrer eigenen Familie. Diese Form der Stellenfindung ließ sich am ehesten mit der Vorstellung in Einklang bringen, dass bürgerliche Frauen keiner Erwerbstätigkeit nachgingen. Eine Stelle in einer Familie, mit der eine verwandtschaftliche oder freundschaftliche Verbindung bestand, ging auch mit der Hoffnung einher, die Demütigungen zu vermeiden, die mit dieser Tätigkeit einhergingen. Als Henriette Herz beispielsweise auf eine Gouvernantenstelle angewiesen war, legte sie Wert darauf, eine solche im Haus von Freunden zu finden, wo sie sich auch in ihrer Rolle als angestellte Erzieherin einer guten Behandlung sicher sein konnte.[60] Hughes nennt andere Beispielfälle, wo auf Grund der bestehenden familiären Beziehungen die Einheirat der Gouvernante in die Familie des Arbeitgebers akzeptiert wurde oder eine Frau über Jahrzehnte Beschäftigung im weiteren Familiennetzwerk ihres ersten Arbeitgebers fand.[61]
Verfügte die Gouvernante über kein solches Netzwerk oder konnte sie darüber keine Stelle finden, war sie gezwungen, entweder auf eine Anzeige zu antworten oder sogar selbst eine aufzusetzen. Eine eigene Anzeige aufzusetzen und darin die eigenen Qualifikationen zu nennen, war im Verhältnis zum erzielbaren Gehalt nicht nur teuer, sondern auch der offensichtlichste Bruch mit der Vorstellung, dass eine Gouvernante keine bezahlte Dienstleistung erbrachte. Die britische Zeitung The Times als das wichtigste britische Medium für solche Stellengesuche platzierte diese Anzeigen bizarrerweise auch noch zwischen denen für Tagesausflüge und denen, die eine Kapitalanlage offerierten.[62] Daneben gab es Vermittlungsagenturen, die aber nicht selten mehr als fünf Prozent eines Jahresgehalts als Gebühr verlangten, ohne eine Erfolgsgarantie abzugeben.[63] Ab 1843 übernahmen es auch Wohlfahrtseinrichtungen wie die „Governesses’ Benevolent Institution“ Stellensuchende und Stellenanbieter zusammenzubringen, ohne dass für eine der beiden Seiten eine Vermittlungsgebühr fällig wurde. Dass es auch diesen Agenturen nur gelang zwischen 50 und 75 Prozent der Stellensuchenden zu vermitteln, macht deutlich, dass hier eindeutig ein Käufermarkt vorlag.[64]
Es gab einige Fälle, in denen die Anstellung nur über den Austausch von Briefen erfolgte und Arbeitgeber und Arbeitnehmerin sich erst bei Stellenantritt persönlich kennenlernten. In der Regel ging der Anstellung ein persönliches Gespräch voraus. Die fachliche Qualifikation war in diesen Gesprächen meist zweitrangig.[65] Implizite Grundvoraussetzung für die Anstellung einer Gouvernante war ihre entsprechende Herkunft: Davon ausgehend, dass vornehme Weiblichkeit nur durch eine entsprechend kultivierte Umgebung erworben werden konnte, war es essentiell, dass die Gouvernante als Vertreterin der Mutter von gleichem sozialen Stand wie diese war.[66] Eliza und Everina Wollstonecraft verloren nicht zuletzt wegen des zweifelhaften Rufs ihrer Schwester Mary ihre Anstellungen als Gouvernante.[67] Von fast ebenso großer Bedeutung war, dass Glaubensrichtung und die Strenge, mit der religiöse Regeln beachtet wurden, sich entsprachen.[68]
In Großbritannien wirkte sich das Überangebot an Gouvernanten deutlich auf die Gehälter aus, für die sie gezwungen waren, Stellen anzunehmen. In einer Untersuchung, die George Stephen 1844 durchführte, fand er eine Gouvernante, die ein Jahresgehalt von 300 Pfund erhielt.[69] Das war ein ungewöhnlich hohes Gehalt. Eine Reihe heutiger Historiker zählen Haushalte mit einem Jahresgehalt von 300 Pfund als zu der Mittelschicht zugehörend. Andere Historiker ordnen bereits Haushalte mit einem jährlichen Einkommen von 100 Pfund der Mittelschicht zu.[70] Nach Stephens Untersuchung verdienten mehrere Gouvernanten 200 Pfund im Jahr und eine Reihe bekamen jährlich 80 Pfund gezahlt. Die meisten erhielten jedoch deutlich weniger. Charlotte Brontë arbeitete 1841 für ein Jahresgehalt von 20 Pfund, davon wurden vier Pfund für das Waschen ihrer Wäsche abgezogen.[69] Harriet Martineau berichtete 1860 von mehreren ihr bekannten Familien, die ihrer Gouvernante zwischen acht und zwölf Pfund jährlich bezahlten.[69]
Das geringe Einkommen bedeutete auch, dass Gouvernanten nur begrenzt in der Lage waren, für ihr Alter oder einen Fall von Erkrankung vorzusorgen. Gouvernanten mussten davon ausgehen, nur bis zu einem Alter von vierzig oder fünfzig Jahren eine Beschäftigung zu finden. Nahezu alle Ratgeber für Gouvernanten legten ihr nahe, rechtzeitig Geld für ihr Alter beiseitezulegen. Wurde sie angemessen bezahlt, war ihr das in der Regel auch möglich. Wie aber eine Untersuchung im Jahre 1841 zeigte, unterstützten zahlreiche Gouvernanten mit ihrem Gehalt bedürftige Elternteile, zahlten die Ausbildung von Geschwistern oder sprangen ihnen in finanziellen Notlagen zur Seite. Viele von ihnen konnten sich vermutlich im Alter oder im Krankheitsfalle auf die Solidarität ihrer Familie verlassen, die Zahl der tragischen Fälle, die im Alter in verzweifelter Armut zurückblieben, ist trotzdem hoch.[71]
Ähnlich war die Situation in Deutschland: Fanny Tarnow veranschlagte 1820 den Geldbedarf, um für bürgerliche Verhältnisse bescheiden, aber angemessen leben zu können, auf jährlich 400 preußische Taler. Damit war es möglich, eine eigene Wohnung mit eigenen Möbeln und die Beschäftigung eines Dienstmädchens zu finanzieren. Wer dagegen bescheiden in Untermiete lebte, benötigte dafür 100 bis 150 Taler, hatte aber noch Ausgaben für Kleidung, Kutsche, Bücher und Unterhaltung einzukalkulieren. Eine Gouvernante, die neben Kost und Logis etwa 80 bis 100 Taler Gehalt im Jahr erhielt, war nicht schlecht gestellt, trotzdem aber kaum in der Lage, solche Summen für ihr Alter anzusparen, wenn sie keine Stelle mehr erhalten würde. Sie sah einem finanziell weitgehend ungesicherten Alter entgegen.[72] Für Frauen wie Caroline Rudolphi, Fanny Tarnow, Amalia Weise und Luise Hensel war nicht zuletzt deshalb die Gouvernantentätigkeit nur eine Station im Leben.[73]
Die Situation alter oder erkrankter Gouvernanten war so desperat, dass sich Wohltätigkeitsorganisationen ihrer annahmen. 1843 wurde in Großbritannien die „Governesses’ Benevolent Institution“ gegründet, die kurzfristig finanzielle Unterstützung an Gouvernanten leistete, die in eine Notlage geraten waren. Für arbeitslose und alte Gouvernanten wurden außerdem Heime gegründet, in denen sie zumindest zeitweilig Unterkunft finden konnten.[74]
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand der Beruf der Gouvernante in hohem Ansehen. Die grundsätzliche Erziehungsidee, dass Mädchen eine Bildung erfahren haben sollten, die es ihnen später als Mutter ermöglichen sollte, ihre eigenen Töchter ausreichend Inhalte zu lehren und ihre Söhne auf die Schule vorzubereiten, gab der Rolle der Mutter ein hohes Gewicht. Es galt als legitim, sich darin von einer Tante, älteren Schwester oder einer bezahlten Kraft unterstützen zu lassen.[75] Eine gute Erziehung galt als Basis vornehmer Häuslichkeit; die Tätigkeit der Gouvernante überlappte sich eng mit der Rolle einer Mutter. Die Historiker Trev Broughton und Ruth Symes machen die noch nicht marginalisierte Rolle der Gouvernante auch am Titelbild des 1809 veröffentlichten Romans Ellinor: The Young Governess von C. Matthews fest. Obwohl es eine Gouvernante mit ihren Schutzbefohlenen zeigt, folgt es der Ikonografie eines Familienporträts. Die Gouvernante ist hier noch nicht als die ins Abseits gedrängte, schlicht gekleidete Angestellte gezeigt, sondern eine junge Frau mit Würde und Autorität, die im Kreise ihrer Schüler vorliest.[76] Der Wandel im Ansehen setzte ein, als es zunehmend weniger mit der bürgerlichen Wertvorstellung vereinbar war, dass eine Frau gehobenen Standes einer Erwerbstätigkeit nachging, gleichzeitig aber eine immer größere Zahl von Frauen gezwungen war, genau dies zu tun.[77]
Die Gouvernanten, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts von bürgerlichen Familien beschäftigt wurden, unterschieden sich gewöhnlich nicht in ihrer sozialen Herkunft, sondern nur durch ihre verfügbaren finanziellen Mittel von ihrem Arbeitgeber. Die Tätigkeit als Gouvernante beeinflusste allerdings den sozialen Stand der Frauen, die ihn ausübten, negativ: Wesentliches Merkmal einer Bürgerin der Mittelschicht war, dass sie nicht arbeitete.[78] Jane Austen bringt in ihrem Roman Emma (1816) dieses Dilemma auf den Punkt, indem sie die wohlhabende Emma Woodhouse mit der mittellosen Jane Fairfax kontrastiert. Beide sind äußerst kultivierte junge Frauen: Jane Fairfax ist Emma Woodhouse sogar in all den Fähigkeiten überlegen, die eine Dame charakterisieren. Sie repräsentiert damit das Idealbild einer Lady, anders als der finanziell unabhängigen Emma Woodhouse scheint für sie der Antritt einer Gouvernantenstelle und damit ein Weg, der in Altjüngferlichkeit und Armut enden muss, unabwendbar.[79] Anna Jameson (1797–1860) vertrat deshalb die Ansicht, dass keine Frau freiwillig diesen Beruf ergreife, und auch Harriet Martineau beklagt die Sorge vieler bürgerlichen Eltern, dass sie eines Tages ihre Töchter zwingen müssten, diesen Beruf zu ergreifen.[80]
In den Zeugnissen, die Gouvernanten hinterlassen haben, beklagen diese häufig den Verlust ihres sozialen Standes.[81] In Romanen wie Elizabeth Sewells Amy Herbert oder Anne Brontës Agnes Grey drückt sich der soziale Abstieg der Protagonistinnen unter anderem darin aus, dass sie wie ein Dienstmädchen beim Vornamen gerufen werden oder die Eltern ihre Zöglinge ihr gegenüber als „Miss“ oder „Master“ bezeichnen.[82] Umgekehrt hielten Gouvernanten in ihren Briefen und Erinnerungen häufig fest, dass ihre Arbeitgeber ihnen sozial unterlegen waren. Ausdrucksweise, Betonung und Umgangsformen waren für sie häufig Indizien, dass sie von sozialen Aufsteigern beschäftigt wurden.[83] Tatsächlich war für viele Familien die Beschäftigung einer Gouvernante wichtig für den gesellschaftlichen Stand, den sie erreicht hatten. Charlotte Brontë hielt in ihrem Tagebuch mit Zorn fest, dass ihr Arbeitgeber White versuchte, ihren Vater als prestigeträchtigen Hausgast einzuladen.[84] William Thackeray belustigt sich in The Book of Snobs über die fiktive Mrs. Ponto, die mit den musikalischen Fähigkeiten der Gouvernante den eigenen Stand unterstreicht:
„Ein großartiges Geschöpf! Nicht wahr? Die Lieblingsschülerin von Squirtz – unschätzbar, solch ein Wesen zu haben! Lady Carabas würde ihre Augen um ihren Besitz hergeben, ein Wunder von Ausbildung!“[85]
Die Gouvernante lebte in der Regel im Haushalt ihres Arbeitgebers. Es gab daneben sogenannte „Daily Governesses“ oder „Tagesgouvernanten“, die nur tagsüber den Haushalt aufsuchten, in dem sie beschäftigt waren. Die Tätigkeit als Tagesgouvernante war vor allem für solche Frauen interessant, die beispielsweise verwitwet waren und selber kleine Kinder oder andere Angehörige zu versorgen hatten. Einige Familien entschieden sich bewusst für diese Form der Anstellung, weil damit der Zwang zur räumlicher Nähe aufgehoben war.[86] Es war außerdem eine vergleichsweise preisgünstige Form, eine Gouvernante zu beschäftigen. Eine Gouvernante, die sich am Morgen oder Nachmittag der Kinder annahm, erhielt ein Gehalt von durchschnittlich 24 Britischen Pfund. Der Arbeitgeber sparte dabei die Kosten für Kost und Logis. Kathryn Hughes weist jedoch darauf hin, dass die Beschäftigung einer Tagesgouvernante als zweitklassig angesehen wurde. Ihre nur stundenweise Anwesenheit machte die Dienstleistungsrolle, die sie wahrnahm, offenkundig. Ein genauerer Zensus im Jahre 1861 im Londoner Stadtteil Paddington macht auch deutlich, dass zumindest einige Frauen, die sich als Tagesgouvernante bezeichneten, nicht über den Hintergrund verfügten, der gemeinhin mit einer Gouvernante assoziiert wurde. Hughes schreibt dazu: Es scheint, als wurde der Begriff Gouvernante mit all seiner Konnotation von Vornehmheit und Kultiviertheit auch von einigen Frauen der unteren Mittelschicht beansprucht, die wenig mehr taten als Kinder hüten.[87]
Es wurde außerdem zwischen „Nursery Governesses“, „Preparatory Governesses“ und „Finishing Governesses“ unterschieden. Die „Nursery Governess“ unterrichtete sowohl Jungen als auch Mädchen im Alter zwischen vier und acht Jahren. Ihre wichtigste Aufgabe war es, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen. Die Aufgabe einer „Nursery Governess“ unterschied sich eindeutig von der eines Kindermädchens, aber in kleineren Haushalten war es nicht unüblich, dass sie morgens den Kindern auch beim Ankleiden half.[88] Die Ansprüche an die Kenntnisse einer „Nursery Governess“ war nicht hoch, was sich auch in dem Gehalt niederschlug, das ihnen gezahlt wurde. Einige Anzeigen in The Times offerierten einer Nursery Governess nicht mehr als Kost und Logis.[89]
Die „Preparatory Governess“ kümmerte sich primär um Mädchen im Alter ab acht Jahren. Zum Unterrichtsinhalt gehörten Grammatik, Geschichte und Geographie, der durch Unterricht in Französisch, eventuell sogar Italienisch und Deutsch, Klavier- und Zeichenunterricht ergänzt wurde.[90] Mitunter erlernten die Töchter des Hauses ihre Fremdsprachenkenntnisse durch andere Personen des Haushalts. Beispielhaft für die Erziehung durch eine „Preparatory Governess“ sei die Familie Nightingale genannt. William Edward Nightingale und seine Frau Fanny beschäftigten ab 1827 Sara Christie als Gouvernante, um durch sie ihre beiden Töchter Parthenope und Florence erziehen zu lassen. Fanny Nightingale übernahm den religiösen Part der Erziehung der Töchter und las mit ihnen täglich vor dem Frühstück die Bibel. Die Zofe der beiden Mädchen war Französin, so dass sie gut Französisch sprachen. Sara Christie sollte täglich nicht mehr als zwei oder drei Stunden Unterricht pro Tag geben, den Rest des Tages sollte sie durch „sachkundige Konversation“ die Mädchen beeinflussen.[91] Eine fundierte Vermittlung von Kenntnissen wurde nicht erwartet; die Heldin in Emma Raymond Pitmans Roman My Governess Life, or, Using My one Talent (1883), die Latein und Euklid beherrscht, wird mit den Worten zurechtgewiesen, dass ihr besser gedient wäre, hätte sie Französisch und Musizieren erlernt.[92]
Hatte ein Mädchen ein Alter von 14 oder 15 Jahren erreicht, wurde sie gelegentlich für ein Jahr in ein vornehmes Mädchenpensionat gesendet oder der Erziehung durch eine „Finishing Governess“ anvertraut, die ihren Zögling auf den Eintritt in das gesellschaftliche Leben vorbereitete.[93] Dabei standen weniger schulische Kenntnisse als Konversation, Musizieren und Tanzen im Mittelpunkt. In wohlhabenden Familie erhielten die Mädchen dann häufig noch zusätzlichen, stundenweisen Fremdsprachen- oder Musikunterricht. Legte die Familie besonderen Wert auf Fremdsprachenkenntnisse, wurde die Tochter des Hauses gelegentlich mit ihrer Gouvernante für einige Zeit auf den europäischen Kontinent geschickt.[94] Obwohl aufklärerische Erziehungsschriften dieser Zeit längst anderes forderten, richteten sich die Unterrichtsinhalte während des größten Teils des 19. Jahrhunderts an Gepflogenheiten der Oberschicht aus. Dabei wurde ignoriert, dass die wenigsten Frauen des Bürgertums das müßige Leben einer Angehörigen der Oberschicht führen würden, in dem Musizieren, Tanzen und die Fähigkeit zu gepflegter Konversation eine Bedeutung hatte.[95] Das änderte sich allmählich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Selbst wenn Eltern den neuen privaten Internaten und Oberschulen für Mädchen noch skeptisch gegenüberstanden, gab es die Möglichkeit, dass zu Hause erzogene Mädchen in Begleitung ihrer Gouvernante an ausgewählten Kursen teilnahmen.[96]
Im Alter von 17 oder 18 Jahren galt die Ausbildung der jungen Frauen als abgeschlossen. Angehörige der Oberschicht wurden dann am Hofe vorgestellt und durchlebten eine oder zwei Saisons als Debütantin. Bei jungen Frauen aus weniger begüterten Familien war der Eintritt ins Erwachsenenleben in einer herunterskalierten Form ähnlich. Für beide Gruppen junger Frauen folgte ein Lebensphase, die je nach Vermögenslage der Familie von viel Müßiggang, Wahrnehmung repräsentativer Pflichten und ausgedehnten Verwandtenbesuchen gekennzeichnet war, bis sie selbst heirateten.[97]
Nelly Weeton und Agnes Porter haben Arbeitstage beschrieben, die an sieben Tagen in der Woche morgens um 7 Uhr begannen und abends zwischen 20 und 21 Uhr endeten. Den Tag verbrachten sie fast ausschließlich in der Gesellschaft von Kindern. In den weniger wohlhabenden Familien wurden von Gouvernanten auch erwartet, dass sie abends beim Nähen halfen, wie es beispielsweise Charlotte Brontë widerfuhr.[98] Mary Wollstonecraft und Agnes Porter, die beide für ausgesprochen wohlhabende Familien mit großen Anwesen arbeiteten, konnten sich nach ihrer Arbeit in eigene Räume zurückziehen. Viele Gouvernanten teilten sich jedoch ihr Schlafzimmer mit dem ihrer Zöglinge. Verfügten sie über einen Raum, war dieser in bürgerlichen Haushalten in der Regel sehr klein.[99]
Das Leben einer Gouvernante in einem britischen Haushalt war in der Regel einsam. Nelly Weeton berichtet, dass sie abends in dem Raum saß, in dem sie während des Tages ihre Zöglinge unterrichtete.[99] Für Arbeitgeber war zwar die soziale Ebenbürtigkeit der Gouvernante wesentlicher Grund für ihre Beschäftigung, in den wenigsten Familien war sie jedoch ein gleichwertiges Familienmitglied, so dass sie häufig ihre Abende allein verbrachte.[100] Sie galt nicht in jeder Familie als „dinnerfähig“, das heißt, sie wusste nie, ob ihre Anwesenheit willkommen war, wenn die Familie Gäste bewirtete. Nahm sie an gesellschaftlichen Treffen teil, wurde sie häufig vollständig ignoriert. Charlotte Brontë nannte in einem Brief an eine Freundin diese ständige soziale Verunsicherung eine weitaus größere Belastung als die Erziehung ihrer Zöglinge.[101]
Möglichkeiten zu einem eigenen sozialen Leben waren wegen Zeitmangels auch dann nicht gegeben, wenn Freunde oder die Familie der Gouvernante in der Nähe lebten. Eine der wenigen Gelegenheiten, anderen Personen zu begegnen, war der wöchentliche Kirchgang.[45]
Deutsche Gouvernanten erwarteten dagegen Familienanschluss, der ihnen in den Stellenanzeigen auch häufig zugesichert wurde. Das bedeutete, dass sie auch in der Freizeit enger mit der Familie verbunden waren und an Festlichkeiten und Gesellschaften teilnahmen.[102] Aber auch hier mahnte noch 1881 ein deutscher Autor zur Rolle der Gouvernante in der Familie:
„Erscheint sie auch zeitweilig im Salon, so bleibt sie in der Mitte zwischen dem Gastrollen- und dem Almosenbewusstsein…. ist weder Fisch noch Frosch, und ist der Familie, die sie dazu verurteilt, lästig als fremdes Element“[103]
Die Beschäftigung als Gouvernante in einer Familie war zwangsläufig eine befristete Tätigkeit. Während Hofmeistern oder Hauslehrern Berufe wie Pfarrer, Arzt, Notar oder Beamter als weiterer Berufsweg offen stand, blieb Gouvernanten in der Regel nur die Hoffnung, nach Beendigung ihrer Tätigkeit in einer Familie anderswo eine andere Privatstelle im häuslichen oder schulischem Bereich zu finden.
Für bürgerliche Haushalte des 19. Jahrhunderts war die Beschäftigung mindestens eines Dienstmädchens ein wesentliches Merkmal des eigenen Standes.[104] Haushalte, die eine Gouvernante anstellten, beschäftigten in der Regel mehrere andere Hausangestellte. Dazu gehörten neben Dienstmädchen eine Köchin sowie Küchenmädchen und in wohlhabenderen Haushalten Zofen und Diener. Um Kleinkinder kümmerten sich Kindermädchen, wobei in Großbritannien zwischen der „Nanny“ und der „Nursery Maid“ unterschieden wurde. Letztere war der Nanny unterstellt und nahm ihr die schwereren körperlichen Arbeiten ab. Die unklare Stellung der Gouvernante innerhalb der Familie wirkte sich auch auf das Verhältnis mit diesen Angestellten aus.
Eine Gouvernante, die erstmals von einer Familie beschäftigt wurde, um sich um Kinder im Alter von fünf Jahren zu kümmern, stand zwangsläufig in einem Konflikt mit der Nanny, die sich meist seit der Geburt der Kinder intensiv um diese gekümmert hatte. Für sie war die Gouvernante ein Eindringling, für die Kinder die Trennung von der engsten Bezugsperson häufig eine traumatische Erfahrung.[105] Erzog die Gouvernante bereits ältere Kinder, war der Übergang häufig fließender. Dafür mussten Gouvernanten häufig erleben, dass Kleinkinder in den Raum zum Spielen geschickt wurden, in dem sie versuchten, ihre Zöglinge zu unterrichten.[106]
Die Quellenlage weist darauf hin, dass das Verhältnis zu den im Haushalt beschäftigten Dienern besonders problematisch war. Diese sahen mehr als andere Dienstboten in der Gouvernante lediglich eine weitere bezahlte Angestellte und wehrten sich dagegen, ihr mit der Ehrerbietung zu begegnen, die sie den weiblichen Angehörigen der Familie entgegenzubringen hatten.[107] Zofen standen häufig in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu ihren Arbeitgeberinnen, trugen in ihrer Freizeit deren abgelegte, elegante Kleidung und maßten sich auf Grund ihrer spezifischen Kenntnisse in Fragen von Mode und Umgangsformen einen Stand an, der nur wenig schlechter war als der einer Dame. Romane des 19. Jahrhunderts kontrastieren häufig die gewitzte, mondäne, aber auch immer etwas vulgäre Zofe mit der vornehmen und schlichten Gouvernante.[108]
„Ich weise regelmäßig darauf hin, dass eine Erziehung ohne regelmäßige und stetige Anleitung wirkungslos bleibt und niemand anderes als eine Gouvernante kann diese sicherstellen“ kommentiert Lady Catherine De Bourgh in Jane Austens Roman Pride and Prejudice die Rolle und Aufgabe einer Gouvernante.[109] Frauen wurden jedoch unterschiedlich gut auf eine solche Aufgabe vorbereitet. In Großbritannien nahmen erst 1848 das Queen’s College und das Bedford College ihre Arbeit als Ausbildungsstätten für Gouvernanten auf. Beide waren in London ansässig.[110] In Deutschland nahmen verglichen dazu Lehrerinnenseminare vergleichsweise früh ihre Arbeit auf.
In Großbritannien leitete sich das Recht einer Gouvernante auf Anleitung ihrer Zöglinge lange Zeit allein daraus ab, dass sie selbst einer gutbürgerlichen Familie entstammte und dort eine standesgemäße Erziehung genossen hatte. Erwartet wurde, dass sie eine oder mehrere moderne Fremdsprachen sprach, ein Musikinstrument spielen und zeichnen konnte sowie oberflächliche Kenntnisse in Fachgebieten wie beispielsweise Botanik oder Erdkunde besaß. Dass Gouvernanten auf diese Weise bestenfalls eine Halbbildung erwarben und auch nicht mehr als eine Halbbildung weitergeben konnte, wurde akzeptiert.[111] Ein bewusster berufsvorbereitende Erwerb von Kenntnissen wurde dagegen von Zeitgenossen kritisch gesehen, da er der Fiktion widersprach, dass die Erziehung der Töchter durch eine Frau gleichen sozialen Standes erfolgte. Einige Kommentatoren warnten sogar davor, dass entsprechende Ausbildungsstätten es Frauen der unteren Mittelschicht ermöglichen würde, ihre Arbeitgeber über ihre Herkunft zu täuschen.[112] Eine Ausnahme von dieser Regel stellten Töchter von Pfarrersfamilien dar, deren Gutbürgerlichkeit offenbar so außer Frage stand, dass sie Pensionate besuchen konnte, die ihnen gezielt die Kenntnisse beibrachten, die mit der Tätigkeit einer Gouvernante assoziiert wurde. Charlotte Brontë hat in Jane Eyre die rigorose Erziehung in einer solchen Schule beschrieben. Für die Historikerin Kathryn Hughes besteht auf Grund anderer Zeugnisse wenig Zweifel daran, dass Brontë, die mit ihren Schwestern kurzzeitig Schülerin der Cowan Bridge School war, mit ihrer Beschreibung der Unterrichtsweise in Lowood reale Bedingungen schilderte.[113]
Wer wie die Brontë-Schwestern Anne und Charlotte kaum Französisch sprach und kein Instrument beherrschte, traf nur auf ein sehr begrenztes Stellenangebot.[114] Kenntnisse in Französisch, Deutsch und Italienisch dagegen konnten zu gut bezahlen Stellen führen. Auf besondere Wertschätzung traf es, wenn diese Kenntnisse im Ausland erworben waren. Familien, die es sich erlauben konnten, sendeten ihre Töchter deshalb für ein Jahr auf ein Pensionat auf dem europäischen Kontinent, bevor diese nach einer Stelle suchten. Hughes allerdings bezweifelt, ob angesichts der zahlreichen britischen Schülerinnen solcher Pensionate die Sprache wirklich erlernt werden konnte. Nicht selten gingen junge Frauen auch als Hilfslehrerin an diese Pensionate, obwohl sie selbst für dieses Privileg zahlen mussten.[115] Die Bereitschaft, in Sprachkenntnisse zu investieren, basierte auf der Hoffnung, dass dies später zu besseren Gehältern führen würde. Anna Jameson schrieb 1821, als sie als Gouvernante in Florenz arbeitete, an ihren Vater:
„Meine einzige Extravaganz (wenn man es so nennen möchte) ist der regelmäßige Italienisch-Lehrer, und ich bin sicher, dass Du das unterstützt, denn es ist nicht nur jetzt von Vorteil für mich, sondern es wird mir später noch viel nützlicher sein…Ich habe mir sogar den Kauf eines Winterkleides untersagt, damit ich mir diesen Italienisch-Lehrer leisten kann.“[116]
Die ab 1870 beginnende Professionalisierung der in Schulen unterrichtenden Lehrerschaft begann sich allmählich auch auf die als Gouvernanten tätigen Frauen auszuwirken.[117]
In Deutschland gab es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts Forderungen nach der Einrichtung von Ausbildungsstätten von Erzieherinnen.[118] Zu den Frauen, die sich unter anderem dafür einsetzten, zählen Amalia Holst, Betty Gleim und Elisabeth Bernhardi. Diesen ging es nicht darum, neue weibliche Berufsfelder zu erschließen, sondern um eine Professionalisierung einer Erwerbsarbeit, die nahe an den Aufgaben einer Ehefrau, Hausfrau und Mutter lag und in der Frauen bereits erfolgreich tätig waren.[119] Weit verbreitet war allerdings die Sicht, dass Frauen nicht in der Lage seien, in allen Fächern Unterricht zu erteilen. Tinette Homberg, eine langjährige Schullehrerin und Schulleiterin, vertrat noch 1845 die Ansicht, dass Fächer wie Rechnen, Mathematik, Physik und deutsche Sprache „vorzugsweise einen männlichen Verstand erfordern und auch von den Lernenden ja nur mit dem Verstand begriffen werden“.[120] Auch die zu ihrer Lebenszeit bekannte Pädagogin und Dichterin Caroline Rudolphi vertrat noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ansicht, dass „alle Verstandeskultur“ vom Manne ausgehen sollte.[121]
Gute Fremdsprachenkenntnisse waren für Frauen, die eine Gouvernantenstelle anstrebten, eine wesentliche Qualifikation, die den Zugang zu besser bezahlten oder angeseheneren Stellen ermöglichte. Familien, die sich des Wertes einer solchen Ausbildung bewusst waren, unternahmen teils große Anstrengungen, um ihren Töchtern die Möglichkeit zu geben. Die Familie von Langfeld, in die später Friedrich Schiller einheiratete, verbrachte 1784 beispielsweise auf Kosten des Schwiegersohns von Beulwitz ein Jahr in der französischsprachigen Schweiz, damit Charlotte von Lengefeld französische Konversation fließend beherrschte.[122]
In Deutschland stand anders als in Großbritannien Frauen frühzeitig die Möglichkeit offen, auch an Schulen zu unterrichten. Louise Hensel beispielsweise unterrichtete, nachdem sie unter anderem als Gouvernante in der Familie des Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg tätig gewesen war, ab 1827 in Aachen als erste Lehrerin der beiden Oberklassen an der Höheren Töchterschule St. Leonhard.[123]
Trev Broughton und Ruth Symes weisen auf die Möglichkeit hin, dass die verfügbaren Quellen ein zu negatives Bild der Gouvernantentätigkeit zeichnen.[124] Die breite öffentliche Diskussion über das Gouvernantenelend sowie die literarischen Konventionen jener Zeit können auch bei den verfügbaren Quellen zu einem überzeichneten Bild der negativen Seite dieses Berufes geführt haben. Unzweifelhaft stellte der Beruf für Töchter aus der unteren Mittelschicht auch die Möglichkeit dar, Zugang zu einer sozialen Schicht zu haben, die ihnen ansonsten verschlossen blieb.[125] Auch für Jane Eyre, die Heldin aus Charlotte Brontës Roman, stellt die Möglichkeit, als Gouvernante zu arbeiten, nach acht Jahren an der Lowood-Schule die Möglichkeit einer neuen Umgebung, neuer Freunde und neuer Herausforderungen dar.[126] Anne Brontë ließ ihre Protagonistin Agnes Grey, eine Pfarrerstochter, in ihrem gleichnamigen, autobiografisch geprägten Roman erstmals in Ichform aus dem Alltag als Gouvernante berichten. Brontë vertritt in diesem Roman eine für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich emanzipierte Sichtweise. Es ist nicht nur materielle Not, die sie zwingt, das Elternhaus zu verlassen, sondern auch der Wunsch, einen individuellen Lebensplan zu entwickeln.[127] Von Brontë als selbstgerecht, leicht beleidigt und humorlos beschrieben, tritt Agnes Grey ihre erste Stelle bei der Familie Bloomfield in der festen Überzeugung an, der Aufgabe gewachsen zu sein. Die Kinder, die sie unterrichten soll, sind in ihren Augen jedoch ungeraten, ihre Eltern erkennen aus Agnes Greys Sicht den Wert ihrer Gouvernantentätigkeit nicht an. Sie wird schließlich von der Familie Bloomfield entlassen. Ihre nächste Stelle führt sie auf den Landsitz eines Adeligen, aber auch hier erlebt sie Enttäuschungen. Eine Heirat entbindet sie letztlich von ihrer Pflicht, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Die Historikerin Kathryn Hughes schätzt, dass von den 25.000 Frauen, die in Großbritannien um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Gouvernante arbeitete, etwa die Hälfte in Familien arbeitete, die dem Adel oder der Gentry – einer nicht genau abgegrenzten Klasse von gehobenen Bürgertum und niederem Adel – angehörten. Die übrigen 12000 arbeitete in typischen Mittelschicht-Haushalten.[128]
Der bürgerliche Haushalt, von dem in Großbritannien die Beschäftigung einer Gouvernante erwartet wurde, sofern Töchter zu erziehen waren, verfügte über ein Jahreseinkommen von mindestens 1000 Britischen Pfund, und zu den im Haushalt beschäftigten Personen zählten bereits eine Köchin, zwei Hausmädchen, ein Kindermädchen sowie ein Hausdiener. Zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften thematisieren um die Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch immer wieder, dass es längst nicht mehr nur die wohlhabendsten Kreise des Bürgertums waren, die sich die Beschäftigung einer Gouvernante leisteten.[129] Hughes vermutet, dass einer der Gründe dafür in den Kosten lag, die die Unterbringung von Töchtern in einem Pensionat mit sich brachte. Während der 1860er Jahre kostete ein Platz in einem der typischen Pensionate in Bath jährlich zwischen 70 und 80 Pfund. Für einen Landarzt oder den Apotheker einer mittelgroßen Stadt, der zwei oder drei Töchter hatte, war es daher deutlich kostengünstiger, eine Gouvernante zu beschäftigen, die häufig nur ein Jahresgehalt von 25 Pfund erhielt.[130] Hughes konnte aber auch nachweisen, dass Gouvernanten häufiger in Haushalten angestellt waren, in denen die Mutter fehlte.
„Jene Witwer, die sich nicht wieder verheirateten und die auf keine weibliche Verwandte zurückgreifen konnten, waren gezwungen, eine Frau dafür zu bezahlen, damit sie en Familie lebte und die Pflichten wahrnahm, die zuvor von ihren Ehefrauen wahrgenommen wurde. […] Diese Männer nutzten die Gouvernante wie allein stehende Frauen schon seit Jahrhunderten genutzt wurden – als eine Möglichkeit, eine Lücke bei der Rollenverteilung eines Haushalts zu füllen. In diesen eher bescheidenen Haushalten war die Gouvernante nicht nur Hauslehrerin, sondern auch Haushälterin, Stiefmutter und möglicherweise auch Dienstmädchen in einer Person.“[131]
Der Bischof von Bath von Wells machte auf Basis von Untersuchungsergebnissen der Schools Inquiry Commission (1867–1868) auf eine weitere Gruppe von Arbeitgebern aufmerksam, die weit davon entfernt waren, wohlhabend zu sein. In seiner Diözese sahen sich Landwirte zunehmend gezwungen, Gouvernanten anzustellen, weil es in den spärlich bevölkerten Landkreisen an Schulen fehlte. Hughes hält es angesichts des Überangebots an Arbeitsstellen suchenden Frauen für möglich, dass diese Gouvernanten nur Kost und Logis erhielten.[132]
Aus Sicht des Arbeitgebers war die Beschäftigung einer Gouvernante ein Zeichen von Respektabilität, gleichzeitig aber auch in mehrfacher Hinsicht Bedrohung. Ehemänner konnten dem Charme der im Haus lebenden jungen Frauen verfallen oder Söhne und andere männliche Verwandte des Arbeitgebers sich unpassend in sie verlieben. Solche emotionalen Verwicklungen scheinen häufiger vorgekommen zu sein.[67] Zu den Phänomenen des 19. Jahrhunderts zählt es, dass gesellschaftlich die wenigen Gelegenheiten immer stärker reglementiert wurden, während derer gutbürgerliche Frauen und Männer miteinander Umgang haben konnten. Die Gouvernante, die in einem Haushalt lebte, stellte zumindest was die männlichen Angehörigen ihrer Arbeitgeberfamilie betraf, eine Ausnahme dar.[133] Anders als ihre Geschlechts- und Standesgenossinnen schützte die Gouvernante kein Familiennetzwerk und keine Anstandsdame vor sexuellen Avancen.[134] Gustave Flaubert beispielsweise schildert in Briefen an einen Freund offen, wie stark er sich sexuell von der Gouvernante seiner Nichte angezogen fühlte, deren sich unter der Kleidung abzeichnenden Brüste er mit solch unverhohlenem Interesse prüfte, dass die junge Frau während der gemeinsamen Mahlzeiten immer wieder errötete.[135] Eine Liaison zwischen einem verheirateten Arbeitgeber und einer Gouvernante zog für alle davon Betroffenen persönlichen Schmerz und soziale Pein nach sich. Eine Beziehung zwischen einer Gouvernante und einem nicht verheirateten Familienmitglied führte jedoch zu den allergrößten familiären und sozialen Verwerfungen. Anders als bei einem Dienstmädchen hatte nach sozialer Konvention eine Gouvernante ein Anrecht auf Heirat, wenn es zu einer sexuellen Beziehung gekommen war.[136] Theoretisch gab es auf Grund ihrer sozialen Ebenbürtigkeit keinen Grund, warum eine Familie einem solchen Bündnis ablehnend gegenüberstehen sollte. Es gibt keinerlei Zahlen, aus denen hervorgeht, wie viele Frauen während ihrer Gouvernantentätigkeit einen Ehemann im Familienkreis ihres Arbeitgebers kennenlernten. Allein auf Basis der Veröffentlichungen aus dieser Zeit, die sich mit dieser Möglichkeit auseinandersetzten, lässt sich schließen, dass es in der allgemeinen Vorstellung breiten Raum einnahm und überwiegend abgelehnt wurde. William Thackeray lässt in Jahrmarkt der Eitelkeit einen seiner Protagonisten eine mögliche Ehe zwischen der Gouvernante Becky Sharp und seinem zukünftigen Schwager als nicht zu tolerierende mésalliance bezeichnen. Die scharfe Reaktion auf solche Verbindungen lässt sich auch an realen Fällen nachweisen. Die aus altem und angesehenem böhmischen Adel stammende Bertha von Suttner heiratete 1876 heimlich den jüngsten Sohn ihres gerade erst in den Adelsstand erhobenen Arbeitgebers, der daraufhin von seinen Eltern enterbt wurde.[137]
Die vielen Stunden, die eine Gouvernante gewöhnlich mit ihren ein oder zwei Zöglingen verbrachte, führten häufig zu einer emotionalen Bindung zwischen Gouvernante und Kindern, die zu Spannungen mit der Mutter führen konnte.[138] Nicht selten führte dies dazu, dass disziplinarische Maßnahmen der Gouvernante von der Mutter unterminiert wurden.[139] Anna Jameson schrieb zwar in ihren Ratschlägen für Mütter, dass diese sich nicht in die Erziehungsarbeit der Gouvernante einmischen sollte, sondern nur „ermutigen und beobachten“ sollten.[140] Die wenigsten Mütter hielten sich jedoch an solche Empfehlungen und untergruben damit die Autorität der Gouvernante.[141]
Die Gouvernante verkörperte gleichzeitig ein weibliches Lebenskonzept, das konträr zum bürgerlichen Frauenideal stand. Im Viktorianischen Zeitalter galten Heirat und Mutterschaft als der einzige für Frauen respektierte Lebensweg – ungeachtet der Tatsache, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Fabriken zunehmend männliche Arbeiter durch die billigere Arbeitskraft von Frauen und Kinder ersetzt wurde.[142] Der britische Sozialphilosoph William Rathbone Greg bezeichnete 1862 unverheiratet gebliebene Frauen als „unvollständige Existenzen“.[143] Insbesondere in der Literatur aus dieser Zeit gibt es zahlreiche Beispiele für die spöttische Verachtung, die diesen Frauen entgegengebracht wurde. Frauen galten als nicht in der Lage, sich ihr eigenes Einkommen zu verdienen. Gouvernanten waren der sichtbare Gegenbeweis, wie dürftig auch immer ihr Einkommen war.[144] Die Arbeitgeber mussten sich daher auch davor hüten, die Klassennähe zu deutlich hervortreten zu lassen, drohte doch immer auch die Gefahr, dass ihre Töchter in den Gouvernanten ein alternatives Rollenmodell zu dem ihrer Mütter sahen.[145]
Gouvernanten spielen eine Rolle unter anderem in Jane Austens Emma (1816), Marguerite, Countess of Blessingtons The Governess (1839), Henry James’ The Turn of the Screw (1897), Anthony Trollopes The Eustace Diamonds (1873), Wilkie Collins’ Ohne Namen, William Makepeace Thackerays Jahrmarkt der Eitelkeit (1848), Charles Dickens’ Little Dorrit (1855–1857), George Eliots Middlemarch, Sheridan le Fanus Roman Uncle Silas (1864), Mary Elizabeth Braddons Lady Audley’s Secret (1862), Joseph Conrads Spiel des Zufalls (1912) sowie Anne Brontës Agnes Grey (1847) und nicht zuletzt Charlotte Brontës Jane Eyre (1847). Alle diese Romane stammen aus dem angelsächsischen Kulturkreis. Klein, dünn, blass, stets schlicht dunkel gekleidet und mit strengem Mittelscheitel gilt die Hauptfigur aus dem Roman Jane Eyre nicht zuletzt auf Grund der Kino- und Fernsehversionen der melodramatischen Romanvorlage als die bekannteste englische Gouvernante der Literaturgeschichte.[146]
Die Entwicklung der Gouvernante zu einem wichtigen literarischen Typus in der britischen Literatur ist nach Kathryn Hughes untrennbar mit einer Feminisierung der Erzählkultur verbunden. Die Zahl der weiblichen Leser und der weiblichen Autorinnen nahm ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu. Dies schuf den Bedarf nach Erzählstoffen, die einer weiblichen Erfahrungswelt vertraut waren.[147] Anders als männliche Protagonisten waren weibliche Figuren jedoch überwiegend auf eine häusliche Sphäre begrenzt. Eine Ausnahme davon stellte die nach allgemeiner Vorstellung typische Laufbahn einer Gouvernante dar, die nahezu vorbestimmt für eine literarische Verarbeitung war. Ihr Sturz aus bürgerlichen Lebensumständen und ihre geringe Chance, sich aus diesen Lebensumständen wieder zu befreien und ihr Leben im Haus von Arbeitgebern, mit denen sie ursprünglich den sozialen Status geteilt hatte, bot hinreichend Stoff für dramatische Verwicklungen. Die Historikerin Ruth Brandon vertritt die Ansicht, dass die Gouvernante in der Literatur des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts einen so breiten Raum einnimmt, dass sie zum Teil unseres gemeinsamen kulturellen Erbes geworden ist.
In der deutschen und französischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts spielen dagegen Gouvernanten nur eine untergeordnete Rolle.[148] Als literaturgeschichtlich bedeutsam gilt nur Arthur Schnitzlers Roman Therese (1928), in dem eine junge, verarmte Adelige Gouvernante wird, weil ihr ohne Berufsausbildung keine andere Erwerbsmöglichkeit offensteht.[149] Vom typischen englischen Gouvernantenroman unterscheidet sich Schnitzlers Roman unter anderem durch den anderen gesellschaftlichen Kontext. Nach dem Ersten Weltkrieg stand Frauen bereits ein größeres Spektrum an Berufen offen. Therese schafft es jedoch nicht, ihre Lehrerinnenprüfung nachzuholen, die ihre berufliche Situation deutlich verbessert hätte. Sie ist hier nicht Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ihres Charakters und ihrer spezifischen familiären Situation.
Der viktorianische Gouvernantenroman ist ein spezifisches literarisches Genre, dem Werke zugerechnet werden, die nahezu ausschließlich von britischen Autoren während des 19. Jahrhunderts oder der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts verfasst wurden. Die Zahl der Gouvernantenromane nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dem Grade ab, mit dem sich andere Berufsfelder als akzeptierte Beschäftigungsfelder für Frauen öffnete.[150] Von den oben genannten literaturgeschichtlich bedeutenden Romanen des 19. Jahrhunderts, in denen Gouvernanten eine Rolle spielen, werden nur Agnes Gray und Jane Eyre dem Genre des Viktorianischen Gouvernantenromans zugerechnet. Die übrigen stellen die Gouvernante nicht in den Mittelpunkt der Handlung oder die Tatsache, dass sie eine Gouvernante ist, ist nicht essentiell für die Handlung.[151]
Hauptthemen der Erzählungen, die dem Genre des viktorianischen Gouvernantenromans zugerechnet werden, sind der Verlust des sozialen Status der Protagonistin, die Thematisierung ihrer unklaren Position im Haushalt ihres Arbeitgebers und das Beharren auf ihren eigenen Wertekanon in den Beziehungen zu den Menschen ihrer Umgebung. Großen Raum nimmt die Unterscheidung zwischen der Frau ein, deren Wirkungskreis ausschließlich ihr eigener Haushalt ist, gegenüber der Frau, die gezwungen ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die meisten schildern aber auch einen Reifeprozess ihrer zentralen handelnden Person und weisen damit Elemente des Bildungsromans auf.[152]
Die frühesten Romane, die im weitesten Sinne diesem Genre zugerechnet werden, erschienen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie hatten eindeutig ein didaktisches Ziel und stellen die Gouvernante als geschätzte Person dar. Um 1830 ändert sich dies deutlich. Fast durchgängig sind die Gouvernanten als Opfer einer plötzlichen Veränderung ihrer Lebensverhältnisse dargestellt und sie sind mit ungastlichen oder sogar feindlich eingestellten Arbeitgebern konfrontiert. Nicht selten handelt es sich bei ihren Arbeitgebern um Personen, die erst seit kurzer Zeit wohlhabend sind. Auch wenn diese Erzählungen von einem didaktischen Zweck geprägt sind, setzen sie sich stärker als zuvor mit den Arbeitsbedingungen und dem sozialen Status der Gouvernante auseinander. Beispiele für solche Roman sind Mary Martha Sherwoods Caroline Mordaunt, or, The Governess (1835), Julia Buckels Emily, the Governess (1836) und Marguerite Blessingtons The Governess; or, Politics in Private Life.[153] Romane, die ab 1840 erschienen, sind deutlich von der öffentlichen Diskussion über das sogenannte Gouvernantenelend geprägt. Die Erlöse aus dem Verkauf von Dinah Craiks Roman Bread upon the Waters: A Governess’s Life (1852) gingen sogar ausdrücklich an Wohlfahrtsorganisationen, die sich bedürftiger Gouvernanten annahmen.
Mit dem Aufkommen der Sensations- und Kriminalromane wurden Erzählelemente dieser Literaturgattungen auch im Viktorianischen Gouvernantenroman aufgegriffen. Lecaros zählt den im 19. und frühen 20. Jahrhundert viel gelesenen Sensationsroman East Lynne (1861) von Ellen Wood, in dem eine junge Frau nach Ehebruch unerkannt in der Familie ihres Exmannes als Gouvernante arbeitet, ebenfalls zum Gouvernantenroman, weil die Heldin als Gouvernante Situationen durchlebt, wie sie zum Erzählkanon dieses Genres gehören.[154]