Islamismus (arabisch إسلاموية, Islamwiya), auch Politischer Islam, ist eine politische Ideologie, die die Gestaltung der Politik und Gesellschaft anhand von Werten und Normen anstrebt, die aus der Religion des Islam abgeleitet werden. Die Vorstellung islamistischer Bewegungen sind uneinheitlich und reichen von einer politischen Gestaltung innerhalb säkularer und demokratischer Systeme bis hin zur fundamentalen Ablehnung ebendieser und dem Eintreten für einen totalitären Gottesstaat, mitunter durch Gewalt und Terrorismus (→ Islamistischer Terrorismus).
Der Begriff Islamismus ist stark politisiert; eine einheitliche Definition existiert weder in wissenschaftlichen, sicherheitsbehördlichen noch journalistischen Beschreibungen; sie variiert stark und ist ebenso geprägt von Erkenntnisinteressen, weshalb auch die Kriterien, welche Personen und Gruppierungen als islamistisch eingestuft werden, nicht einheitlich sind. Hinzu kommen Überschneidungen mit alternativen Begriffen wie Politischer Islam und Islamischer Fundamentalismus, wobei sich seit dem Jahr 2000 im deutschsprachigen Raum Islamismus als „Dachbegriff“ durchgesetzt hat.
Die Abgrenzung zum islamischen Fundamentalismus, politischen Islam und Panislamismus ist ebenso umstritten wie die Frage, wann der Islamismus erstmals aufgetreten ist.
Eine einheitliche Definition von Islamismus existiert nicht.[1] Vielmehr existieren in der Wissenschaft und den Sicherheitsbehörden verschiedene Auffassungen und Denkschulen der Bedeutung von Islamismus; noch uneinheitlicher wird die Definitionsfrage durch die Nutzung des Begriffs in der Politik und den Medien.[1] Entsprechend variieren die Definitionen stark und sind dabei geprägt von eigenen Erkenntnisinteressen (insbesondere im Fall der Sicherheitsbehörden, Politik und Medien), weshalb auch die Kriterien, welche Personen und Gruppierungen als islamistisch eingestuft werden, uneinheitlich sind. Hinzu kommen Überschneidungen mit alternativen Begriffen wie Politischer Islam und Islamischer Fundamentalismus, wobei sich seit dem Jahr 2000 im deutschsprachigen Raum Islamismus als „Dachbegriff“ durchgesetzt hat.[1]
Der Minimalkonsens dieser verschiedenen Definitionen von Islamismus lässt sich wie folgt beschreiben:
„Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“[2] – Tilman Seidensticker, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Jena. „Der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Strömungen und Personen, die nach verschiedenen Definitionen als islamistisch bezeichnet werden, ist das Bestreben, dass der Islam nicht nur den indivduellen Bezug des Menschen zu Gott im Privaten prägen soll, sondern auch die politische und gesellschaftliche Ordnung.“[3] – Sabine Damir-Geilsdorf, Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln.
Im Wesentlichen lassen sich die verschiedenen Definitionen von Islamismus in zwei Denkschulen unterscheiden.
Die erste Definition weitet den Begriff Islamismus zur Beschreibung politischer Bewegungen mit „Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden.“[2] Nach Tilman Seidensticker reicht das Spektrum islamistischer Bestrebungen über erzieherisch, missionarische Tätigkeiten, das Engagement in politischen Parteien bis hin zu revolutionären Umsturzplänen.[2] Islamistische Bewegungen haben daher verschiedenste Präferenzen und Wahl der Mittel, mit denen sie ihre Ziele erreichen wollen. Da viele islamistische Bewegungen und Parteien sich in ihren jeweiligen Ländern am politischen – teils säkular-demokratischen – Staatssystemen beteiligen, ohne die politische Ordnung infrage zu stellen oder gegen sie indirekt zu operieren,[4] lehnen die Anhänger dieser Denkschule es ab, Islamismus prinzipiell als eine extremistische Ideologie zu definieren.
„Politischer Islam (Islamismus) ist nicht gleichbedeutend mit gewalttätigem, radikalem oder extremistischem Islamismus, und er ist nicht auf oppositionelle Gruppen beschränkt. Das Spektrum reicht von Befürwortern einer islamischen Republik bis zu Sympathisanten einer islamischen Monarchie oder eines wiederbelebten Kalifats und von selbsternannten Liberalen bis zu kompromisslosen Konservativen. Einige Islamisten werden gemeinhin als gemäßigt oder pragmatisch, andere als radikal, militant oder extremistisch bezeichnet.“[5] – Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. „Der Begriff (Islamismus) kann ein sehr breites Spektrum von Phänomenen von einem gewalttätigen Extremismus bis hin zu legalen Engagement im Rahmen der Demokratie bezeichnen, die nichts als den Bezug auf den Islam gemeinsam haben.“ – Christian Meier, Islamwissenschaftler.[6]
Die zweite bedeutende Definition verengt das Spektrum dieser Bewegungen bzw. unterstellt Islamisten, prinzipiell fundamentalistisch zu sein und eine Gesellschaftsordnung anzustreben, die auf eine theokratische, teils diktatorische und totalitäre Regierungsform hinausläuft, die im Widerspruch zu Werten wie Individualismus, Pluralismus und Volkssouveränität, Menschenrechten, Gleichstellung der Geschlechter, LGBT, Religions- und Meinungsfreiheit steht. Als Belege dienen hierbei zahlreiche Beispiele von bedeutenden islamistischen Bewegungen, die derartige Ziele verfolgen bzw. aktiv umsetzen. Diese zweite Definition von Islamismus wird auch seitens des deutschen Bundesamt für Verfassungsschutz angewandt:
„Der Islamismus postuliert die Existenz einer gottgewollten und daher ‚wahren‘ und absoluten Ordnung, die über den von Menschen gemachten Ordnungen steht. Mit ihrer Auslegung des Islam stehen Islamisten insbesondere im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung“[7]
Abseits der Wissenschaft, wo zumindest beide Definitionen diskutiert und je nach Denkschule angewandt werden, ist die zweite Definition die in der Öffentlichkeit dominierende und wird mit staatsfeindlichen Aktivitäten bzw. Vorstellungen assoziiert. Hieran gibt es starke Kritik seitens der Wissenschaft, da da der Begriff somit nicht auf politischen Extremismus verengt werde, sondern sämtlichen Islamisten eine extremistische Haltung unterstelle. Zudem besteht die Gefahr der politischen Instrumentalisierung des Begriffes zur Legitimation und Durchsetzung politischer Interessen. Seidensticker warnt: „Bezeichnungen (wie Islamismus) können in einem solchen Umfeld zum Transport innenpolitischer Interessen dienen, was mit dem sachbezogenem Interesse der akademischen Disziplinen kollidiert.“[8] Auch Thomas Schmiedinger warnte, dass die gegenwärtige Definition (Nr. 2) des Islamismus vielfach der Markierung von Akteuren dient, „die pauschal und statisch als verfassungsfeindlich beschrieben werden, ohne dabei Differenzierungen innerhalb des beschriebenen Spektrums zu berücksichtigen“.[9] Während Schmidinger bei nicht-extremistischen Islamisten stattdessen für den Begriff Politischer Islam plädiert, kritisieren etwa Hazim Fouad und Behnam Said, dass dieser politisch in islamfeindlichen Diskursen gleichsam genutzt wird, um „religiös motivierte politische Aktivitäten von Muslimen unter den Generalverdacht des Extremismus und der Verfassungsfeindlichkeit zu stellen.“[10]
Thomas Bauer, Professor für Arabistik an der Universität Münster, kritisiert, den Begriff wegen seiner Unschärfe, da letztlich sowohl am demokratischen System partizipierende, als auch terroristische Gruppen mit dem gleichen Begriff bezeichnet würden;[11] ähnlich wird aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive argumentiert, auf den Begriff Islamismus wegen seiner Unschärfe zu verzichten, da gänzlich verschiedene soziale Gruppen und Individuen unter demselben -ismus eingeordnet werden: von Terroristen über demokratisch gewählte Präsidenten bis zu Personen, die einfach nur ihren Glauben praktizieren wollen.[12]
Dem Islam gehören heute weltweit über zwei Milliarden Menschen an, in der Organisation für Islamische Zusammenarbeit sind heute 56 Staaten vertreten, in denen sich entweder die Mehrheit oder ein signifikanter Teil der Bevölkerung zum Islam bekennen und sich die Stellung von Islamisten und der Umgang mit ihnen je nach Zeit, Land, politischem System und einzelner Bewegung unterscheidet. Es gibt somit keine einheitliche, lineare Entwicklung und Geschichte des Islamismus. Die nachfolgenden Darstellungen konzentrieren sich daher auf wesentliche Entwicklungen, Vordenker und Organisationen des Islamismus und bedeutende politische Ereignisse und Entwicklungen mit großer, auch internationaler Bedeutung.
In der Geschichte des Islam gab es immer wieder fundamentalistische und radikale religiöse Bewegungen, die zur Rückbesinnung auf die Werte der Vorväter aufriefen; damit sind die ersten drei Generationen von Muslimen gemeint, bis einschließlich Ahmad ibn Hanbal. Dazu gehören die Wahhabiten, die seit dem 18. Jahrhundert die Lehre Muhammad ibn ʿAbd al-Wahhābs befolgen, die bis heute die ideologische Grundlage Saudi-Arabiens darstellt. Ein weiterer wichtiger „geistiger Ahne“ ist der Damaszener Rechtsgelehrte Ibn Taimiya (1263–1328). Neu im Islamismus ist der Aufruf zur Reformierung des Islam, begonnen vor allem durch Modernisierer wie Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abduh, die Ende des 19. Jahrhunderts die Lücke zwischen mittelalterlichem Islamverständnis und vom Westen eindringender Modernität durch eine Reformierung der Religion schließen wollten.[13]
Das Ende des 19. Jahrhunderts bedeutete für einen großen Teil der arabisch-islamischen Welt einen kulturellen und religiösen Niedergang. Das Osmanische Reich löste sich langsam in seine Bestandteile auf, Ägypten stand unter britischer Herrschaft. Die Zentralregierung in Konstantinopel erwies sich als unfähig, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts aufzugreifen. Die Sultane galten als korrupt und schlechte Vorbilder für die Muslime. Das Sultanat, das seine Legitimität darauf stützte, das islamische Reich zusammenzuhalten und die Religion zu fördern, erwies sich als unfähig, diese Aufgabe zu bewältigen. Massive Schulden zwangen das Osmanische Reich, europäischen Großmächten Konzessionen und Vorteile bei Investitionen, beim Erforschen und Fördern von Rohstoffen – etwa dem Erdöl – zu gewähren. Ende des 19. Jahrhunderts war das Reich von Europa finanziell abhängig.
Durch die einschneidenden Transformationen, die die arabische Welt in wirtschaftlichen und soziokulturellen Bereichen durchliefen, sahen sich die islamischen Gesellschaften mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert. Der größer werdende Einfluss der europäischen Großmächte führte zu Zweifeln an der islamischen Vormacht; durch Migration und Urbanisierung wurden die traditionell bedeutenden Familienverbände geschwächt, Industrialisierung und Individualisierung führten zu Lockerung des Sozialgefüges und Selbstzweifel. Als Antwort auf diese Probleme entwickelten muslimische Denker wie Dschamal ad-Din al-Afghani (1837–1897), Muhammad Abduh (1849–1905) oder Raschid Rida (1865–1935) ein Islamverständnis, das vor allem eine Revitalisierung und Rückbesinnung auf koranische Werte und Traditionen propagierte. Würden sich die Muslime wieder wahrhaft auf ihre Religion besinnen, so würde die islamische Welt ihre alte Stärke zurückgewinnen. Die Errungenschaften der Moderne wurden dabei nicht per se abgelehnt, sondern sollten auf der Grundlage islamischer Werte in die Gesellschaften der muslimischen Welt integriert werden. Als Befürworter von technischem Fortschritt und gesellschaftspolitischer Reform werden die muslimischen Denker dieser Zeit auch als „islamische Modernisten“ bezeichnet.
Abduh und Rida verwarfen die vorherrschenden Vorstellungen der konservativ-traditionellen Rechtsgelehrten (Ulema), die zu jener Zeit vornehmlich als Instrumente der Regierung wahrgenommen wurden. Die islamischen Modernisten lehnten jede Veränderung der islamischen Lehre im engsten Sinne nach 855 ab, darunter die verschiedenen islamischen Rechtsschulen (Madhhab), die sie alle als Abkehr von der wahren islamischen Lehre betrachteten.
Die modernen islamistischen Bewegungen im engeren Sinne entwickelten sich in den 1920er und 30er Jahren. Die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert verwüsteten viele Teile des Nahen und Mittleren Ostens. Das Osmanische Reich wurde 1923 aufgelöst, wenig später erklärte Mustafa Kemal Atatürk das Sultanat sowie das Kalifat für abgeschafft. Während europäische Kräfte in Technik, Wissenschaft und vielem anderen den neuen Kolonien und Protektoraten weit überlegen schienen, hatte die alteingesessene Orthodoxie im Islam, vor allem in den Akademien von al-Azhar, der Moderne nichts entgegenzusetzen. Vor diesem Hintergrund gewannen die Ideen der Modernisten weiter an Bedeutung.[14][15]
Die Überreste des Osmanischen Reiches wurden von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges, Großbritannien und Frankreich, in Nationalstaaten geteilt, von denen viele unter Mandaten von Europa aus regiert wurden. Diese Zeit wird von islamischen Historikern als Zeit großer Demütigung gesehen, nicht nur des Islams als religiöser Lehre, sondern der gesamten arabischen/islamischen Zivilisation als solcher. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurden in vielen der ehemaligen Mandatsstaaten säkulare oder monarchische Staatsstrukturen installiert bzw. implantiert, die den traditionellen religiösen Überzeugungen der Bevölkerungen oftmals keine Rechnung trugen.
In diesen Zeiten des Umbruchs entwickelte sich eine neue, politisch orientierte Denkschule, die den Islam als Grundlage einer idealen Gesellschaft verfocht: Bis heute maßgeblich ist etwa die 1928 von dem ehemaligen Lehrer Hasan al-Bannā (1906–1949) im Königreich Ägypten gegründete Muslimbruderschaft (Al-Ikhwan al-Muslimun). Die Muslimbruderschaft kritisierte die als „dekadent“ verachtete Monarchie, die von Großbritannien installiert worden sei, sowie den Werteverfall als Konsequenz des kulturellen Niedergangs in Ägypten. Sie suchte die religiösen Dogmen wiederherzustellen und parallel alle Probleme der islamischen Länder mittels der islamischen Ordnung zu lösen. Der britische Einfluss im Land, der de facto noch bis 1952 anhielt, galt den Islamisten als Neokolonialismus, der bekämpft werden müsse.[14]
Der in Indien und (ab 1947) in Pakistan wirkende Abū l-Aʿlā Maudūdī (1903–1979) mit seiner 1941 gegründeten Kaderpartei Jamaat-e-Islami übte ebenfalls einen bedeutenden Einfluss auf den modernen Islamismus aus. Im Iran entstand eine von der schiitischen Imamatslehre geprägte Sonderform des islamischen Fundamentalismus.
Ein zentraler Einschnitt in der Geschichte des Nahen Ostens war der Palästinakrieg 1947–1949, der mit der Gründung des jüdischen Staates Israel und der Nakba, der Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern aus dem heutigen israelischen Staatsgebiet sowie der Kriegsniederlage der arabischen Staaten einherging. Zwar bildete sich mit der von Taqiuddin al-Nabhani 1953 gegründeten Hizb ut-Tahrir innerhalb der Palästinenser eine indigene islamistische Bewegung, die meisten wandten sich jedoch säkular-linksnationalistischen Gruppen zu (Arabischer Sozialismus).[16] Viele Menschen sahen in einem links-säkularen arabischen Pan-Nationalismus die Antwort auf die Niederlage von 1948/9, zu deren Wortführer und Führungsfigur der ägyptische Präsident Gamal Abd al-Nasser wurde. Nasser war 1954 an die Macht gekommen, nachdem er 1952 zuvor mit anderen Verbündeten aus der Bewegung der Freien Offiziere in einem Militärputsch den ägyptischen König Faruq abgesetzt hatte, wobei die Putschisten von der islamistischen Muslimbruderschaft unterstützt wurden.
Nach dem Putsch führten die Spannungen zwischen den Militärs und den Muslimbrüdern zu deren massiver Unterdrückung durch Nasser und einer Radikalisierung von einflussreichen Ideologen wie Sayyid Qutb. In seinen Schriften entwickelte Qutb – hervorzuheben sind seine Werke „Im Schatten des Korans“ (Fī ẓilāl al-qurʾān) und „Zeichen auf dem Weg“ (Maʿālim fī ṭ-ṭarīq) – die Ansicht, dass die islamische Welt in die „Dschāhilīya“, die vorislamische Zeit der Unwissenheit zurückgefallen sei, aus der sich die Muslime erst wieder befreien könnten, wenn sie mittels des Dschihad zum wahren Islam zurückfänden. In islamistischen Kreisen wurde Qutbs Werk stark rezipiert. Während die Führungsspitze der Muslimbrüder seine Ansichten zurückwies und andere seine Forderungen metaphorisch interpretierten, sah eine dritte Gruppe in Qutbs Schrift einen Aufruf mit Gewalt die Veränderungen herbeizuführen, darunter die Anhänger der späteren al-Dschamāʿa al-islāmiyya. Qutb wurde 1966 hingerichtet. 1967 erlitten Ägypten, Syrien und Jordanien eine vernichtende Niederlage im Sechstagekrieg, bei dem Israel den Sinai, Gazastreifen, das Westjordanland und die Golanhöhen besetzte. Die Niederlage im Krieg von 1967 führte zum ideologischen Niedergang des Arabischen Sozialismus und Panarabismus, während der Islamismus nun als alternative ideologische Strömung an Bedeutung gewann.
Ein Schlüsseljahr der Geschichte des Islamismus wurde durch drei zentrale Ereignisse und ihre Folgen das Jahr 1979.
Revolution und Gründung der islamistischen Islamischen Republik Iran
Im Frühjahr 1979 wurde im Iran durch die Islamische Revolution unter Fürung von Ayatollah Ruhollah Khomeini das säkular-diktatorische Schah-Regime im Iran gestürzt. Die Revolution wurde außerhalb des Iran auch für nicht-schiitische Islamisten, als inspirierendes Ereignis wahrgenommen. Nach der Revolution stimmten die Iraner in Referenden zunächst für eine Islamische Republik und schließlich für die Annahme einer Verfassung, in der Khomeinis Prinzip der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ verankert wurde.[17] Khomeinis Islamisten dominierten politisch das Land; und strebten nach einem Export der Islamischen Revolution in andere muslimische Länder. Im Jahr nach der Revolution griff der Irak unter Saddam Hussein den Iran an, der darauf folgende Iran-Irak-Krieg (auch Erster Golfkrieg) dauerte bis 1988 und ging mit hunderttausenden Tote auf beiden Seiten einher.[18] Während des Krieges nutzten die neuen iranischen Machthaber die Lage, um mit Repression und Terror gegen die verbliebene Opposition vorzugehen. Die Islamisten konsolidierten damit ihre Herrschaft.[19]
Besetzung der Moschee von Mekka und Förderung des Salafismus
Im November 1979 besetzten in Saudi-Arabien militante wahhabitische Fanatiker unter Führung von Dschuhaimān al-ʿUtaibī die Große Moschee in Mekka, nahmen Pilger als Geiseln und forderten den Sturz der saudischen Monarchie und die Schaffung islamischer Gesellschaften nach ultra-wahhabitischer Vorstellung.[20] Das saudische politische System beruhte damals auf einer Machtteilung zwischen dem Königshaus in politischen und dem wahhabitischen Klerus in gesellschaftlich-religiösen Fragen (diese Allianz endete Ende der 2010er-Jahre durch die faktische Entmachtung des Klerus unter König Salman ibn Abd al-Aziz und Kronprinz Muhammed bin Salman). Die Besetzung der Moschee wurde gewaltsam beendet;[20] das saudische Regime entschloss sich jedoch auf seine Kritiker wahhabitisch-islamistischen Kritiker stärker einzugehen. Innenpolitisch kam es zu einer strengeren Durchsetzung der religiös-wahhabitischen Vorstellungen, außenpolitisch wurden wahhabitisch-salafistische Bewegungen weltweit gefördert.[21] In der Folge erstarkten nicht nur der Salafismus, sondern auch dessen militante Strömung, der Dschihadismus.
Sowjetisch-afghanischer Krieg und Förderung militanter Islamisten
In Afghanistan hatten 1978 kommunistische Kräfte in einem Putsch (Saurrevolution) die Regierungsgewalt übernommen. Das Regime versuchte mit brutalen Mitteln, eine revolutionäre Transformation des Landes, insbesondere der Landwirtschaft, durchzuführen. Das radikale, von staatlichem Terror begleitete Modernisierungsprogramm rief Aufstände in weiten Teilen der afghanischen Bevölkerung hervor und führte schließlich zum Einmarsch der Sowjetunion im Dezember 1979, die eine Marionettenregierung einsetzte. Die sowjetische Intervention verwandelte den Bürgerkrieg in einen internationalen Konflikt und befeuerte den Widerstand, der nun als Kampf gegen eine ausländische Besatzung wahrgenommen wurde.[22] Die USA, Saudi-Arabien und weitere Staaten unterstützten im Rahmen der CIA-Operation Cyclone den Widerstand der Mudschaheddin vor allen Dingen mit Waffenlieferungen im Umfang von mehreren Milliarden US-Dollar, die über den pakistanischen Militärgeheimdienst ISI verteilt wurden.[23] In weiten Teilen der islamischen Welt wurde die Intervention der Sowjetunion als Krieg von Nichtmuslimen gegen muslimische Glaubensgeschwister aufgefasst. Mehrere tausend Ausländer vor allem aus arabischen Ländern reisten nach Afghanistan, um sich am Dschihad gegen die sowjetischen Besatzer zu beteiligen.[24] Die ausländischen Freiwilligen spielten im Kampf gegen die Sowjetunion zwar militärisch keine Rolle, waren für die Entstehung eines globalen Terrorismus jedoch bedeutsam. In Afghanistan trafen sich Osama bin Laden und Aiman al-Zawahiri und hier wurde Al-Qa'ida gegründet. Der Afghanistan-Krieg in den 1980ern wird als Wiege der heutigen transnationalen Dschihadisten-Bewegungen angesehen, in denen viele der ehemaligen Afghanistan-Kämpfer Schlüsselstellungen einnahmen.[25] Die ausländischen Freiwilligen kehrten radikalisiert in ihre Heimatländer zurück, um den „nahen Feind“, die säkularen Regime in Ägypten und Algerien zu stürzen oder schlossen sich Guerillakämpfen in Bosnien oder Tschetschenien an.[26]
Weitere bedeutende Entwicklungen
In Syrien kam es zu militanten Aktionen seitens Islamisten aus dem Umfeld der syrischen Muslimbruderschaft gegen die Diktatur von Hafiz al-Assad. 1982 schlug Assad den Aufstand gewaltsam nieder, wobei es zum Massaker von Hama kam.
Infolge des Libanonkrieges 1982 wurde mit Unterstützung der Islamischen Republik Iran unter Führung des Khomeini-Regimes im Libanon die schiitisch-islamistische Hizbullah-Partei gegründet.[27] Die Hizbullah ist seither ein zentraler Machtfaktor im Libanon. In den von Israel besetzten Palästinensergebieten entstand 1988 nach Beginn der Ersten Intifada gegen die israelische Besatzung, die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene militant-islamistische Hamas.[28]
Die 1990er-Jahre waren von einer Reihe von Konflikten bestimmt, die zu einer Radikalisierung islamistischer Bewegungen führte, von denen ein Teil zu den gewaltsamen Mitteln griff und ein anderer in den offenen Terrorismus überging.
Im August 1990 besetzte der Irak unter Führung von Saddam Hussein das kleine Nachbarland Kuwait. Im folgenden Zweiten Golfkrieg zwang eine internationale Koalition aus arabischen und westlichen Staaten unter Führung der USA den Irak letztlich zum Abzug.[29] Für viele saudische Wahhabiten und andere Islamisten war die Stationierung nicht-muslimischer Truppen in den muslimischen Ländern ein Affront und führte zu wachsender Opposition insbesondere gegen das saudische Königshaus, unter anderem seitens Osama Bin Ladens und seiner Al-Qa'ida.
Nachdem sich Ende 1991 in Algerien ein Sieg der islamistischen Islamischen Heilsfront (FIS) bei den Parlamentswahlen abzeichnete, führte das Militär einen Staatsstreich durch, in dessen Folgen der bis 2002 andauernde Algerische Bürgerkrieg ausbrach; der Konflikt forderte über hunderttausend Tote und brachte islamistische Terrorgruppen wie die GIA hervor.[30] Zudem beteiligten sich militante Islamisten auf Seiten der Bosniaken im Bosnienkrieg 1991–1995[31] und im Ersten Tschetschenienkrieg.
Nachdem die palästinensische säkulare PLO unter Yassir Arafat und die linksorientierte israelische Regierung von Jitzchak Rabin den Oslo II-Friedensprozess einleiteten, der auf eine Beilegung des Nahostkonflikts und die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates abzielte, versuchte die Hamas diesen mit gewaltsamen Mitteln, vor allem Selbstmordanschlägen, zu verhindern.[32]
In Afghanistan brachen nach dem Abzug der sowjetischen Armee Kämpfe zwischen den nun miteinander konkurrierenden Mudschaheddin-Gruppen Kämpfe aus (Afghanischer Bürgerkrieg (1989–2001)), aus denen die ultra-fundamentalistischen Taliban ab 1994 schließlich als stärkste Kraft hervorgingen[33] und in ihrem Einflussgebiet eine Mischung aus ultra-radikaler Auslegung der Scharia und dem paschtunischen Stammesrecht umsetzen, wobei ihre Vorstellungen eher von letzterem geprägt sind.[34] Die Talibanherrschaft ging besonders mit einer völligen Entrechtung der Frau einher.[35] Zudem gewährten die neuen Machthaber anderen militanten Islamisten ihren Schutz, darunter auch der Al-Qa'ida, die terroristische Trainingslager einrichtete und bereits im gleichen Jahrzehnt Anschläge gegen US-amerikanische Einrichtungen durchführte, darunter 1998 die Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam.[36]
Terroranschläge des 11. September 2001 und Afghanistankrieg
Am 11. September 2001 verübten islamistische Terroristen der Al-Qa'ida mit entführten Flugzeugen Selbstmordanschläge in den USA, bei denen rund 3.000 Menschen zu Tode kamen.[37] Nachdem die Taliban sich weigerten die Führungsriege der Al-Qaida auszuliefern, stürzten die USA gewaltsam in der Operation Enduring Freedom mit Hilfe der afghanischen Nordallianz das Regime der Taliban[38] und errichteten ein demokratisches Regime, die Islamische Republik Afghanistan.[39] Der Führungsriege der Al-Qa'ida gelang die Flucht, 2011 wurde Osama Bin Laden von US-Geheimdiensten in Pakistan entdeckt und in der Operation Neptune Spear getötet.[40] Nachdem die Taliban von der Macht vertrieben wurden, formierten sie sich neu und begannen schließlich einen Guerilla-Krieg gegen die neue afghanische Regierung, sowie ihre westlichen Verbündeten.[41] Rund 20 Jahre nach Beginn der westlichen Intervention in Afghanistan zogen die USA und ihre Nato-Partner, darunter auch Deutschland, im Jahr 2021 ihre Truppen ab und übergaben die Sicherheitskontrolle sukzessiv an die afghanische Armee zurück. Zeitgleich rückten die Taliban vor und überrannten mit ihren Truppen schließlich mehrere Provinzstädte und drangen schließlich in die Hauptstadt Kabul vor. In der Folge kollabierte das politische System der Islamischen Republik Afghanistan und die Taliban übernahmen wieder die Macht im Land.
Irakkrieg 2003 und Eruption des islamistischen Terrorismus
Im Jahr 2003 stürzte eine Koalition der Willigen unter Führung der USA unter US-Präsident George W. Bush in einem völkerrechtswidrigen Krieg im Irak das Regime von Saddam Hussain und dessen Baath-Partei. Vorwände für den Krieg, die sich später als Lügen herausstellten waren vor allem, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze und die Terrororganisation al-Qa'ida unterstütze.[42] Nach dem raschen Sturz des Regimes wurde die Baath-Partei verboten und die irakische Armee aufgelöst, aus deren Reihen sich militante Widerständler zum Kampf gegen die Besatzung richtete,[43] darunter auch sowohl sunnitische wie schiitische Islamisten, etwa die Mahdi-Armee von Muqtada al-Sadr. Der Jordanier Abū Musʿab az-Zarqāwī, Führer des irakischen Al-Qa'ida-Ablegers, führte militanten Aktionen gegen die Besatzungstruppen und gezielt Anschläge gegen Schiiten aus (darunter der Anschlag auf den Al-Askari-Schrein), wodurch sich die Spirale eines interkonfessionellen Bürgerkrieges zwischen Sunniten und Schiiten im Irak in Gang setzte.[44] Der Irakkrieg und die Besatzungszeit kostete mehr als hunderttausend Iraker das Leben[45] und ging mit einem massiven Ansehensverlust für die USA in der Welt einher.
Zugleich führten die Ereignisse nach dem 11. September 2001 und des Irakkrieges zu einem massiven Zulauf für den islamistischen Terrorismus. Neben dem Irak und Afghanistan überzog eine Welle der Gewalt durch islamistische Terroristen in den 2000er-Jahren auch andere muslimische Länder wie Pakistan, Jordanien, Marokko, Tunesien. 2004 verübten islamistische Terroristen in Spanien und 2005 in Großbritannien Anschläge mit hunderten Toten.
Nahostkonflikt
Im Jahr 2000 brach in Israel und den Palästinensergebieten infolge des Scheiterns des Friedensprozesses die Zweite Intifada aus, an der sich auch die Hamas mit Anschlägen beteiligte.[46] Die Spannungen zwischen Israel und der schiitisch-islamistischen Hizbullah mündeten im Jahr 2006 in den Libanonkrieg. 2006 wurde die Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen mit 44 % der Stimmen stärkste Kraft und gewann die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament; 2007 eskalierten die Spannungen mit der säkularen Fatah, woraufhin die Hamas gewaltsam die Macht im Gazastreifen ergriff.[47] Der Konflikt mit Israel, das 2006 eine Blockade des Gazastreifens verhängte, führte unter anderem zum Gazakrieg 2008/2009.
Weitere
In Somalia, das 1993 in einen Bürgerkrieg und Staatszerfall abglitt, übernahm 2006 die islamistische Union der islamischen Gerichte die Macht, woraufhin in ihrem Machtgebiet eine Phase des Friedens eintrat, ehe die Islamisten durch eine äthiopische Intervention von der Macht entfernt wurden. Radikalere und extremistische Teile der Bewegung fanden sich in der neu gegründeten dschihadistischen al-Shabab-Miliz zusammen, die seither die international anerkannte somalische Regierung bekämpft. Der ehemalige Führer der Union der islamischen Gerichte, Sharif Sheikh Ahmed, wurde 2009 Präsident Somalias.[48]
In Russland dauerte der Zweite Tschetschenienkrieg von 1999 bis 2009, an dem sich militante Islamisten beteiligten.[49] In dem Konflikt wurden vor allem Frauen, die sogenannten Schwarzen Witwen, als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt.[50] Größere Terrorakte waren u. a. 2002 die Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater und 2004 die Geiselnahme von Beslan.
Der Arabische Frühling 2011
Im Dezember 2010 und im Frühjahr 2011 kam es in zahlreichen arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen die autokratisch geführten Staatssysteme; die als Arabischer Frühling bekannt wurden. Anfangs waren diese von dem Wunsch nach wirtschaftlichen Reformen, Korruptionsbekämpfung, Liberalisierung und Demokratisierung bestimmt, wandelten sich in einigen Ländern jedoch infolge staatlicher Repression zu revolutionären Bewegungen. In Tunesien und Ägypten wurden die autokratischen Herrschaftssysteme weitestgehend friedlich gestürzt.[51] In anderen Ländern erfolgten geringe bis mittlere Zusagen an die Demonstranten oder erstickten mögliche Aufstände durch Repression im Keim. In Bahrain, Libyen und Syrien reagierten die autoritären Regime mit massiver Gewalt. Während in Bahrain die Proteste erfolgreich mit staatlicher Repression und einer militärischen Intervention Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate eingedämmt wurden,[52] weiteten sie sich in Libyen[53] und Syrien zu Bürgerkriegen aus. Im Jemen trat Präsident Ali Abdullah Salih schließlich zurück, doch mündete der eingesetzte Staatszerfall und der nach wie vor bestehende Huthi-Konflikt schließlich in einen Bürgerkrieg und 2015 in eine weitgehende Machtübernahme der schitisch-islamistischen Huthi-Milizen im Land.[54]
Islamisten als Wahlsieger des Arabischen Frühlings und Konterrevolution
Die Revolutionen bzw. Reformzusagen führten in mehreren Ländern zum Sieg islamistischer Parteien bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.
Ende 2011/Anfang 2012 gingen bei den ägyptischen Parlamentswahlen die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder und die salafistische Partei des Lichts als Wahlsieger hervor (47,2 %, bzw. 24,7 % der Parlamentssitze).[55] Bei der Präsidentschaftswahl in Ägypten 2012 wurde der Kandidat der Muslimbrüder, Mohammed Mursi zum ersten demokratisch gewählten Staatspräsidenten gewählt.[56] 2013 putschte das Militär unter General Abd al-Fattah al-Sisi gegen Mursi und ließ beim Rabia-Massaker ein Protestlager von Mursi-Anhängern räumen, wobei hunderte Menschen erschossen wurden.[57] Mit dem Sturz von Mursi endete die kurze Epoche der ägyptischen Demokratie nach der Revolution. Seit 2013 regiert in Ägypten unter Präsident Abd al-Fattah as-Sisi wieder das Militär.[58]
In Tunesien gewann Ende 2011 die Muslimbrüder-nahe islamistische Ennahda-Partei bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung als stärkste Kraft 41,47 % der Parlamentssitze[59] und ihr Führer Rached al-Ghannouchi zum Ministerpräsidenten gewählt. 2014 unterlag die Ennahda bei den Parlamentswahlen und gab die Macht ab.[60] In Marokko wurde im November 2011 bei den Parlamentswahlen die moderat-islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung stärkste Kraft,[61] Premierminister wurde später Abdelilah Benkirane.
Bürgerkrieg in Syrien und Kalifat der Terrororganisation Islamischer Staat
Nachdem in Syrien ab März 2011 das diktatorische Regime von Baschar al-Assad massive Gewalt mit tausenden Toten gegen friedliche Demonstranten verübte, begannen Oppositionelle und Deserteure der syrischen Armee sich ab Juli 2011 zur Freien Syrischen Armee und anderen bewaffneten Gruppen zusammenzuschließen, wobei islamistische Gruppierungen schon bald wesentlichen Einfluss innehatten. Der irakische Al-Qa'ida-Ableger Islamischer Staat Irak (ISI) entsandte Mitglieder nach Syrien und baute dort den syrischen Ableger Al-Nusra-Front auf. 2013 begann der ISI in Syrien in den vom Assad-Regime befreiten Gebieten die dortigen Rebellengruppen zu bekämpfen und schließlich im Jahr 2014 in weiten Teile Syriens und des Iraks die Herrschaft zu übernehmen. Die Terrororganisation nannte sich in Islamischer Staat um und rief ein Kalifat aus. In den folgenden Jahren wurde das IS-Kalifat in Syrien bis Ende 2019 durch die syrisch-kurdischen PKK-nahen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und verbündete syrische Oppositionsgruppen und im Irak bis Ende 2017 durch die irakische Armee, die kurdischen Peschmerga und schiitische Milizgruppen, unter zentraler Beihilfe der Internationalen Militärallianz gegen den Islamischen Staat besiegt.
Bei der jordanischen Parlamentswahl 2024 wurde die Islamische Aktionsfront, eine ideologisch zur Muslimbruderschaft gehörende Partei, stärkste Kraft (31 von 138 Sitzen), wobei sie ihr Ergebnis gegenüber der letzten Wahl verdoppelte. Dabei profitierte sie vom Unmut über den laufenden Israel-Gaza-Krieg (seit 2023).[62]
Innerhalb des Islamismus existieren verschiedene und zum Teil entgegengesetzte Strömungen, darunter der Fundamentalismus, der islamische Neofundamentalismus und die Salafiyya. Einzelne Gruppen sind außerdem beeinflusst durch orthodox-fundamentalistische Bewegungen wie den saudischen Wahhabismus und die pakistanische Ahl-i Hadīth.[63][64][65]
Die Lehren der islamistischen Strömungen in den verschiedenen Ländern der islamischen Welt unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Dies ist insbesondere dem Einfluss von landes- oder konfessionsspezifischen Traditionen geschuldet, wie ein Vergleich von islamischen Parteien in den Ländern des Mittleren Ostens und Südostasiens sichtbar macht. Trotzdem lassen sich gewisse Konstanten islamistischen Gedankengutes ausmachen. Dazu gehören:
1. Islam als Referenzquelle für alle Aspekte des Lebens: Religion, Politik, Wirtschaft, Recht, Umgang zwischen Mann und Frau, Bildung und Erziehung.
“Islam is a comprehensive system which deals with all spheres of life. It is a country and homeland or a government and a nation. It is conduct and power or mercy and justice. It is a culture and a law or knowledge and jurisprudence. It is material and wealth or gain and prosperity. It is Jihad and a call or army and a cause. And finally, it is true belief and correct worship.”
2. Der Aufruf zur Rückkehr zum „wahren“ Islam, dem des Koran und der Sunna, sowie oftmals die Weigerung, das von der sunnitischen Orthodoxie gepredigte Ende des Idschtihad anzuerkennen. Leben und Handeln der umgebenden Muslime wird als unislamisch und von falscher Religiosität geprägt gesehen.
3. Infolgedessen Ablehnung des taqlid, d. h. religiöser und kultureller Traditionen, die Islamisten als Verfälschung der wahren Lehre des Islams ansehen. Dem Salafismus folgend soll die Religion von allem ihr Fremden gereinigt und zum wahren Glauben der frommen Vorväter zurückgeführt werden.
4. Aufruf zur politischen und religiösen Einheit zwischen allen Muslimen (Panislamismus), der umma. Wichtige Aktivitätsfelder islamistischer Gruppen sind daher Aufrufe zur Solidarität mit Muslimen in aller Welt, besonders den Palästinensern und gegenwärtig den Irakern, beides Völker, die nach islamistischer Auffassung von einem ungläubigen Feind unterdrückt werden.
5. Staatlichkeit der Religion. Der Koran sowie der Prophet Mohammed kannten keinen weltlichen Staat und keine Nationalität, genauso wenig die Kalifate und Sultanate, in denen sich ein Nationalgefühl erst Ende des 19. Jahrhunderts ausbildete. Der Sinn eines Staates in seiner übergeordneten Form ist daher nicht die Beherrschung eines bestimmten Volkes, sondern die Umsetzung des göttlichen Gesetzes, der Scharia für alle Gläubigen sowie in der ganzen Welt. Nach Überzeugung des Islamismus kann die richtige Ausübung des Glaubens nur durch einen islamischen Staat, der auf den Gesetzen aus Koran und Sunna basiert, sichergestellt werden. Die genaue Staatsform ist umstritten, nur noch wenige islamistische Gruppen wollen nur ein Kalifat anerkennen, viele dagegen berufen sich auf verschiedene Staatsformen, die sich auf das Prinzip der shura (Konsultation des Herrschers mit der Bevölkerung) gründen. Essenziell bleibt, dass der wahre Souverän im islamischen Staate Gott ist.
6. Widerstand gegen jegliche fremde, nicht-islamische Einmischung, Beherrschung oder Fremdregierung durch das nicht-muslimische Ausland. Islamische Länder dürfen nur von Muslimen regiert werden. Viele islamistische Bewegungen gründen sich auf politischen Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, zum Beispiel in den Palästinensergebieten und dem Libanon.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen moderatem Islamismus und radikalem, gewaltbereitem Islamismus, mit zahlreichen Strömungen, die sich zwischen den beiden Kategorien befinden. Radikale Gruppen gehören ebenso in die Kategorie „Islamisten“ wie moderate Akteure, die es anstreben, den Islam zur Richtschnur des sozialen und politischen Verhaltens zu machen. Islamistische Parteien und Interessengruppen weisen daher unterschiedliche Ziele auf – moderate islamistische Aktivisten lehnen Gewalt, radikalreligiöse Führer sowie die Einschränkung mancher persönlicher Freiheiten oft entschieden ab. Auch ist auf die Unterscheidung zwischen islamistischen und islamischen oder muslimischen Gruppen und Parteien zu achten. „Muslimische“ Gruppen und Parteien heben sich von Islamisten dadurch ab, dass sie sich nicht für eine Politisierung der Religion einsetzen. Sie fallen nicht automatisch in die Kategorie „islamistisch“.
Der deutsche Politologe Armin Pfahl-Traughber nannte 2011 in einem Dossier für die Bundeszentrale für politische Bildung folgende Punkte als typische Merkmale des Islamismus:
Da die Ideologien des Islamismus einen starken Bezug zu einer Form von islamischem Staat, Gesetzgebung, und Exekutive haben, ist die Staatsform eines islamischen Staates in jeder islamistischen Ideologie von größter Bedeutung. Die Meinungen darüber gehen jedoch auseinander.
Argumente gegen die Demokratie als Staatsform basieren auf der Meinung, dass die Demokratie an sich den theologischen Grundsätzen des Islams entgegenstehe: nämlich der Herrschaft und Souveränität Gottes (hukm-ullah oder hakimiyyat-ullah bei Abū l-Aʿlā Maudūdī und Sayyid Qutb), was jede Form einer Souveränität des Volkes ausschließe. Diese Denkrichtung gründet vor allem auf den Werken Maududis und Sayyid Qutbs. Ayman Dhawahiri betrachtet die Demokratie als shirkun billah, der Beistellung anderer Götter neben Gott;[67][68] die dschihadistische Gruppierung Hizb ut-Tahrir bezeichnet die Demokratie als nizam-u-kufr, ein System des Unglaubens.[69] Es sei für Muslime haram, nach einer Demokratie zu rufen oder daran teilzuhaben.[67][70] Demokratische Staatsformen werden außerdem als unislamisch angesehen, weil die gewährte persönliche Freiheit zu Handlungen führten, die nach dem Islam verboten sind, zum Beispiel zu moralisch verwerflichem Verhalten wie Prostitution.[67][70]
Dagegen steht eine Denkrichtung, der sich u. a. die von Rached al-Ghannouchi geführte tunesische islamistische Ennahda-Partei, der fundamentalistische Politiker Hasan at-Turabi und Teile der ägyptischen und jordanischen Muslimbruderschaft anschließen. Diese Denkrichtung betrachtet die Demokratie als eine dem Islam naheliegende Staatsform zur Überwachung der Regierung. Ghannuchi und andere basieren diese Auslegung auf die dem Islam eigene Idee der Schūrā, einer Ratsversammlung, in der der Herrscher sich mit den Volksvertretern bzw. den Rechtsgelehrten abstimmt. Ghannouchi betrachtet die Demokratie, wenn auch nicht in ihrer säkularen Form, als geeignete Staatsverfassung, um Despotismus zu unterbinden und sicherzustellen, dass die Scharia, das islamische Gesetz, angewandt wird. Er versteht das Prinzip der Souveränität Gottes als eines, das den Herrscher dazu auffordere, nicht despotisch und eigenmächtig zu regieren, da die wahre Gerichtsgewalt bei Gott liege.[67][71]
Nach Ansicht des Islamwissenschaftlers Martin Riexinger ist der politische Islamismus nicht mit dem demokratischen Verfassungsstaat in Einklang zu bringen. Der von Islamisten erhobene universale Geltungsanspruch des göttlichen Rechts widerspreche dem Prinzip der Volkssouveränität.[72]
Laut einem Forschungsbericht des Österreichischen Integrationsfonds ist die Ablehnung der Demokratie unter zugewanderten Muslimen in Österreich umso stärker, je mehr diese Personen sich am Islam orientieren.[73]
Da dem Islam (wie auch dem Islamismus) eine direkte Zwangsmissionierung fremd ist, werden religiöse Minderheiten, sofern sie zu den Buchreligionen (wie Christen, Juden etc.) gehören, vom Staat beschützt (Dhimmi-Status). Islamistische Gruppen unterscheiden sich in ihren Vorstellungen eines solchen „Schutzes“. Viele wollen Minderheiten die volle Ausübung ihrer Religion erlauben, andere wollen die öffentliche Ausübung des Glaubens einschränken. In den meisten islamistischen Ideologien würden Andersgläubige weitgehend die gleichen Rechte wie Muslime genießen, allerdings wären sie von bestimmten politischen Ämtern und dem Tragen von Waffen ausgeschlossen und hätten anstelle der für Muslime obligatorischen Zakatsteuer eine spezielle Kopfsteuer („Dschizya“) zu bezahlen.[14] Zur Christenverfolgung in der islamischen Welt siehe dagegen den Weltverfolgungsindex.
Der Antisemitismus stellt für die Argumentation des Islamismus ein zentrales Element dar.[74] Islamisten richten sich entschieden gegen Juden und gegen Israel, die Bezeichnungen werden zumeist synonym verwendet. Israel wird als illegitime Besatzungsmacht arabischen Landes abgelehnt, das Judentum gilt als Konkretisierung einer angeblich gottlosen Moderne. Ihm wird die Verantwortung für den krisenhaften Zustand vieler islamischer Gesellschaften zugewiesen. Hier zeigt sich die aus dem westlichen Antisemitismus entlehnte Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung. Diese antisemitischen Überzeugungen konnten um sich greifen, weil es sowohl im Koran als auch in den Hadithen antijudaistische Passagen gibt.[75]
Zu den wichtigsten programmatischen Texten des islamistischen Antisemitismus gehört der 1950 veröffentlichte Aufsatz Ma’rakatuna ma’ al-yahud (Unser Kampf mit den Juden) von Sayyid Qutb.[76] Darin behauptet er eine unveränderte Kontinuität der Juden seiner Gegenwart seit der Zeit Mohammeds, die immer gegen den Islam agitiert und Anschläge verübt hätten und alles tun würden, „um die Gemeinschaft der Muslime von ihrer Religion zu entfernen und sie dem Koran zu entfremden“. Sie würden „töten, massakrieren und Propheten verleumden“, weshalb Allah schließlich Adolf Hitler gesandt habe. Qutb hoffte, dass ähnliche Herrscher wieder auftreten mögen, „um den Juden die schlimmste Art der Strafe zu verpassen; damit wird er sein eindeutiges Versprechen erfüllen.“[77]
Als Beleg für eine angebliche jüdische Weltverschwörung führten und führen spätere Islamisten die Protokolle der Weisen von Zion an, eine ursprünglich russischsprachige Fälschung bzw. Fiktion aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit Zitaten daraus begründete etwa Muhammad Sayyid Tantawi, Scheich der Azhar von 1996 bis 2010, in seiner Dissertation von 1966 seine Behauptung, „die Juden“ seien seit je Feinde der Muslime gewesen.[78] 2011 berief sich der Oberste Rechtsgelehrte des Iran, Ali Chamene’i, auf die Protokolle, als er sagte, dass „das Abartige und Primitive“, das in den führenden meinungsbildenden Medien dieser Welt zu finden sei, mit den in den Protokollen formulierten Zielen auf einer Linie liege.[79] Die Webseite Radio Islam nutzt seit 1996 die Protokolle als Waffe in ihrem Kampf gegen Juden und Zionisten.[80] Die palästinensische Hamas beruft sich in ihrer 1988 entstandenen Charta explizit auf sie, um die Behauptung zu belegen, „die Juden“ strebten die Vorherrschaft über den gesamten Nahen Osten, wenn nicht gar die Weltherrschaft an:
„Das zionistische Vorhaben ist grenzenlos, und nach Palästina streben sie nach der Expansion vom Nil bis zum Euphrat. Wenn sie das Gebiet völlig verschlungen haben, zu dem sie vorgedrungen sind, trachten sie nach einer weiteren Expansion und so fort. Ihr Vorhaben steht in den ‚Protokollen der Weisen von Zion‘, und ihr gegenwärtiges Tun ist der beste Beleg für das, was wir sagen.“[81]
Die im Libanon aktive schiitische Hisbollah („Partei Gottes“) bestreitet rundweg ein Existenzrecht Israels, das sie stets nur als „das zionistische Gebilde“ apostrophiert, und strebt dessen Vernichtung an. Ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah beschimpfte Juden als „Nachkommen von Affen und Schweinen“. Im von der Hisbollah kontrollierten Fernsehen wird die Verschwörungstheorie verbreitet, seit Jahrhunderten gebe es eine geheime jüdische Weltregierung, und auch die ursprünglich christliche Ritualmordlegende wird wiederaufgegriffen.[82] In der Hamburger Terrorzelle, aus der die Haupttäter der Anschläge vom 11. September 2001 kamen, spielte Antisemitismus eine große Rolle.[83] Der Täter des Überfalls auf einen koscheren Supermarkt in Paris am 9. Januar 2015, Amedy Coulibaly, rechtfertigte seine Verbrechen damit, „die Juden“ seien für die „Unterdrückung des Islamischen Staates“ und der Muslime „überall“ verantwortlich.[84]
Das Bild der Frau in islamistischen Ideologien ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Die grundlegende Auffassung der meisten Islamistengruppen besteht darin, die Frau zuerst in ihrer häuslichen Umgebung zu sehen; politische und religiöse Aktivität, Arbeit und Unterhaltung sind ihnen jedoch nicht verboten, sofern sich solche Aktivitäten mit der Familie vereinbaren lassen. Viele islamistische Organisationen und Parteien haben parallele Frauenkomitees und Vereine, in denen Frauen politisch aktiv werden können. Dies verdeutlicht, dass das Bild der Frau im Islamismus weder einheitlich noch eindimensional ist. Viele Islamisten sehen sich daher sogar als Reformer, die Frauen vor veralteten Traditionen schützen, die in ihrer Essenz unislamisch sind. Andere Gruppen dagegen lehnen Frauen in der Öffentlichkeit ab und predigen ein patriarchalisches Frauenbild.
Der Salafismus bezeichnet eine Strömung im modernen islamischen Denken, die eine Rückkehr zum ursprünglichen Islam der frommen Vorväter, dem Propheten Mohammed sowie den vier rechtgeleiteten Kalifen fordert. Die Strömung wird allgemein als eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts verstanden, das als Reaktion auf den wachsenden europäischen Einfluss im Osmanischen Reich und die wachsende Schwäche des Sultanats entstand. Der Salafismus lehnt mit als erster Trend im Islam die Tradition der Ulama ab, wie auch kulturelle Einflüsse, den Sufismus, und fordert eine Wiederaufnahme des Idschtihad, die individuelle Interpretation der Texte des Islam. Der Salafismus ist ein Trend, der auf Denkern beruht, die nicht notwendigerweise eine klerikale Ausbildung besitzen. Als Väter des Salafismus werden u. a. Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897), Muhammad Abduh (1849–1905) sowie Raschid Rida (1865–1935) betrachtet.[85] Der Salafismus kann als einflussreiche Strömung und Vorläufer des späteren Islamismus betrachtet werden.
Der Begriff Fundamentalismus entstand in den USA der 1920er-Jahre und bezog sich ursprünglich auf protestantische Christen. Uṣūliyya bezeichnet in der Shia die rationalistische islamische Jurisprudenz, besonders den idjtihad.
Der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy charakterisiert den islamischen Fundamentalismus vor allem als Denkweise innerhalb des Islam, die der religiösen Orthodoxie der Geistlichen (ulama) gegenübersteht. Im Gegensatz zum Islamismus versteht sich der Fundamentalismus jedoch hauptsächlich als Bewegung, die die Bevölkerung selbst und nicht zuerst den Staat verändern will. Die Islamisierung der Gesellschaft nimmt daher Priorität über politischen Aktivismus.[86] Der islamische Fundamentalismus bzw. Neofundamentalismus ist nach Roys Definition konservativ, vertritt daher wenig Frauenrechte, was im starken Kontrast zu den meisten islamistischen Gruppen steht, und sieht die Einführung der Scharia als wichtigen Angelpunkt für eine erfolgreiche Islamisierung der Gesellschaft. Die Form der Regierung dagegen wird als weniger wichtig angesehen als die Einhaltung religiösen Rechts selbst.[87]
Der angloamerikanische Historiker Bernard Lewis bezeichnet die Anwendung des Begriffs Fundamentalismus auf den Islam als unglücklich und irreführend, da er ursprünglich auf das Christentum angewendet wurde. Dort bezeichnet er zumeist protestantische Strömungen, die den göttlichen Ursprung und die Unfehlbarkeit der Bibel verfechten. Auf den Islam ließe sich dieses Konzept, so Lewis weiter, jedoch nicht anwenden, da der Glaube an den göttlichen Ursprung des Koran zu den Grundfesten der Religion gehört und daher jeder Muslim dem Wortsinne nach ein Fundamentalist sei. Ähnlich spricht Abdelwahab Meddeb davon, dass die Keime des Islamismus bereits im koranischen Text enthalten seien. Ihm zufolge wäre es sehr viel einfacher, wenn es diese islamistische Lektüre des Korans nicht gäbe.
Diesen Ansichten stehen Islamwissenschaftler wie Gilles Kepel sowie Olivier Roy entgegen, die Bernard Lewis und anderen ein eindimensionales und essenzialistisches Weltbild des Islam vorwerfen.[88]
Der islamische Fundamentalismus ist, der dominierenden öffentlichen Meinung zufolge, politisch und nicht religiös bedingt. Er ist ein Objekt der Sicherheitspolitik. Es handelt „sich beim islamischen Fundamentalismus um eine politische Bewegung, die die Religion für nichtreligiöse Belange instrumentalisiert und missbraucht“.[89]
Volker von Prittwitz, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin (Otto-Suhr-Institut), schrieb 2002 einen Aufsatz Zivile oder herrschaftliche Religion? – Fundamentalismus, Religionsfreiheit und die Verantwortung des zivilen Staates. Darin untersucht er unter anderem die Frage, ob Fundamentalismus eine „politisch verfälschte Religion“ ist.[90]
Es existieren mehrere offiziell islamische Staaten, dabei nennen sich republikanische Regime oft „Islamische Republik“.
Der Iran und Saudi-Arabien funktionieren auf einer grundsätzlich unterschiedlichen politischen Grundlage und divergieren auch in Bezug auf ihre historische Entwicklung und der jeweiligen Staatsreligion (Iran: Zwölferschia; Saudi-Arabien: sunnitischer Islam). Die Geschichte des Iran seit 1979 ist von der brutalen Einführung und Durchsetzung eines theokratischen Regimes geprägt. Dessen politisches System gilt als stark islamistisch beeinflusst, ebenso das politische System Saudi-Arabiens, dessen Auslegung des Islam als besonders mittelalterlich gilt. Zugleich fördern diese Regierungen jeweils schiitische (Iran) und sunnitische (Saudi-Arabien) Extremisten im Ausland und tragen in verschiedenen Ländern Stellvertreterkonflikte aus. Dabei wird der Iran von Russland unterstützt, etwa beim Bürgerkrieg in Syrien, wo das vom Iran gestützte Regime Assads mit Waffengewalt gegen Oppositionsgruppen vorgeht.
Islamistisch orientierte Parteien nehmen in zahlreichen arabischen Staaten an Wahlen teil und haben Parlamentssitze, so in Marokko, Jordanien und dem Jemen. Der Arabische Frühling ermöglichte ab Anfang 2011 Regierungsbildungen in vielen nordafrikanischen Ländern, die zuvor mehr oder weniger diktatorisch regiert waren, zum Beispiel in Ägypten, Algerien, Libyen und Tunesien.
Die Diskussion unter Muslimen bezüglich der Rolle von Staat und Religion ist so alt wie die Religion des Islam. Der Koran wird von traditionalistischen Muslimen als vollendete Offenbarung betrachtet, der alle Regeln für das Zusammenleben der Menschen enthält. Erläutert und erweitert werden diese Regeln in der Sunna bzw. den Hadithen, den Überlieferungen über das Leben und die Auffassungen des Propheten Mohammed. Da der Koran diese Regeln enthält, benötigt die muslimische Umma nach dieser Auffassung kein menschengemachtes Recht in all jenen Rechtsfragen, die schon im Koran und in den Hadithen geregelt sind. Für Anhänger von islamistischen, fundamentalistischen und religiös konservativen Denkschulen verbietet sich deswegen jegliches menschengemachtes Recht in diesen Bereichen – der Mensch dürfe nicht versuchen, es Gott gleich oder sogar besser als er zu tun, indem er Gottes Gesetze ignoriere und eigene Gesetze schaffe. Solche Gesetze werden als Ursache für viele „Missverhältnisse“ und „Übel“ der gegenwärtigen Gesellschaften gesehen. Eine Rückkehr zu den göttlichen Gesetzen verspricht Islamisten eine Verbesserung der Verhältnisse.
Kontrovers sind vor allem die Themenbereiche Muslime im nicht-muslimischen Ausland, Frauen sowie die tatsächliche Form eines islamischen Staates, in dem ja auch nicht-muslimische Minderheiten (Dhimmis) leben. Islamische bzw. islamistische Parteien und Interessengruppen vertreten daher sehr unterschiedliche Standpunkte, angefangen von moderaten Gesetzesänderungen in nur wenigen, essenziellen Bereichen wie dem Familienrecht, bis hin zum totalitären theokratischen Staat. Auch finden sich starke Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten: Sunniten betrachten die Herrschaft von Menschen als legitim vor Gott; der orthodoxe Schiismus kann sich dagegen keine menschliche Herrschaft auf der Erde vor Wiedererscheinen des Mahdi vorstellen. Gebrochen mit dieser Tradition hat Ajatollah Chomeini nach der Revolution von 1979, als er argumentierte, dass eine weltliche Herrschaft des obersten religiösen Juristen von Gott als legitim betrachtet wird, solange der Mahdi noch nicht wieder erschienen ist.
Problematisch ist auch die Einschätzung radikaler Islamisten bzw. deren Bedrohungspotenzial. Während einige der islamistischen Gruppierungen und ihre Anhänger nicht militant sind, gibt es andere, die radikal in ihren Auslegungen und Handlungen sind und Gewalt zur Durchsetzung befürworten. Besonders die Frage, wie Muslime in nicht-muslimischen Ländern, wie zum Beispiel in Europa, leben sollen, ist von Seiten der Imame und Rechtsgelehrten des Islam nicht eindeutig geklärt. Radikale Vereine nutzen diese Unklarheit. In den Ländern, in denen muslimische Minderheiten leben, existiert deswegen eine lebhafte Debatte darüber, wie man das Bedrohungspotenzial der Islamisten untersuchen kann. Probleme entstehen hierbei durch Sprachbarrieren und der selbstgewählten Abschottung der islamistischen Gruppierungen. Gewissheit über die tatsächlichen Absichten von radikalen Gruppen zu erhalten erweist sich oft als schwierig.
Einer der schärfsten Kritiker der Islamisten in dieser Zeit war der ägyptische Jurist Muhammad Saʿīd al-ʿAschmāwī, Mitglied des ägyptischen Staatsrats und zeitweise Vorsitzender des Staatssicherheitsgerichts. Er warf den Islamisten in seiner 1987 veröffentlichten Schrift Der politische Islam (al-Islām as-siyāsī) vor, sie strebten die Errichtung einer faschistischen Diktatur im Gewand der Religion an.[91]
Französische Wissenschaftler und Journalisten sahen sich in den 1970er Jahren vor der Herausforderung, den politisch-fundamentalistischen und extremistischen Islam korrekt zu beschreiben und einzuordnen. Dieses Bestreben wurde maßgeblich ausgelöst durch die Anwesenheit und das Wirken des schiitischen Ajatollahs Ruhollah Chomeini in Paris sowie die in Ägypten und Algerien aufkeimenden Protestbewegungen, die sich auf ein fundamentalistisch ausgelegtes Islamverständnis, d. h. auf eine wörtliche Auslegung des Korans, bezogen. Der Begriff des Fondamentalisme traf jedoch in Frankreich aufgrund seines amerikanischen Ursprungs auf Ablehnung. Die Alternative Intégrisme schied ebenfalls aus, da sie zu stark mit christlich-katholischen Bezügen konnotiert war. Folglich setzte sich zunehmend der Begriff des Islamisme durch, wenn auch gegen anfängliche Widerstände. Der Orientalist und Historiker Maxime Rodinson sprach sich vehement gegen Islamisme bzw. Islamismus aus. Islamismus wurde in Frankreich, aber auch in Deutschland, tatsächlich noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ohne Bezug zu Fundamentalismus und Extremismus synonym mit Islam verwendet. Rodinson gab zu bedenken, dass die Verwendung dieses Begriffs es den Rezipienten erschweren könne, fortan zwischen Extremisten und einfachen Gläubigen zu unterscheiden. Der Sozialwissenschaftler Gilles Kepel veröffentlichte 1983 in Frankreich das Buch Le Prophète et Pharaon. Les mouvements islamistes dans l’Égypte contemporaine (Der Prophet und der Pharao. Islamistische Bewegungen im heutigen Ägypten). Mit der Übersetzung des Buches ins Englische im Jahr 1984 begann sich der Begriff, nach anfänglicher Übertragung des französischen Islamiste als Islamicist, immer stärker durchzusetzen. In der Mitte der 1990er Jahre war der Begriff schließlich auch in der außerfranzösischen Forschung weit verbreitet.[92] In französischer Sprache wird die Ideologie zumeist als «intégrisme» bezeichnet, was den Fokus darauf richtet, dass die Anhänger wieder alle Lebensbereiche unter die Grundsätze des Islams stellen wollen. Sadiq al-Azm führt diesen Begriff darauf zurück, dass im 20. Jahrhundert die Islamgelehrten die Macht über die meisten Lebensbereiche verloren haben. Verblieben sind nur noch „Heirat, Scheidung, Geburt, Tod und Erbrecht“. Die anderen Bereiche wie Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst, Medien wurden ganz oder weitgehend säkular.[93]
Der Islamwissenschaftler Tilman Nagel (* 1942) vertrat 2005 in seinem Essay Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung die Meinung, eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus sei „ohne Erkenntniswert“.[94] „Islam und Islamismus sind solange nicht voneinander zu trennen, wie Koran und Sunna als absolut und für alle Zeiten wahr ausgegeben werden“, so Nagel. Er verwendet das Wort „Islamismus“ und setzt in seiner Argumentation den Begriff letzten Endes mit dem orthodoxen Islam gleich. Nagel argumentiert, der Islam sei von Hause aus – mit Ausnahme der Muʿtazila – fundamentalistisch.[95] Der Islam richte sich nicht wie das Christentum in einem bestehenden Staat ein, sondern gründe „einen eigenen“. Historisch führt Nagel dies auf die frühislamische Gemeinde unter Mohammed zurück, dessen Wirken Nagel zufolge „von Anfang an ein entschiedenes Streben nach Dominanz über alle anderen Menschenverbände“ innewohnte, weil es sich „als unerschütterbar wahr und endgültig richtig auffasste. Die Anwendung von Gewalt zur Selbstbehauptung und dann zur Unterwerfung anderer Gemeinschaften, die eben nicht islamische waren, ist demgemäß ein wesentliches, wenn nicht das wesentliche Merkmal der Geschichte des Wirkens Mohammeds in Medina.“[96]
Von den 5,6 Millionen Muslimen in Deutschland sind laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz Stand 2023 geschätzt zwischen 27.000 und 50.000 Islamisten; d. h. Muslime, die aus dem Islam einen politischen Herrschaftsanspruch ableiten und einen islamischen Staat fordern. Davon sind 10.500 Salafisten. Der Salafismus bildet damit die zahlenmäßig bedeutendste islamistische Strömung in Deutschland. Anhänger des Dschihadismus, d. h. Islamisten, die einen islamischen Gottesstaat mit Gewalt herbeiführen wollen, gibt es laut Verfassungsschutz 1.000 bis 2.000 in Deutschland.[97][98]
In der Schweiz leben etwa 310.000 vorwiegend sunnitische Muslime (4,26 % der Bevölkerung), 40.000 von ihnen sind Schweizer Staatsbürger. 10 bis 15 Prozent von ihnen sind praktizierende Moslems.[99] 2014 wurde die Zahl gewaltbereiter Islamisten in der Schweiz von Experten auf „einige Dutzend bis einige Hundert“ geschätzt.[100] Einer der bekanntesten Islamisten der Schweiz war der Konvertit Ahmed Huber.
Im Juni 2007 verurteilte das Bundesgericht die marokkanischstämmige Belgierin und Islamistin Malika El Aroud, die auch Witwe des Mörders von Ahmad Schah Massoud, Dahmane Abd el-Sattar ist, und ihren zweiten Ehemann Moez Garsallaoui wegen Terrorpropaganda im Internet. Die aus der schweizerischen Gemeinde Düdingen betriebene Internetseite verbreite Informationen über den Bau von Bomben und Hinrichtungsvideos.[101]
Seit der Gründung des Vereines Islamischer Zentralrat Schweiz IZRS sind u. a. die Konvertiten Nicolas Blancho und Qaasim Illi präsent. Der Verein und die Personen stehen nach verschiedenen Vorkommnissen unter Beobachtung.[102]
34,6 % der österreichischen Muslime haben laut einer wissenschaftlichen Studie 2017 „hochfundamentalistische“ Einstellungen.[103]
Ein am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) 2013 durchgeführte Six Country Immigrant Integration Comparative Survey ergab, dass 73,1 % der Muslime in Österreich die Regeln des Korans für wichtiger halten als die österreichischen Gesetze. 70,8 % gaben an, keine Homosexuelle in ihrem Freundeskreis zu dulden. 64,1 % der Muslime in Österreich waren der Meinung, man könne Juden nicht trauen.[104]
Der österreichische Verfassungsschutz sieht im „islamistischen Extremismus und Terrorismus“ die größte Bedrohung für das Land.[105]
Am 2. November 2020 wurden in Wien im Zuge eines als islamistisch eingestuften Terroranschlags 5 Personen getötet (inklusive des Täters) und über 20 teils schwer verletzt. Als Reaktion auf den Anschlag wurden in den folgenden Tagen zwei radikalislamische Moscheen geschlossen, in denen der Täter verkehrte und die zu seiner Radikalisierung beigetragen haben sollen. Dabei handelt es sich um die 2016 von der IGGÖ eingerichtete Tewhid-Moschee in Meidling und die nicht der IGGÖ unterstehende Melit-Ibrahim-Moschee in Ottakring. In letzterer sollen auch der wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilte Mohamed M. und der 2018 wegen Anschlagsplänen zu neun Jahren Haft verurteilte Lorenz K. verkehrt haben.[106]
Bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen Einwohnern leben in Großbritannien ca. 1,6 Millionen Muslime. Ballungsgebiete sind vor allem Bradford, Oldham, Burnley, Leicester, Birmingham und die Hauptstadt London. Zusammen mit einer großen Zahl anderer nicht-muslimischer Einwanderer stellen diese Ballungsgebiete oft soziale Brennpunkte dar. Unter anderem kamen alle Attentäter des 7. Juli aus Bradford und waren britische Staatsbürger.
Das gesellschaftliche Klima hat sich seit diesen Anschlägen stark verändert. Die Behörden in Großbritannien praktizieren traditionell große Toleranz in Fragen der Freiheit der Meinungsäußerung, allerdings verschärft sich der Ton, etwa wenn die Regierung Universitäten nun offiziell auffordert, muslimische Studenten „aufmerksam zu beobachten“. Schon in den 1990er Jahren wurden vereinzelt Stimmen laut, die mit Bezug auf die große Anzahl an fundamentalistischen Muslimen in Großbritannien von „Eurabien“ oder „Londonistan“ sprechen und London nicht nur als europäische, sondern auch als muslimische Kulturhauptstadt beschreiben.[107] Eine wichtige Intention junger, äußerlich ihrer britischen Heimat angepasster Anhänger dieser islamistischen Theologie ist das Gefühl, für die Erschaffung eines revolutionären Staates zu kämpfen, der am Ende der ganzen Welt die Gerechtigkeit des Islam bringen wird.[108]
Einzelne britische Moscheen sind seit längerem Treffpunkt für den Austausch unter gleichgesinnten Islamisten. So empfiehlt beispielsweise der Londoner Imam Omar Bakri Muhammad, Anführer der radikalen Sekte al Muhajiroun, als einzige Form der Auseinandersetzung mit nichtmuslimischen Gesellschaften weiterhin den Dschihad und äußerte sich mehrfach lobend über terroristische Anschläge gegen die USA, Israel und andere westliche Staaten. Nach den Anschlägen verließ er Großbritannien in Richtung Libanon, wo er im November 2010 unter Terrorverdacht festgenommen wurde. Lange Zeit durfte auch der an der Nord-Finsbury-Park-Moschee predigende Scheich Abu Hamza al-Masri etlichen später als Terroristen und Al-Qaida-Kader entlarvten Islamisten Anweisungen für ihre Missionen geben, bevor er auf Druck der Vereinigten Staaten festgenommen wurde. Im Oktober 2012 wurde al-Masri in die USA ausgewiesen. Einer Meldung der britischen Presse vom August 2007 zufolge sympathisieren etwa 20 Prozent der britischen Muslime, so Haras Rafiq, ein Berater des damaligen britischen Premiers Gordon Brown, mit militanten Islamisten und bis zu 9 Prozent sogar mit Selbstmordattentätern. Beim derzeitigen Bevölkerungsanteil von 1,6 Millionen Muslimen wären dies immerhin 144.000 den Terrorismus unterstützende Personen.[109]
Al-Qa'ida
Hamas und palästinensischer Islamismus
Hizbullah
Hizb ut-Tahrir
Muslimbruderschaft
Salafismus
Taliban
Nordafrika
Sub-Sahara-Afrika
Tschetschenien (Islamismus in...)