Eine Lie-Algebra (auch Liesche Algebra), benannt nach Sophus Lie, ist eine algebraische Struktur, die mit einer Lie-Klammer versehen ist, d. h., es existiert eine antisymmetrische Verknüpfung, die die Jacobi-Identität erfüllt. Lie-Algebren werden hauptsächlich zum Studium geometrischer Objekte wie Lie-Gruppen und differenzierbarer Mannigfaltigkeiten eingesetzt.
Eine Lie-Algebra ist ein Vektorraum
über einem Körper
zusammen mit einer inneren Verknüpfung
![{\displaystyle [\cdot ,\cdot ]\colon {\mathfrak {g}}\times {\mathfrak {g}}\rightarrow {\mathfrak {g}},\quad (x,y)\mapsto [x,y],}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/25ff48f2b03468459b123cf9ce4db13352f5e728)
welche Lie-Klammer genannt wird und den folgenden Bedingungen genügt:
- Sie ist bilinear, das heißt linear in beiden Argumenten. Es gilt somit
und
für alle
und alle
.
- Sie genügt der Jacobi-Identität. Die Jacobi-Identität lautet:
gilt für alle
.
- Es gilt
für alle
.
Die erste und dritte Eigenschaft implizieren zusammengenommen die Antisymmetrie
für alle
.
Wenn der Körper
nicht Charakteristik 2 hat, so kann man aus der Antisymmetrie alleine wieder die dritte Eigenschaft herleiten (man wähle
).
Lie-Klammern sind im Allgemeinen nicht assoziativ:
muss nicht gleich
sein. Jedoch gilt für Lie-Klammern immer das Flexibilitätsgesetz
.
Anstelle eines Körpers und eines Vektorraums lässt sich eine Lie-Algebra allgemeiner für einen kommutativen unitären Ring definieren.
- Der Vektorraum
bildet eine Lie-Algebra, wenn man die Lie-Klammer als das Kreuzprodukt definiert.
- Die allgemeine lineare Lie-Algebra
für einen
-Vektorraum
ist die Lie-Algebra der Endomorphismen von
mit dem Kommutator
![{\displaystyle [A,B]=AB-BA}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/4a3b93b316dd0b6b0ab2c71e486c901ddfe6e79a)
- als Lie-Klammer. Ist speziell
, so schreibt man
oder
statt
.
- Die Endomorphismen mit Spur
in
bilden ebenfalls eine Lie-Algebra. Sie heißt „spezielle lineare Lie-Algebra“ und wird mit
bzw.
bezeichnet. Diese Benennung leitet sich aus der Lie-Gruppe
aller
-Matrizen mit reellen Elementen und Determinante 1 ab, denn der Tangentialraum der Einheitsmatrix kann mit dem Raum aller reellen
-Matrizen mit Spur 0 identifiziert werden, und die Matrizenmultiplikation der Lie-Gruppe liefert über den Kommutator die Lie-Klammer der Lie-Algebra.
- Allgemeiner kann man jede assoziative Algebra
zu einer Lie-Algebra machen, indem man als Lie-Klammer den Kommutator
![{\displaystyle [x,y]=x\cdot y-y\cdot x}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/f84d3d98fa75743a4d41a4fc0dff1aaf1d532d2f)
- wählt. Umgekehrt kann man zeigen, dass sich jede Lie-Algebra als eingebettet in eine assoziative Algebra mit einem Kommutator auffassen lässt, die sogenannte universelle einhüllende Algebra.
- Die Derivationen auf einer (nicht notwendig assoziativen) Algebra werden mit der Kommutatorklammer zu einer Lie-Algebra.
In der Physik sind die Lie-Gruppen
beziehungsweise
wichtig, da sie Drehungen des reellen bzw. komplexen Raumes in
Dimensionen beschreiben. Beispielsweise lautet die Kommutatorrelation der der speziellen orthogonalen Gruppe
zugrundeliegenden Lie-Algebra
![{\displaystyle [L_{i},L_{j}]=-\sum _{k=1}^{3}\varepsilon _{ijk}L_{k}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/f23e89c0078a3a9c4cc09c247c1ae4636dccfb3e)
in der Basis der drei
-Matrizen
![{\displaystyle (L_{i})_{jk}=\varepsilon _{ijk}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/4698d7e8368de1e6fe9d53d09f9021a1cf046247)
wobei
das Levi-Civita-Symbol bezeichnet. Durch Anwenden des Matrixexponentials auf die Generatoren erhält man die drei Koordinatentransformationen für Drehungen um die Koordinatenachsen
.
Allgemein lässt sich jedes Element der Lie-Gruppe
und somit jede beliebige Rotation im dreidimensionalen reellen Raum durch das Exponential einer Linearkombination von Basisvektoren der Lie-Algebra
![{\displaystyle R=\exp \left(\sum _{i=1}^{3}\theta _{i}L_{i}\right)}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/a2af5a91e9e06bda5d65a01b6c904c4a30b819e2)
darstellen.
Die glatten Vektorfelder auf einer differenzierbaren Mannigfaltigkeit bilden eine unendlichdimensionale Lie-Algebra. Die Vektorfelder operieren als Lie-Ableitung auf dem Ring der glatten Funktionen.
Seien
zwei glatte Vektorfelder und
eine glatte Funktion.
Wir definieren die Lie-Klammer durch
.
Der Vektorraum der linksinvarianten Vektorfelder auf einer Lie-Gruppe ist unter dieser Kommutatoroperation abgeschlossen und bildet eine endlichdimensionale Lie-Algebra.
Die glatten Funktionen auf einer symplektischen Mannigfaltigkeit bilden mit der Poisson-Klammer eine Lie-Algebra. Vergleiche Poisson-Mannigfaltigkeit.
Aus gegebenen Lie-Algebren kann man neue konstruieren, siehe dazu
Seien
und
zwei Lie-Algebren. Eine lineare Abbildung
heißt Lie-Algebra-Homomorphismus, wenn
für alle
gilt.
In der Kategorie der Lie-Algebren sind die Lie-Algebren die Objekte und die Lie-Algebra-Homomorphismen die Pfeile.
Eine Unteralgebra einer Lie-Algebra
ist ein Untervektorraum
, der abgeschlossen unter der Lie-Klammer ist. Das heißt, für alle
gilt
. Eine Unteralgebra einer Lie-Algebra ist selbst eine Lie-Algebra.
Eine Unteralgebra
heißt Ideal, wenn
für alle
und
gilt.
Die Ideale sind genau die Kerne der Lie-Algebra-Homomorphismen.
Auf dem Quotientenraum
wird durch
eine Lie-Algebra definiert, die Quotienten-Algebra. Dabei sind
.
Der Satz von Ado (nach dem russischen Mathematiker Igor Dmitrijewitsch Ado) besagt, dass jede endlichdimensionale Lie-Algebra über einem Körper
mit Charakteristik
isomorph zu einer Unteralgebra der
für ein genügend großes
ist. Das heißt, man kann jede endlichdimensionale komplexe Lie-Algebra als eine Lie-Algebra von Matrizen darstellen.
Allgemeiner lässt sich zeigen, dass diese Aussage auch für Körper mit beliebiger Charakteristik gültig bleibt. Dieser Satz wurde 1948 von Kenkichi Iwasawa bewiesen und wird daher auch oft als Satz von Ado-Iwasawa bezeichnet.[1][2]
Eine Lie-Algebra ist abelsch, wenn die Lie-Klammer identisch null ist.
Jeder Vektorraum bildet eine abelsche Lie-Algebra, wenn man jede Lie-Klammer als Null definiert.
Sei
eine Lie-Algebra. Eine absteigende Zentralreihe wird durch
![{\displaystyle {\mathcal {C}}^{0}{\mathfrak {g}}={\mathfrak {g}},\;\;\;{\mathcal {C}}^{1}{\mathfrak {g}}=[{\mathfrak {g}},{\mathfrak {g}}],\;\;\;{\mathcal {C}}^{2}{\mathfrak {g}}=[{\mathfrak {g}},{\mathcal {C}}^{1}{\mathfrak {g}}],}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/beff3b24c2d0c8081e79a5f8b33a81fbcd5190ed)
allgemein
![{\displaystyle {\mathcal {C}}^{n+1}{\mathfrak {g}}=[{\mathfrak {g}},{\mathcal {C}}^{n}{\mathfrak {g}}]}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/6061cf3c202282103cdf4828fc3ba69ec824e3f6)
definiert. Gelegentlich wird sie auch
geschrieben.
Eine Lie-Algebra heißt nilpotent, wenn ihre absteigende Zentralreihe null wird, das heißt,
für einen Index
gilt.
Sei
eine endlichdimensionale komplexe Lie-Algebra, dann sind die beiden folgenden Aussagen äquivalent:
- Die Lie-Algebra
ist nilpotent.
- Für jedes
ist
eine nilpotente lineare Abbildung.
Dieser Satz ist nach dem Mathematiker Friedrich Engel benannt.
Sei
eine Lie-Algebra. Wir definieren die abgeleitete (oder derivierte) Reihe durch:
, allgemein
.
Die abgeleitete Reihe wird gelegentlich auch
o. ä. geschrieben.
Eine Lie-Algebra heißt auflösbar, wenn ihre abgeleitete Reihe schließlich null wird, d. h.
für große
. Das Cartan-Kriterium ist für den Fall der Charakteristik 0 des Grundkörpers eine äquivalente Bedingung. Aus dem Satz von Lie ergeben sich Eigenschaften endlichdimensionaler, auflösbarer, komplexer Lie-Algebren.
Eine maximale auflösbare Unteralgebra heißt Borel-Unteralgebra.
Das größte auflösbare Ideal in einer endlichdimensionalen Lie-Algebra ist die Summe aller auflösbaren Ideale und wird das Radikal der Lie-Algebra genannt.
Eine Lie-Algebra heißt einfach, wenn sie kein nicht-triviales Ideal hat
und nicht abelsch ist.
Bei den Lie-Algebren wird Einfachheit abweichend verwendet. Dies kann zu Verwirrungen führen. Wenn man eine Lie-Algebra als algebraische Struktur auffasst, so ist die Forderung, dass sie nicht abelsch sein darf, unnatürlich.
Eine Lie-Algebra
heißt halbeinfach, wenn sie die direkte Summe von einfachen Lie-Algebren ist.
Für eine endlichdimensionale Lie-Algebra
sind die folgenden Aussagen äquivalent:
ist halbeinfach.
- Das Radikal von
verschwindet, d. h., es gibt keine nichttrivialen auflösbaren Ideale.
- Cartan-Kriterium: Die Killing-Form:
ist nicht entartet (
bezeichnet die Spur von Endomorphismen).
Sei
eine halbeinfache, endlichdimensionale, komplexe Lie-Algebra, dann ist jede endlichdimensionale Darstellung von
vollständig reduzibel, also als direkte Summe irreduzibler Darstellungen zerlegbar. Der Satz ist nach Hermann Weyl benannt.
Halbeinfache Lie-Algebren haben eine Zerlegung
![{\displaystyle {\mathfrak {g}}={\mathfrak {h}}\oplus \bigoplus _{\alpha }{\mathfrak {g}}_{\alpha }}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/a82203753633939445631a369c015a8d03667671)
in eine Cartan-Unteralgebra
und Wurzelräume
, siehe Wurzelsystem#Lie-Algebren.
Halbeinfache komplexe Lie-Algebren können anhand ihrer Wurzelsysteme klassifiziert werden; diese Klassifikation wurde 1900 von Élie Cartan abgeschlossen.
Eine Lie-Algebra
heißt reduktiv, wenn
![{\displaystyle {\mathfrak {g}}={\mathfrak {z}}({\mathfrak {g}})\oplus \left[{\mathfrak {g}},{\mathfrak {g}}\right]}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/eb8f26a86d105055c30f927ec0ad0710d2ae66e4)
mit dem Zentrum der Lie-Algebra
![{\displaystyle {\mathfrak {z}}({\mathfrak {g}})=\left\{X\in {\mathfrak {g}}:\left[X,Y\right]=0\ \forall \ Y\in {\mathfrak {g}}\right\}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/e19a07840131ccf74753c7a693f58da84d6e6d5d)
gilt. In diesem Fall ist
eine halbeinfache Lie-Algebra.
Eine Lie-Algebra ist genau dann reduktiv, wenn jede endlich-dimensionale Darstellung vollständig reduzibel ist. Insbesondere sind halbeinfache Lie-Algebren nach dem Satz von Weyl reduktiv.
Eine Auswahl reeller Lie-Algebren:
- eindimensionale:
mit ![{\displaystyle [\cdot ,\cdot ]\equiv 0}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/c2d9e71d2cb98509df2d3f3fac63b52073cc1d66)
- Es gibt genau zwei Isomorphieklassen von zweidimensionalen reellen Lie-Algebren, und zwar
mit
, sowie mit
.
- dreidimensionale:
![{\displaystyle \mathbb {R} ^{3}}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/f936ddf584f8f3dd2a0ed08917001b7a404c10b5)
- Heisenberg-Algebra
![{\displaystyle {\mathfrak {su}}(2)\cong {\mathfrak {so}}(3,\mathbb {R} )}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/9f256721a5a24e952652afcb44a1432363294172)
![{\displaystyle {\mathfrak {sl}}(2,\mathbb {R} )}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/e6194fdd6c417135b0b5e424b4560b8ec55628b1)
- sechsdimensionale:
![{\displaystyle \cong {\mathfrak {so}}(3,1)}](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/334378ef1dcfca2d739c9fc096395178bfd6e17b)
- ↑ Kenkichi Iwasawa: On the representation of Lie algebras. In: Japanese Journal of Mathematics. Band 19, 1948, S. 405–426.
- ↑ Nathan Jacobson: Lie Algebras (= Dover books on advanced mathematics). Courier Corporation, 2013.